Verschwenderisch geliebt
Tony kam eines Tages in unser Büro, wo Tim, mein Mann, Kriegsveteranen seelsorgerlich betreute. Er war kahlköpfig, hager und ungefähr Ende vierzig. Ein Strahlen lag auf seinem Gesicht. Er besaß diesen verschmitzten Charme, dem seine Mutter, als er klein war, bestimmt nicht hatte widerstehen können, selbst wenn er etwas ausgefressen hatte. Und sein Lachen, eher ein kindliches Glucksen, war geradezu ansteckend. Ich sah ihn an jenem Tag nur flüchtig, trotzdem hinterließ dieser Mann einen bleibenden Eindruck bei mir.
Ein paar Tage später fragte Tim mich: „Erinnerst du dich an Tony?“
„Aber ja!“, antwortete ich, während ich die Post sortierte.
„Falls es dich interessiert, erzähle ich dir noch ein bisschen von ihm. Er ist HIV-positiv, musste sich vor Hurrikan Katrina in Sicherheit bringen, ist schließlich hier in Denver gelandet, und soweit ich weiß, hat er keinen Menschen auf dieser Welt. Er war wohl lange obdachlos. Inzwischen kann er sich mit etwas staatlicher Unterstützung eine kleine Wohnung leisten. Allerdings steht seine Wohnung so gut wie leer, und er schläft auf dem Fußboden. Er hat noch nicht mal ein Bett.“
Er hat kein Bett? Und krank ist er obendrein? So schoss es mir durch den Kopf. Kein Bett! Ich sah Tony vor mir – zusammengerollt am Boden liegend. Gewiss, von solchen Notlagen hört man immer mal, aber diesmal war mir, als würde mich jemand schütteln und mir ins Gewissen sagen: „Er hat noch nicht mal ein Bett! Und du – was besitzt du alles?“
In unserer Familie hatten wir uns immer bemüht, Bedürftigen zu helfen. Wir packten Weihnachtsgeschenke für arme Kinder ein, kochten für Nachbarn, deren Angehörige im Krankenhaus besucht werden mussten, und gaben Geld für Afrika. Aber mit diesen Hilfsaktionen machten wir uns die Hände nicht schmutzig. Hinterher hatte sich bei mir nichts geändert. Unser Leben war niemals wirklich mit der Not anderer in Berührung gekommen.
Ich spürte ein Krampfen in der Magengegend und eine Leere im Kopf. Ja, ich musste ein Bett für Tony besorgen! Ich hatte keine Ahnung, warum ich mich ausgerechnet diesmal so engagieren musste. Aber Gott wusste es. Und es musste ein neues Bett sein! Ich wollte diesen Menschen lieben – verschwenderisch lieben. Während ich noch über dieses innere Drängen nachdachte, fragte ich mich, worauf ich mich da überhaupt einließ. Noch nie zuvor hatte ich mich derart für einen Fremden eingesetzt.
Wir brachten Tony das neue Bett mit Kissen und Decke, das ich mit meinen Töchtern ausgesucht hatte. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind. Dann saß er auf der Bettkante, strich die Decke glatt und lächelte verlegen – bis ihn seine Gefühle übermannten. Er schluchzte, unterbrochen von einem röchelnden Husten, bis sein ausgezehrter Körper völlig erschöpft war.
„Danke. Vielen, vielen Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich ... ich ...“ Er stammelte mit tränenerstickter Stimme. Dieses Bett schien wie ein Lichtstrahl zu sein, der an einem dunklen Ort aufstrahlte.
„Tony, Schätzchen, was ist bei dir los?“, rief die Nachbarin, die aus der Wohnung von nebenan gekommen war, nun in der Tür stand und neugierig in die Runde blickte. „Wollte mal nach dem Rechten sehen. Bin nicht wild drauf, neue Leute kennenzulernen, aber interessiert mich ja doch, was hier los ist.“
Sie sah das Bett und schüttelte den Kopf. „Tony, Tony, hab ich’s dir nicht gleich gesagt: Der liebe Gott wird sich um dich kümmern. Und jetzt hat er dich erhört!“
Auch unsere Freunde und Angehörigen ließen sich nicht zweimal bitten. Sie brachten neue Töpfe und Pfannen, Schüsseln, Handtücher, eine Mikrowelle und Geldspenden. Meine Schwester sorgte für die restliche Möblierung – aber nicht etwa mit ausrangierten Stücken! Sie kaufte Neues, und so passte alles zusammen.
Ich ermahnte Laurie: „So langsam mache ich mir Sorgen. Was du ausgibst! Wir kennen ihn doch kaum. Nachher verkauft er alles, oder er lässt sich beklauen.“
„Ich will es so, und was passiert, das passiert eben“, sagte sie mit einem Lächeln. Liebe im Überschwang.
Nach einer Reihe von Tagen rief ich Tony an, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Wie es seine Art war, sah er alles ganz positiv. „Oh, mir geht’s sehr gut heute. Wusstest du übrigens, dass ich morgen Geburtstag habe?“
„Ach ja? Na, dann weiß ich was, Tony. Wir feiern ein bisschen zusammen.“
Wir trommelten Familie und Freunde zusammen, packten Geschenke in buntes Papier und backten einen Kuchen. Und dann saß er zwischen meinen Eltern auf seiner neuen Couch, ließ sich den Kuchen schmecken und konnte plötzlich die Tränen nicht mehr zurückhalten. „So eine schöne Geburtstagsfeier habe ich noch nie gekriegt – bei vierzehn Geschwistern.“
Das hatte ich nicht gewusst, und ich fragte mich, wo seine Angehörigen wohl steckten. Was würden wir nach und nach noch alles über Tony erfahren?
Auf der Heimfahrt blickte die Freundin meiner Tochter gedankenverloren aus dem Fenster und sagte: „Das war richtig toll. So was habe ich noch nie erlebt.“
Als ich Tony bald darauf wieder besuchte, bemerkte ich, dass das Geschenkpapier fein säuberlich gefaltet auf den gestapelten Schachteln und Kartons lag.
Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich immer mehr. Die Brust schmerzte und das Atmen fiel schwer. „Ich hatte über’s Wochenende schlimme Beschwerden. Dreimal bin ich ins Krankenhaus. Das tat so weh in der Brust.“
Ich fühlte mich elend. „Wie bist du denn hingekommen, Tony?“, wollte ich wissen.
„Ich habe den Bus genommen, aber bis zur Haltestelle ist es fast ein Kilometer. Angeblich haben sie nichts gefunden, und da schickten sie mich wieder weg. Weil’s mir aber nicht besser ging, bin ich noch zweimal hingefahren.“
Niemand hatte sich also dafür interessiert, wie er nach Hause käme! Ich war außer mir. In der Welt, in der ich zu Hause war, gab es genügend Menschen, die mich selbstverständlich gefahren hätten – mit dem eigenen Auto. In seiner Welt aber gab es nur ihn allein, und allen anderen war er egal.
Also nahmen Tim und ich uns seiner an. Dennoch war nicht zu übersehen, dass man ihn behandelte, als verschwende man kostbare medizinische Ressourcen an ihn. Behandelten die Ärzte ihn so respektlos, weil sie wussten, dass er für niemand wichtig war?
Schließlich behielt man ihn in der Klinik. Und immer, wenn ich hörte, wie herzlos man mit ihm umgesprungen war, beschwerte ich mich. Schließlich fragte die Krankenschwester mürrisch: „Wer sind Sie denn eigentlich?“
Ich gab mich entrüstet: „Seine große Schwester natürlich. Sehen Sie die Ähnlichkeit nicht?“
War ich nicht wirklich seine Schwester vor Gott? Hatte ich nicht viele Ähnlichkeiten mit ihm, obwohl seine Hautfarbe viel dunkler war?
Es ging Tony immer schlechter. Eines Tages wartete ich mit ihm zusammen auf den Krebsspezialisten. Tony bebte vor Angst und fragte schließlich: „Warum machst du das alles? Du kennst mich doch kaum und weißt nicht, was ich alles angestellt habe.“
Ich lächelte ihn an. „Und du kennst mich auch kaum und weißt nicht, was ich alles angestellt habe.“
„Da magst du recht haben.“
„Ich denke, ich habe irgendwann einen Tipp von Gott bekommen. Er hatte mitgekriegt, dass du jemanden brauchst, der dir beisteht und dich einfach lieb hat.“
Tony hatte, wie wir erfuhren, Lungenkrebs, und wir wussten nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Da wurde es meiner Schwester zum Herzensanliegen, ihn wieder mit seiner Familie zusammenzubringen. Wir ermunterten ihn, wenigstens mit seiner Mutter Kontakt aufzunehmen. Sie lebte in Mississippi.
„Ach nein, ich will nicht, dass sie sich unnötig sorgt. Sie ist fast achtzig“, sagte er, aber Sehnsucht schwang vernehmbar in seiner Stimme mit. Das war das erste Mal, dass er von seiner Mutter sprach!
Auch meine Eltern begannen, ihn regelmäßig zu besuchen – zu Hause und im Krankenhaus. Er nannte sie Mama und Papa, und er weinte oft, wenn er mit ihnen telefonierte. Wie sehr mochte er seine eigene Mutter vermissen!
Eines Abends rief er vom Krankenhaus an. „Der Doktor ist bei mir und ...“ Seine Stimme wurde heiser, und es schnürte mir die Kehle zu, als er fortfuhr: „Sieht nicht gut aus, große Schwester.“
Er wollte wohl lachen, doch ich hörte nur sein Schluchzen. Der Arzt übernahm den Hörer und erklärte mir in sachlichem Ton, dass sein Patient Lungenkrebs im Endstadium habe und noch maximal vier Monate leben würde.
Ich schäumte vor Wut. Ich hatte die Mitarbeiter in der Klinik gebeten, mich rechtzeitig anzurufen, damit ich bei Tony wäre, wenn er die Diagnose erführe. Eine solche Nachricht zu bekommen und damit allein zu bleiben, ist menschenunwürdig.
Wir eilten ins Krankenhaus. Aber zu meiner großen Überraschung lächelte Tony schon wieder. Er nahm meine Hand und tröstete mich. Verkehrte Welt! Ich war es, die weinte und weinte.
„Ich weiß, dass du dem Doktor böse bist“, sagte er. „Aber ich wollte unbedingt die Wahrheit hören, und niemand wollte sie mir sagen. Deshalb habe ich ihn gedrängt.“
In dem Augenblick wurde mir so recht bewusst, wie sehr ich Tony bereits ins Herz geschlossen hatte. Später erzählte er mir, dass er, nachdem er die Prognose gehört hatte, am liebsten...