»Die schöne junge Frau und der Wanderer«
Es war einmal eine schöne junge Frau, die hatte keinen Mann, keinen Vater und keine Mutter, auch keine Brüder und Bekannten, die waren alle schon gestorben. Sie lebte allein in einem kleinen Haus am Ende der Stadt, und niemand kam zu ihr, sie ging auch zu niemandem hin.
Da kam an einem Abend ein schöner Wanderer zu ihr, machte die Türe auf und rief: »Ich bin ein Wanderer und war weit in der Welt; ich will hier rasten, ich kann nicht mehr weitergehen!«
Die junge Frau sagte: »Bleib nur hier! Ich gebe dir ein Polster, darauf kannst du schlafen; und wenn du willst, so gebe ich dir auch Speise und Trank!«
Der schöne Wanderer legte sich gar bald nieder und sagte: »Jetzt schlafe ich wieder einmal, lange Zeit schon habe ich nicht geschlafen!«
Die junge Frau fragte: »Seit wann hast du denn nicht geschlafen?«
Der Mann erwiderte: »Liebe Frau, in tausend Jahren schlafe ich nur eine Woche.«
Da lachte die Frau und sprach: »Du scherzest, nicht wahr? Du bist ein schlimmer Mann!«
Der Wanderer aber schlief schon, und in der Frühe, als er aufstand, sagte er: »Du bist eine schöne junge Frau! Wenn du willst, so bleibe ich hier noch eine Woche.« Die Frau willigte gern ein, denn sie liebte schon den schönen Wanderer.
Einmal schliefen sie, und da weckte die Frau den schönen Mann auf und sagte: »Lieber Mann, ich hatte einen bösen Traum. Mir träumte soeben, du wärest kalt und weiß geworden, und wir fahren auf einem schönen Wagen, den sechs weiße Vögel zogen. Du bliesest in ein großes Horn, da kamen tote Menschen heran und gingen mit dir, denn du warst ihr König.«
Darauf erwiderte der schöne Mann: »Das ist ein böser Traum!« Er stand gleich auf und sagte: »Geliebte, ich muss gehen, denn in der Welt ist jetzt lange niemand gestorben; ich muss gehen! Lass mich los!«
Da weinte die Frau und sprach: »Nicht weggehen! Bleib bei mir!«
Der Mann aber erwiderte: »Ich muss gehen; behüt dich Gott!«
Die Frau jedoch schluchzte, als er ihr die Hand reichte, und sprach: »Sag mir, lieber Mann, wer bist du denn?«
Da sagte der Wanderer: »Wer es erfährt, der stirbt! Du fragst mich vergebens danach! Ich sage es dir nicht, wer ich bin.«
Da weinte die junge Frau und sprach: »Ich will alles erdulden, sag mir nur, wer du bist!«
Darauf sagte der Mann: »Gut, dann kommst du mit mir: Ich bin der Tod!« Die junge Frau erschrak und starb.
(Transsilvanisches Märchen)[7]
Fallgeschichten zum Märchen
Wenn alle Familienmitglieder verfrüht gestorben sind, besitzt für den Zurückgebliebenen der Himmel in der Regel wesentlich mehr Anziehung als die Erde. Im Himmel aber sind die Toten. In diesem Märchen ist dem Tod von seiner Ausstrahlung und Wirkung her nicht zu widerstehen: Er ist zum Verlieben schön! Für das Bewusstsein hat der Tod etwas Erschreckendes, doch für die Seele stimmt dies keineswegs. Die Sehnsucht, den verstorbenen Verwandten zu folgen, ist so stark, wie leidenschaftliche Liebe nur sein kann; das zumindest ist das Bild, dessen sich das Märchen bedient. Gegen die Liebe zum Tod sind alle anderen Einflüsse machtlos.
Was hier geschildert wird, betrifft nicht das bewusste Wollen der Frau, sondern es betrifft die unbewusste Ebene: Die Frau will noch nicht sterben, aber in der Seele ist ihr sehnsuchtsvoller Drang nach Gemeinsamkeit mit den Toten übermächtig.
Deutlich wird auch, dass der Tod sich ankündigt. Im Märchen wird dies durch den Traum ausgedrückt, der ja die Sprache des Unbewussten ist. Der Tod will nicht uns, sondern der überlebende Verwandte will ihn – ohne es zu wissen: »… ich muss gehen! Lass mich los!«, bittet der Tod. Doch die Frau will den Tod nicht gehen lassen. Ihre Sehnsucht nach ihren Lieben ist zu groß. Ähnlich ist es bei den nun folgenden Geschichten von Klienten.
»Ich mag nicht mehr leben«: Veronika
Eine lebensmüde junge Klientin, Veronika, hatte ein ähnliches Schicksal wie die Frau im Märchen: Sie wuchs die ersten Jahre ihres Lebens im Kinderheim auf, da ihre Mutter an Tuberkulose litt. Der Vater war verschollen. Ab dem vierten Lebensjahr wohnte Veronika wieder bei der chronisch schwerkranken Mutter und dem Stiefvater, der durch Selbstmord aus dem Leben schied. Während der Pubertät starb die Mutter dann an Tuberkulose, so wie schon deren eigene Mutter (die Großmutter) infolge einer tödlichen Infektionskrankheit die Mutter als Sechsjährige allein zurückgelassen hatte.
Wie fühlt sich ein Kind, dessen Mutter sich in einem ununterbrochenen Sterbeprozess befindet? Es fühlt sich schuldig, wenn es gesund ist. Es traut sich nicht, fröhlich und glücklich zu sein. In diesem Fall sagt es zu seiner Mutter, die ihrer eigenen früh verstorbenen Mutter folgen wollte: »Lieber gehe ich als du, liebe Mama.« Im Märchen verliebt sich die Frau in den Tod, was im Kern dasselbe ausdrückt.
In der Familienaufstellung kommt neues Leben in Veronika, als sie den Schmerz über den frühen Tod und die Abwesenheit der Eltern zum Ausdruck bringt. Auch die Großmutter hat einen intensiven Bezug zur Enkelin. Veronika nimmt ihre Großmutter in den Arm und sagt sowohl ihr als auch der Mutter und dem schmerzlich vermissten Vater: »Im Andenken an euch geht es jetzt gut weiter.« Fatalerweise glauben Kinder, sie seien den Toten schuldig, dass sie ebenfalls sterben und leiden.
Auf den folgenden Seiten wird noch des Öfteren davon die Rede sein, dass ein Mensch »geht« oder einem toten Familienmitglied »folgt«. Das bedeutet konkret, dass er eine lebensbedrohliche Krankheit, ein psychisches Leiden hat, durch einen Unfall stirbt oder Ähnliches. Allerdings kann jemand, der zum Beispiel einer frühverstorbenen Schwester folgt, auch körperlich gesund bleiben und sogar neunzig Jahre alt werden. Schaut man jedoch genau hin, erkennt man, dass der Betreffende die meiste Zeit so gelebt hat, als wäre er schon tot beziehungsweise als wäre er mit einem Bein schon immer im Jenseits gewesen. Solche Menschen wirken apathisch, so, »als seien sie gar nicht ganz da«. Oft geschieht es, dass in einem derartigen Fall ein Kind in die Bresche springt: Unbewusst sagt es dann: »Lieber Vater (oder liebe Mutter), lieber gehe ich als du. So kannst du bleiben.«
Ein auf diese Weise liebendes Kind, so erzählte mir seine Mutter, ging oft »blind« über die Straße und hatte jedes Mal Glück, nicht überfahren zu werden. Außerdem »balancierte« das Kind als Siebenjährige auf gefährliche Weise am hochgelegenen Fensterbrett.
Der Ziegelstein: Monika
Ein anderes Beispiel für eine solche Gefährdung ist Monika, eine junge Frau. Sie kommt in die Praxis, weil sie unter nervlichen Zusammenbrüchen leidet und Stimmen von Geistwesen hört. Sie selbst ist deswegen der Ansicht, dass sie innerhalb ihrer spirituellen Entwicklung eine sogenannte Kundalini-Krise erlebe. Bislang habe ihr kein Arzt helfen können.
Ich mache mit Monika eine Familienaufstellung mit den bereits beschriebenen Hilfsmitteln. Deutlich erkennt man die Sehnsucht, zu sterben. Monika will für ihre Mutter in den Tod gehen. Eine Frage zur Familiengeschichte der Mutter gibt allerdings keinen Hinweis darauf, warum diese sterben will.
Die Lösung in solchen Fällen wäre, sich tief vor der Mutter zu verbeugen und ihr in Liebe und Achtung das Schwere zu lassen, weil es einem als Kind nicht zusteht, es zu tragen. Monika jedoch verachtete beide Eltern massiv und zeigte wenig Mitgefühl. So lasse ich sie zur Mutter sagen: »Ich trage es gern für dich – bis zum Letzten.« Ich lasse Monika nicht im Unklaren darüber, dass sie sehr gefährdet ist.
Einige Wochen nach dieser Sitzung ruft Monika mich an und sagt, dass das »alles Blödsinn gewesen ist, was Sie mit mir in der Sitzung gemacht haben. Ich bin in keinerlei Weise gefährdet. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie sich getäuscht haben!« Ich gebe zur Antwort, dass sie selbständig entscheiden muss, was sie mit dem Ergebnis der Sitzung anfängt, doch dass ich als Therapeut bei meiner Wahrnehmung bleibe.
Daraufhin will Monika wissen, was denn mit »Gefährdung« konkret gemeint sei. »Gefährdung« bedeutet, dass ein Sog ins Jenseits besteht, auch wenn das Bewusstsein davon nichts wahrnimmt. Zum Beispiel, so erzähle ich ihr, kann man sich unbewusst in gefährliche Situationen begeben, ein Felsbrocken kann einen Meter vor oder hinter einem zu Boden gehen, man steigt in einen gefährdeten Zug oder ein Flugzeug ein. Als ich das gesagt habe, wird Monika plötzlich nachdenklich und erzählt Folgendes: Einige Tage nach unserer Sitzung ging sie durch die Fußgängerzone. Unmittelbar hinter ihr fiel von einer Dachfassade ein schwerer Stein herunter, der sie hätte erschlagen können. Erst jetzt beginnt sie zu begreifen, wie ernst es steht und dass der Tod in jedem Moment des Lebens gegenwärtig ist.
Die nun folgenden Beispiele verdeutlichen den Sog ins Jenseits, wenn mehrere Familienmitglieder früh verstorben sind.
Sohn und Vater durch Krebs verloren: Helene
Helene hat seit fünfzehn Jahren Herzschmerzen und Herzrhythmusstörungen. Organisch konnte nichts gefunden werden, dennoch nimmt sie starke Herztabletten, um im Alltag mit ihrem Leiden zurechtkommen zu können.
»Mit dem Herzen, das fühlt sich so an, wie wenn ich sterben müsste«, sagt Helene, während ihr Mann Klaus neben ihr sitzt und stumm nickt.
Vor der Gruppe berichtet sie unter Tränen, dass ihr Sohn elf Jahre zuvor in noch jugendlichem Alter an Krebs gestorben ist. Erst nach...