Kapitel 1
Die Lebensmitte – ein Wendepunkt
Eines Tages fand ich ein paar Videobänder in meiner Post, Mitschnitte von Vorträgen, die ich 1988 gehalten hatte. Ich bat meine Tochter, sie mit mir gemeinsam anzuschauen; sie sollte sehen, wie ihre Mutter zwei Jahre vor ihrer Geburt aussah und sich anhörte. Zuerst dachte ich, ich täte es für sie, doch bald war mir klar, dass ich es für mich selbst tat. Meine Tochter war ganz erstaunt, wie leicht und locker ihre Mama damals rüberkam, körperlich wie geistig, noch unbelastet von Jahren voller Sorgen. Auch ich selber war irgendwie fasziniert.
Ein junger Mann in meinem Bekanntenkreis sagte einmal zu mir: »Hätte ich dich doch nur gekannt, als du jünger warst!«, und versuchte sich dann (als er sah, wie ich zusammenzuckte) mit der Bemerkung zu retten, er hätte mich gerne gekannt, als ich noch dieses Feuer in mir hatte. Und ich dachte bei mir, sagte es aber nicht: Ich habe dieses Feuer immer noch in mir! Auf diesen alten Videoaufnahmen sah ich das Feuer, das er gemeint hatte, aber ich sah auch etwas anderes. Ich sah ein Feuer, das ich mir zurückerobern musste, ein Feuer, das die Welt eingedämmt hatte, das aber noch immer meines war, wenn ich es wollte. Sicher, es loderte mir nicht mehr aus den Augen, aber erloschen war es auch noch nicht. Es lag einfach verschüttet unter Belastungen und Enttäuschungen, die sich Schicht um Schicht darauf angehäuft hatten. Der Ursprung des Feuers selbst lag außerhalb der Zeit.
Mich überraschte bei unserer Videositzung, dass meine Tochter so erstaunt war. Es war mir nicht bewusst gewesen, dass sie ihre Mutter nicht als eine unbeschwerte Frau sah, mit reichlich Wortwitz und Klugheit begabt. Da erst erkannte ich, dass ich jemand geworden war, der ich eigentlich nicht hätte werden müssen. Ich hatte ein paar harte, psychisch düstere Jahre hinter mir und war schlicht auf die Lügen hereingefallen, die man mir damals erzählt hatte.
Mir ist das Gleiche passiert wie vielen anderen auch, in der einen oder anderen Weise. Das Alter kann einen mit der Wucht einer Dampfwalze treffen, so dass von allem jugendlichen Elan nichts mehr übrig bleibt. Jahrelang läuft man herum wie fremdgesteuert, offenbar mehr von dem bestimmt, was man nicht mehr ist, als von dem, was man ist. Doch langsam, aber sicher tritt man in die nächste Phase seines Lebens ein – verändert, aber nicht unbedingt mit weniger Potenzial. Ob weniger oder mehr, das hängt von Ihnen selbst ab.
Ich erinnere mich, wie ich vor ein paar Jahren eine CD von Joni Mitchell kaufte. Das Cover zeigt ein Selbstporträt, auf dem sie ein Glas Wein in der Hand hält. Ich betrachtete das Bild mehrere Minuten, ehe ich die CD einlegte – und war entsetzt. Joni klang vollkommen anders, es war nicht die Joni, die ich doch so gut kannte. O mein Gott, dachte ich, sie hat ihre Stimme verloren! Das Helle, Zarte, es war vollkommen weg. Ich, die ich seit Jahrzehnten Joni Mitchell hörte, erkannte ihre Stimme nicht wieder. Joni Mitchell kann nicht mehr singen, dieser Gedanke ging mir bestimmt fünf Minuten lang unaufhörlich im Kopf herum.
Und dann begann ich, richtig hinzuhören, und erkannte natürlich, dass die Stimme von früher sich mit der heutigen überhaupt nicht messen konnte. Joni Mitchells Stimme besaß jetzt eine neue Tiefe, verriet eine Sehnsucht, die die Stimme ihres jüngeren Selbst nicht gehabt hatte. Irgendwo zwischen ihrer Seele und ihrer Kehle, zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart, hatte sich gute Popmusik wie durch Magie in hohe Kunst verwandelt. Aus den leichten, hellen Melodien waren starke, seelenvolle Schreie aus ihrem tiefsten Innern geworden. Sie hatte eine Kraft entwickelt, die alles andere als geringer ist. Aus einer, die schon zu den Größen gehört hatte, schien mir eine Göttin geworden zu sein.
Joni Mitchells Weg – und ihre Verwandlung – haben angesichts meiner eigenen Erfahrung eine große Bedeutung für mich. Da ich seit über zwanzig Jahren Vorträge halten, bekomme ich hin und wieder von Leuten zu hören, dass sie mich gerne »wie früher« erleben würden. Und ich weiß, was sie meinen. Ich war flippig, witzig, offenherzig. Aber, meine Güte, das war in den 1980er Jahren! Es ist keine Kunst, locker-flockig daherzukommen, wenn man noch nichts erlebt hat, das einen belasten könnte. Später, wenn das persönliche Repertoire an leidvollen wie an schönen Erfahrungen Jahr für Jahr wächst, kann Ihre Stimme nicht unverändert bleiben. Die Frage ist: Werden Sie Ihre wahre Stimme dann verloren oder gefunden haben?
Die Jahreszeiten wechseln, aber jede ist auf ihre Weise schön. Der Winter ist genauso schön wie der Sommer, draußen in der Natur wie in uns selbst. Wir sind in späteren Jahren nicht zwangsläufig weniger hinreißend; wir sind einfach auf andere Weise hinreißend. Dort zu sein, wo wir wirklich stehen, ohne uns dafür zu schämen oder zu rechtfertigen, das ist es, was zählt. Der Charme der persönlichen Authentizität kann den verlorenen Charme der Jugend durchaus kompensieren. Meine Arme sind nicht mehr so wohlgeformt wie früher, aber ich weiß wesentlich mehr mit ihnen anzufangen.
Als ich in den Zwanzigern war, habe ich zu fast allem ja gesagt: Ja, da gehe ich hin; ja, das mache ich. Als ich älter wurde, habe ich mir angewöhnt, nein zu sagen: Nein, das kann ich nicht machen, weil ich zu meiner Tochter nach Hause muss; nein, da kann ich nicht hingehen, weil ich keine Zeit dazu habe. Irgendwann, scheint mir, habe ich dann aufgehört zu überlegen, warum ich nein sage, und einfach auf alles, was außerhalb meiner Komfortzone lag, automatisch mit nein geantwortet. Und meine Komfortzone wurde immer kleiner. Bis mir schließlich bewusst wurde, dass zu viele Neins in einem bestimmten Alter gefährlich werden. Wenn wir nicht aufpassen, sagen wir auf einmal nein zum Leben selbst. Und dieses Nein ist es, das uns alt macht.
Die Pflichten des Erwachsenenlebens zwingen uns oft, uns auf die unmittelbar anstehenden Dinge zu konzentrieren, und in dieser Hinsicht kann es eine gute Sache sein, zur Ruhe zu kommen. Das muss aber nicht bedeuten, dass wir uns gewissermaßen geistige Scheuklappen anlegen. Wer das Staunen verlernt, kann nicht auf gute Weise alt werden. Vielleicht ertappen Sie sich manchmal bei Gedanken wie: Ach, dieses Museum, das kenne ich doch schon längst! Gehen Sie aber trotzdem hin, werden Sie feststellen, dass das, was Sie in jüngeren Jahren dort gesehen haben, nur ein Bruchteil dessen ist, was Ihre Augen heute alles sehen.
Wenn Sie Ihren Körper nicht trainieren, ziehen sich Ihre Muskeln mit der Zeit zusammen. Und wenn Sie Ihren Geist nicht trainieren, werden Sie geistig immer starrer.
Nichts engt Ihr Leben so sehr ein wie eine starre geistige Haltung. Sie bedeutet eine Einschränkung Ihrer Möglichkeiten, Ihrer Freude am Leben.
Wir alle kennen Menschen, die sorgenvoll gealtert sind, und andere, die freudvoll gealtert sind. Jetzt ist es an der Zeit, bewusst in Freude zu altern, die Entscheidung zu treffen, dass die Freuden der Jugend zwar schön sind, aber nicht die einzige Art von Freuden. Eigentlich ist schon das Wissen, nach so vielen Jahren endlich erwachsen geworden zu sein, eine erfreuliche Sache.
Eine Vielzahl neuer Möglichkeiten tut sich vor uns auf, die wir einer zahlenmäßig sehr starken und früher ziemlich forsch auftretenden Generation angehören, die jetzt in die Jahre kommt, in denen das Haar schütter wird und die Gelenke zu schmerzen beginnen. Wie wir weitermachen, ist nicht vorherbestimmt, sondern bleibt abzuwarten und hängt davon ab, wie sich der Einzelne entscheidet. Wir können uns dem Sog von Alter und Chaos überlassen, der uns immer weiter nach unten zieht, oder wir können furchtlos neue Wege einschlagen – indem wir all das in die Waagschale werfen, was uns das Leben bereits gelehrt hat, und die Chance auf Erlösung nicht nur für uns selbst, sondern für die ganze Welt beanspruchen.
Es gibt eine Menge Dinge, für die unsere Generation sich zu verantworten hat, nachdem sie so lange Party gemacht hat und so spät erwachsen geworden ist. Doch jetzt, da uns weniger Jahre bleiben, sind wir endlich bereit, uns dem Leben zu stellen. Jetzt haben wir das Wissen und hoffentlich auch den Mut, für das einzutreten, was wir als richtig erkennen. Wir sind uns bewusst, dass ein Kapitel in unserem Buch des Lebens zu Ende ist, dass aber das nächste vielleicht gar nicht schlechter sein muss. Es könnte sogar unendlich viel besser sein. Wir könnten diese Jahre wertschätzen und feiern, wenn wir den Mut haben, bewusst die Zügel in die Hand zu nehmen und etwas Neues für uns selbst und für die Welt zu schaffen.
Wir haben alle unsere privaten Dramen durchgemacht, sind unseren individuellen Weg gegangen; jetzt begegnen wir uns, wie an einem vorherbestimmten Punkt, um unsere Ressourcen an Talent und Intelligenz, an Glauben und Hoffnung zusammenzubringen. Letztlich ehrt es jeden von uns persönlich, wenn wir da unseren Platz finden, wo die Herzen im selben Rhythmus schlagen. Wir sind unseren Weg allein gegangen, und ab jetzt gehen wir ihn gemeinsam. Das wirkliche Drama unseres Zeitalters ist noch längst nicht vorbei; in gewisser Weise fängt es gerade erst an.
Jede Generation bringt ihre eigenen Begabungen mit. Die größten Talente der Babyboomer-Generation müssen noch ans Licht befördert werden, denn es sind ganz andere, als wir dachten. Es geht dabei ebenso um die Auseinandersetzung mit den Dingen, bei denen wir versagt haben, und um das damit einhergehende spirituelle Wachstum wie auch um die Verdienste, die wir für irgendetwas einheimsen.
Eine idealistische Generation, die angetreten...