»Meine Kinder sollten mir schon gehorchen.«
Drei Jahre ist es jetzt her, dass Pia Weber sich von ihrem Mann Daniel getrennt hat. Damals war sie 33, ihre Tochter Lena war sieben, ihr Sohn Niklas acht Jahre alt.
Der Schritt, sich zu trennen, war ihr nicht leichtgefallen. Aber das Zusammenleben mit Daniel entzog ihr immer mehr Energie. Sie hatte das Gefühl, dass die Verantwortung grundsätzlich an ihr hängen blieb. Wenn sie ihn mal so weit hatte, dass er mit anpackte, war er keine echte Hilfe, denn er brachte nur alles durcheinander. Für ihn war der alltägliche Kleinkram eigentlich bloß Ballast. Was wirklich zählte, waren seine »Visionen«, von denen er einige durchaus zu verwirklichen versuchte. Das erste Projekt, das er anging, war eine Kneipe, die er noch während seines BWL-Studiums mit einem Kumpel aufmachen wollte. Das Ganze scheiterte. Dann versuchte er, angeregt durch einen anderen Kumpel, sein Glück im Geschäft mit Ostimmobilien. Auch das ging jedoch schnell den Bach hinunter. Seither fährt er Taxi, um die Zeit bis zum nächsten Job zu überbrücken. Und diese Überbrückung dauert nun schon fünf Jahre.
Dabei war es genau die Fähigkeit, große Pläne zu schmieden, die Pia anfangs an Daniel faszinierte. Er malte seine Träume in den schillerndsten Farben aus: sei es eine Schafzucht in Neuseeland aufzumachen, eine Tauchschule auf den Malediven oder alles Ersparte in einer Segelyacht anzulegen, um einmal um die Welt zu segeln. Daniel wollte nach dem Motto von Mark Twain leben:
»Trenne dich nicht von deinen Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.«
Für den Alltag mit einer Familie fehlten ihm jedoch die Visionen.
Vielmehr dachte er, dass er sich auch hier irgendwie durchwursteln könnte. Verlässliche Rituale, Sicherheit, Verantwortung fand er zwar gut, aber nur, wenn er nicht dafür geradestehen musste.
Und irgendwann gingen Pia die Träume, die sie einst so fasziniert hatten, auf die Nerven. Ihre Migräne, unter der sie ab und zu mal litt, wurde schlimmer, dazu kam eine chronische Bronchitis. Und als ihre Mutter mal aus Scherz zu ihr sagte: »Wen willst du denn anbellen?«, als sie hustete, da wusste Pia, wer es war: Daniel.
Ab diesem Moment begann sie sich mit dem Gedanken zu befassen, ob es ihr ohne ihn nicht vielleicht besser gehen würde. Zumal sie sich in letzter Zeit auch nur noch gestritten hatten wegen jeder Kleinigkeit. So beschlossen sie nach vielen Gesprächen und einem Beratungsanlauf, dass es besser sei, sich zu trennen. Besser gesagt:Pia beschloss es und Daniel stimmte zu.
»Im Leben wird dir nichts geschenkt«
Seitdem geht es Pia körperlich besser. Auch die Kinder scheinen befreiter, weil die vielen Streitereien im Haus die Stimmung schon sehr gedrückt hatten. Eines jedoch hat Pia unterschätzt:
Das ist der Druck, den sie sich selbst durch die Trennung auferlegt. Denn seitdem wird sie vom Perfektionsdrang getrieben, will allen beweisen, dass sie allein nicht nur gut zurechtkommt, sondern sogar besser als gemeinsam mit ihrem Mann. Das liegt auch daran, dass vor allem ihre Schwiegereltern ihr Vorwürfe machen, dass sie den Kindern den Vater weggenommen habe. Manchmal zweifelt sie insgeheim selbst, ob die Trennung richtig war, doch ein Nein kann sie vor sich selbst nicht zugeben und flüchtet sich dann in Strenge – sich selbst und den Kindern gegenüber. Nicht zuletzt um sich selbst anzutreiben, beherrschen Sätze wie diese ihr Lebensmotto: »Im Leben wird einem nichts geschenkt. Ohne Disziplin geht es nicht. Ich kann es auch alleine schaffen, notfalls mit aller Härte.«
Pia arbeitet seit einiger Zeit halbtags in der Kanzlei eines Steuerberaters. Ihr Traumberuf wäre Architektin gewesen, aber das hatte sie sich abgeschminkt, als die Kinder kamen. Jetst findet sie es auch gut, dass sie für die beiden da sein kann, und das versucht sie, so perfekt hinzubekommen, wie es ihr möglich ist.
Mit der Härte und dem Strengsein hat Pia allerdings so ihre Schwierigkeiten. Sie sucht noch nach dem richtigen Maß an Konsequenz, wenn Lena und Niklas mal wieder nicht das machen, was sie sagt. Vor allem will sie nicht, dass die Kinder sie irgendwo blamieren, weil sie sich unerzogen benehmen. Aber merkwürdigerweise führen sie sich vor allem bei ihr unmöglich auf. An diesem Nachmittag ist es mal wieder so weit.
»Wer nicht hören will, muss fühlen«
Heute muss Pia etwas länger in der Kanzlei bleiben. Deswegen hat sie ihre Mutter Tessa gebeten, das Mittagessen mit den Kindern zu übernehmen. Der Vormittag war anstrengend und Pia hofft, dass Lena und Niklas sich heute nicht wieder auf eine Kraftprobe in Sachen konsequenter Erziehung mit ihr einlassen wollen. Denn in letzter Zeit kommt es öfter vor, dass sie Absprachen nicht einhalten und nur unter Druck dazu gebracht werden können, ihr Zimmer aufzuräumen, beim Abwasch zu helfen, den Mülleimer runterzutragen … Diese Dinge funktionieren wunderbar, wenn sie Besuch haben. Wenn Pia jedoch mit den Kindern allein ist, redet sie sich oft den Mund fusselig. Und erst wenn sie zum Beispiel damit droht, das Abendritual zu streichen oder Fernsehverbot zu erteilen, dann folgen sie murrend.
Diese Gedanken gehen Pia durch den Kopf, als sie die Haustür öffnet. Aus der Küche tönt ihr Gelächter und Musik entgegen. Da scheint ja jemand viel Spaß zu haben. Sie schaut in die Küche.
»Na, feiert ihr eine Party? Kann ich mitfeiern?«
Mit Tomatensoße beschmiert begrüßt sie ihr Sohn:
»Hi, Mama, wir haben mit Oma ein ganz tolles neues Spaghettirezept ausprobiert!«
»In der ganzen Küche?« Pias Stimmung sackt schlagartig auf den Nullpunkt. Die Küche sieht aus, als seien mehrere Dosen Tomaten explodiert. Vorwurfsvoll schaut Pia ihre Mutter an. Die lächelt unbekümmert: »Die Soße schmeckt besser, als es hier aussieht.«
Und Pias Tochter Lena mischt sich ein. »Es war total super, Mami!
Wir haben so getan, als würden wir für eine Kochshow proben.«
»Und wer macht das Chaos jetzt weg?«
Pia spürt, wie der Druck in ihr anwächst und wie üblich langsam in ihren Kopf wandert.
Ihre Mutter legt beschwichtigend die Hand auf ihre Schulter.
»Jetzt mach dich mal locker. Die beiden machen das schon. Sie haben es mir versprochen.«
Lena und Niklas nicken brav.
Und dann verabschiedet sich Tessa. Sie müsse zum Bauchtanz.
Pia glaubt, nicht richtig zu hören. »Bauchtanz? In deinem Alter?
Wie peinlich ist das denn?«
»Vielleicht für dich! Ich fühl mich damit wohl.« Tessa lacht. »Weißt du, was Marlene Dietrich einmal gesagt hat? ›Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich die gleichen Fehler machen. Aber ein bisschen früher, damit ich mehr davon habe.‹«
Dann erinnert sie Pia mal wieder daran, dass sie ihrem Vater die besten Jahre ihres Lebens geschenkt habe und jetzt, nachdem er ja schon ein paar Jahre tot sei, endlich auch mal das tun wolle, was ihr Spaß mache. Danach verabschiedet sie sich mit einem provozierenden Bauchtanz-Hüftschwung.
Niklas findet das »total cool« und Lena versucht, es ihr gleich nachzumachen.
Pia dagegen ist einfach nur genervt und erinnert ihre Kinder an das Versprechen aufzuräumen.
Die beiden behaupten jedoch, jetzt keine Lust zu haben, und wollen es auf später verschieben. Das passt Pia aber nicht, weil es sie erstens stört, dass es in der Küche so aussieht, und weil sie sich zweitens gut genug kennt, um zu wissen, dass sie am Ende doch wieder resigniert und selbst sauber macht.
»Manno, Mama, jetzt sei mal ein bisschen locker!«, wiederholt Lena Omas Spruch.
Das bringt Pia noch mehr in Fahrt. Sie besteht darauf, dass die beiden ihr gehorchen und auf der Stelle beginnen, die Überbleibsel der »Soßenschlacht« zu beseitigen.
Die Kinder stellen sich aber weiterhin quer und weigern sich, sofort anzufangen. Und diesmal bewirken selbst die üblichen angedrohten Strafen – kein Abendritual und Fernsehverbot – überhaupt nichts bei den beiden. Lena und Niklas verschwinden einfach wortlos in ihre Zimmer.
Pia ist unglaublich wütend über den Ungehorsam der beiden. Sie fühlt sich dermaßen hilflos und alleingelassen, dass sie die angekündigten Strafen diesmal durchzieht – obwohl es ihr leidtut, mit ihren Kindern so im Streit zu liegen.
Selbstzweifel und Schuldgefühle
Später im Bett macht sie sich große Vorwürfe. Verliert sie durch ihre Strenge die Liebe ihrer Kinder? Ist sie auf dem besten Weg, Lena und Niklas nur noch zu nerven?
Aber es kann doch schließlich nicht angehen, dass die beiden einfach nicht gehorchen! Was soll sie denn sonst tun, um sich durchzusetzen, wenn nicht Strafen zu verhängen?
Sie grübelt darüber nach, dass sie sich von ihrem Mann getrennt hat, weil sowieso immer alles an ihr hängen blieb. Doch ist es jetzt wirklich besser? Und hat sie tatsächlich die Familie zerstört, wie die Schwiegereltern sagen? Wenn die Kinder bei ihnen zu...