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Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Die Ursachen der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts

AutorJochen Lehnhardt, Jörn Fritsche, Manfred Schopp, Matti Ostrowski
VerlagScience Factory
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl188 Seiten
ISBN9783656589044
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
'Der Erste Weltkrieg war ein radikaler Einschnitt in nahezu alle Aspekte der Entwicklung des 20. Jahrhunderts und prägte den weiteren Verlauf der neueren Geschichte maßgeblich. Doch auch hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind sich die Historiker über die Ursachen und die Verursacher dieser 'Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts' nicht einig. Wie kam es dazu, dass 1914 die größten und einflussreichsten Nationen der Welt einen Krieg führten, in dessen Verlauf mehr als 10 Millionen Menschen starben? In diesem Buch werden die kurz- und langfristigen Ursachen beleuchtet, und die Prozesse dargestellt, die durch das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 ausgelöst wurden. Aus dem Inhalt: Das Attentat von Sarajewo Die Julikrise Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien bis zum 23.Juli 1914 Die langfristigen Ursachen des Ersten Weltkrieges Deutschlands Schuld am Ausbruch des Krieges'

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Leseprobe

2. Der Vertrag von Björkö 1905


Der russisch-japanische Krieg von 1904/5 war, was seine diplomatischen Verwicklungen und Begleiterscheinungen betrifft, der interessanteste Krieg des 20. Jahrhunderts. Direkt beteiligt waren nur Russland und Japan, indirekt jedoch auch England als Partner Japans und Frankreich als Partner Russlands. Soweit scheint alles klar zu sein.

Was die Sache so spannend machte, war der Umstand, dass im April 1904 Frankreich mit England die sogenannte ‚Entente cordiale’ (herzliches Einvernehmen) vereinbart hatten, formal eine Interessenabgrenzung der beiderseitigen Einflusszonen in Afrika, informell jedoch ein Bündnis gegen Deutschland. Aus französischer Sicht entstand nun ein Dilemma: Unterstützte man Russland gegen Japan, was etwa von Französisch-Indochina aus leicht hätte geschehen können, so legte man sich auch gegen England fest, mit dem man gerade erst die Entente geschlossen hatte. Ließ man Russland aber im Stich, so zerbrach möglicherweise der Zweibund von 1894.

Was also war zu tun? In Paris kam man zu dem Schluss, die neue Freundschaft mit England sei höher einzuschätzen als das alte Bündnis mit Russland. Man vertraute darauf, dass die Ländergier der Panslawisten und ihr eingewurzelter Hass auf Österreich und Deutschland auf Dauer stärker seien als die zeitweilige Enttäuschung über das französische Desinteresse an Russlands Kriegsglück. Man kannte wohl in Paris das panslawistische Credo, die „Russische Geographie“, wonach sieben Ströme zu Mütterchen Russland gehörten, nämlich Elbe, Newa, Euphrat, Nil, Wolga, Donau und Ganges. Da war für die panslawistische Agitation noch viel zu tun, und so glaubte man in Paris nicht zu Unrecht, Russland werde trotz allem am Bündnis mit Frankreich festhalten.

Auch in Berlin verfolgte man aufmerksam den Kriegsverlauf und seine diplomatischen Verwerfungen. Die deutsche Regierung und der Kaiser glaubten die Chance zu erkennen, durch nichtmilitärische Hilfe den Russen beizuspringen und sich als der bessere Bündnispartner zu empfehlen. Denn nachdem die russische Pazifikflotte vor Port Arthur gesunken war, dem Hafen, den Russland erst 1898 von China ‚gepachtet’ hatte, musste die ‚Baltische Flotte’ von der Ostsee an den Kriegsschauplatz geschickt werden. Auf dem Wege dorthin versenkten im Oktober 1904 russische Kriegsschiffe in der Nordsee englische Fischerboote, die sie irrtümlich für japanische Torpedoboote gehalten hatten (‚Doggerbank-Zwischenfall). Es gab zwei Tote und mehrere Verletzte. Die englisch-russischen Beziehungen wurden dadurch noch frostiger. Kaiser Wilhelm nutzte diese Gelegenheit, um Ende Oktober 1904 dem bedrängten Zaren ein Bündnis Russland-Deutschland-Frankreich vorzuschlagen, den sogenannten ‚Kontinentalblock’. Er hoffte, die antibritische Stimmung in Russland wäre diesem Vorhaben günstig. Zar Nikolaus II. bat den Kaiser, ihm einen Entwurf für ein deutsch-russisches Bündnis vorzulegen. Das geschah. Der Beitritt Frankreichs blieb noch offen, aber Russland sollte in Paris dafür werben. Dort aber hielt man vom ‚Kontinentalblock’ gar nichts, und so verlief das Projekt fürs erste im Sande und der Krieg ging in sein zweites Jahr.

England hatte den Suezkanal für Kriegsschiffe gesperrt, so dass die russische Baltikum-Flotte um ganz Afrika herum in Richtung Japan dampfen musste. Acht Monate brauchte sie dazu. Unmengen von Kohle mussten verfeuert werden, aber weder England noch der Bündnispartner Frankreich waren bereit, von ihren zahlreichen Stützpunkten aus den Russen diese Kohle zu liefern. Hier witterte der Kaiser seine zweite Chance. Deutschland würde die dringend benötigte Kohle liefern! HAPAG-Lloyd wurde angewiesen, die erforderliche Infrastruktur bereitzustellen. Auch politisch stellte er sich offen als Parteigänger Russlands dar, prägte das Schlagwort von der „Gelben Gefahr“, die ganz Europa bedrohe, und fertigte selbst eine Skizze an, welche die europäischen Völker, brüderlich vereint gegen diese tödliche Gefahr, darstellte.

In der Tat war es das erste Mal, dass eine europäische Großmacht von einer nichteuropäischen zu Lande und zu Wasser vernichtend geschlagen wurde. 1905 stand das Zarenreich ohne Flotte da, denn auch die Baltische Flotte war bei Tsushima versenkt worden. Die englische Rechnung, die Japaner die Drecksarbeit machen zu lassen, war also glatt aufgegangen!

Für den Augenblick schien es daher so, als habe Russland in Deutschland einen neuen Partner anstelle Frankreichs gefunden. Wilhelm II. verabredete mit seinem Vetter Nikolaus II. die enge politische Zusammenarbeit, die im Oktober 1904 noch nicht möglich gewesen war. Bei nächster Gelegenheit sollte diese mit einem förmlichen Vertrag besiegelt werden. Man begegnete sich in Björkö.

Björkö ist ein finnisches, früher russisches Hafenstädtchen, wo Kaiser Wilhelm auf seiner alljährlich stattfindenden Nordlandfahrt mit seinem Vetter im Juni 1905 zusammentraf. Hier wurde nun jener deutsch-russischer Beistandspakt unterschrieben, der nach den Worten Kaiser Wilhelms „ein Wendepunkt in der Geschichte Europas geworden ist, dank der Gnade Gottes, und eine große Erleichterung der Lage für mein theures Vaterland, das endlich aus der scheußlichen Greifzange Gallien-Russland befreit werden wird… Der 24. Juli 1095 ist ein Eckstein in der europäischen Politik und schlägt ein neues Blatt der Weltgeschichte um; es wird ein Kapitel des Friedens und Wohlwollens unter den Großmächten des europäischen Kontinents sein, die einander respektieren werden in Freundschaft, Vertrauen und in Verfolgen einer allgemeinen Politik in der Richtung einer Interessengemeinschaft“.[3]Wäre dieser letzte Satz aus dem Munde eines hochrangigen EU-Politikers, etwa des Kommissionspräsidenten Barroso oder des EZB-Chefs Draghi gekommen, dann würde man ihn aus Ausweis wahrhaft europäischer Gesinnung und Verantwortung gepriesen haben; nun aber, da ihn der deutsche Kaiser, jener säbelrasselnde Pickelhauben-Militarist und Watschenmann des linken Spießers, gesprochen hat, kann man ihn nur mit betretenem Stillschweigen übergehen. Wie dem auch sei: Nach menschlichem Ermessen stand mit dem Vertrag von Björkö dem europäischen Kontinent also eine langdauernde Friedensepoche bevor.

Deprimiert durch die russischen Niederlagen hatte der Zar den ‚Vertrag von Björkö’ unterzeichnet. Nun besaß Russland zwei Verträge, einen mit Deutschland, der den Frieden in Europa sichern sollte und einen älteren mit Frankreich, der einen Krieg mit Deutschland zum Ziel hatte. Welcher Vertrag würde nun gelten? Die russische Regierung vermied nach außen hin eine klare Entscheidung, indem sie erklärte, der Vertrag von Björkö könne ihrer Ansicht nach nur Geltung erlangen, sofern Frankreich zustimme. Man wusste natürlich vom ersten Versuch her, dass Frankreich diese Zustimmung verweigern würde, da es mit Russland nur paktiert hatte, um Deutschland in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Da dieser Krieg aber durch den Vertrag von Björkö vereitelt würde, musste dieser ungeschehen gemacht werden. Und so kam es denn auch. Die russische Regierung teilte der deutschen mit, da Frankreichs Zustimmung fehle, könne der Vertrag von Björkö leider nicht in Kraft treten. Der Vertrag verschwand sang- und klanglos in der Schublade. Dem schwachen Zaren war das Ganze höchst peinlich, aber gegen die einflussreiche Kriegspartei in seinem Lande war er schon 1905 machtlos und blieb es bis zu seinem Sturz 1917. Kaiser Wilhelm II. war um eine bittere Erfahrung reicher: Seine Parteinahme für Russland hatte ihm keinen neuen Freund, sondern nur einen neuen Gegner eingebracht, nämlich Japan.

Hätte Deutschland tatsächlich den „Griff nach der Weltmacht“ gewagt, wie ein bekanntes Buch von 1961 seinen Lesern weismachen wollte, hätte der Kaiser dann eine solche Politik betrieben? Einem strauchelnden Russland wieder auf die Beine zu helfen, anstatt das Zarenreich oder seinen Bundesgenossen Frankreich in einem entschlossenen Schlag niederzuwerfen? Schon diese Frage beweist, wie absurd die These dieses kläglichen Buches ist.

Der russisch-japanische Krieg hat aber noch eine letzte, für deutsche Beobachter immer noch schwer begreifliche Pointe: Der Weltgegensatz, dessentwegen man gerade noch einen Krieg mit weit mehr als Hunderttausend Toten geführt hatte, war kaum zwei Jahre später wie von Geisterhand weggezaubert. 1907 waren alle Kriegsgegner von 1904/05 ein Herz und eine Seele, England hatte seine Entente mit Frankreich geschlossen, Frankreich belebte seine Entente mit Russland wieder, 1907 folgte die Entente England-Russland und selbst Japan entdeckte im gleichen Jahr Russland als neuen Verbündeten. Anders gesagt: Die vier Mächte begruben ihre Streitigkeiten, um für den großen Kampf gegen Deutschland die Hände frei zu haben. Die Einkreisung war perfekt.

Der Vertrag von Björkö macht mit aller Deutlichkeit klar: Paris und St. Petersburg hatten 1905 die Wahl, zusammen mit dem Deutschen Reich den Frieden in Europa zu sichern oder aber ihre politischen Ziele weiter zu verfolgen, die ohne Krieg nicht zu verwirklichen waren: nämlich auf Seiten Frankreichs den Revanchekrieg gegen Deutschland zu führen, und auf Seiten Russlands die panslawistischen Träume auf Kosten Österreich-Ungarns und Deutschlands wahrzumachen. Beide Staaten entschieden sich in diesem welthistorischen Augenblick für Krieg. ‚Björkö’ durfte also nicht Wirklichkeit werden.

Die Schulbücher haben für diesen dramatischen Augenblick natürlich keinen Sinn und keinen Platz. Denn hätte man ihn erwähnt, dann wäre die simple Selbstbezichtigung, zu der sich die deutschen Autoren in vorauseilendem Gehorsam...

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