Erinnerung Nr. 2
Wie Erwartungen unser Leben prägen
In dem Augenblick, wo wir uns auf den Weg machen – welcher Weg es auch immer sein mag – imaginiert unsere Fantasie ein Bild des möglichen Zieles. Dieses Bild kann bereits sehr klar oder noch sehr verschwommen sein. In jedem Fall dient es der Motivation, es suggeriert uns ein Erreichen, es treibt uns an und lässt uns hoffen – wir bauen eine ERWARTUNG auf!
Da unsere Ziele, die Wege, die wir beschreiten, die Erfolge, die wir zu erlangen trachten, in immer größerem Ausmaß unseren Alltag bestimmen, bestimmen auch Erwartungen immer mehr unser Leben. Die bestimmenden Ziele unserer Vorfahren waren, Nahrung zu finden und sich zu vermehren. Schauen wir uns im Gegenzug einen ganz normalen Menschen des 21. Jahrhunderts an, dann erkennen wir, wie sehr wir mit unseren Zielen und unseren Erwartungen beschäftigt sind. Und wir erkennen, wie sehr gerade Erwartungen uns auf unserem Weg behindern.
Denn die Fantasie malt ein Bild, das von unseren Erkenntnissen und Erfahrungen geprägt ist. Als du zum ersten Mal mit meinem Buch konfrontiert wurdest, mit seinem Titel, dem Umschlag, in einer Buchhandlung oder in Form einer Rezension in einer Zeitung, muss dich irgendetwas angesprochen haben, sonst hättest du es ja nicht wahrgenommen und hättest dich in Folge nicht auf den Weg gemacht. Dieses „etwas“ war eine Erwartung! In Bruchteilen von Sekunden entstand in deinem Unterbewusstsein ein Bild, das dich und das, was du vom Titel, von der Gestalt des Buches, vom Autor erwartest, in Einklang brachten. Und anschließend wird daran gearbeitet, diese Erwartung zu realisieren: Du greifst zum Buch, kaufst es und erreichst ein erstes Erfolgserlebnis: Erwartung erfüllt. Oder die Erwartung wird noch hinausgezögert, weil du das Buch erst besorgen musst.
Erfüllte Erwartungen sind nicht das Problem, sie erzeugen Energie und bereichern unseren Alltag mit positiven Erlebnissen.
Das Problem sind die durch die steigenden Bedürfnisse hervorgerufenen materiellen und seelischen Wünsche – Erwartungen, die durch die massiv zunehmende Reizüberflutung immer häufiger auftreten, aber unerfüllt bleiben müssen.
Wenn wir uns auf den Weg machen – das kann sein, indem wir unserem Kind eine Geschichte vorlesen und erwarten, dass das Kind aufmerksam zuhört, oder wir treffen uns mit Freunden zu einem Spaziergang und erwarten, dass es ein erfreulicher, lustiger werden wird, von dem wir heil wieder zurückkehren, oder wir wenden uns dem Partner zu und erwarten, dass er unsere Zuneigung erwidert – wenn wir uns also auf den Weg machen, folgen wir egoistisch dem Pfad, den unsere Vorstellungskraft uns gelegt hat, um uns Sicherheit zu geben bzw. uns Sicherheit zu suggerieren: Erwartungen kalkulieren in den allermeisten Fällen den Gegenpart in diesem Spiel – das Kind, die Wanderung, den Partner – nicht oder nur in geringem Maße ein. Wir hoffen, dass der von uns entworfene Plan greift, dass wir am Ende des Weges erfolgreich sind – wenn sich unsere Erwartung erfüllt hat: Das Kind hört zu, wir verabschieden uns mit „Das war aber schön!“, wir küssen uns. (Erwartung ist ein von mir bestimmter Weg, der mich im Mittelpunkt sieht, während Hoffnung dem Gegenpart in diesem Spiel einen Freiraum zur Erfüllung lässt …)
Das dies so funktioniert, wurde mir, einem Menschen, der extrem von seinen Erwartungen geprägt wird (die Fantasie eines Märchendichters lässt grüßen!), durch eine profane, ja geradezu lächerlich wirkende Geschichte deutlich vor Augen geführt, und diese Geschichte war letztlich ausschlaggebend, mich mit diesem Thema überhaupt zu beschäftigen.
Schon während meiner ersten beiden Indientourneen im Frühjahr und Herbst 2005 wollte ich unbedingt das Taj Mahal, diesen unglaublich schönen, schneeweißen Gebäudekomplex in Agra, gebaut als Beweis von Liebe, besuchen. Aber mein straffer Zeitplan ließ es nicht zu. Als man mich 2006 wieder zu Gastspielen nach Indien einlud, ließ ich einen Besuch in Agra sogar vertraglich festlegen – noch einmal wollte ich auf diesen einzigartigen Blick nicht verzichten!
Normalerweise bereite ich mich minimal auf eine Reise vor, da ich lieber der Spontaneität folge. Aber diesmal las ich schon Monate vor meiner Abreise Artikel, Berichte und Beschreibungen über das Taj Mahal. Ich wusste bis ins kleinste Detail Bescheid: Von der Reise vom Bahnhof in Delhi bis zur Ankunft in Agra. Dann die Taxifahrt (der Preis darf 400 Rupien auf keinen Fall übersteigen!) zum Beginn des weitläufigen Parks, wo man in eine Pferdedroschke umzusteigen hat (aus Umweltschutzgründen, wie man von indischer Seite stolz betont, um den Marmor des Gebäudes zu schonen. Eine, angesichts der dort herrschenden unvorstellbaren Luftverpestung, seltsam bis lächerlich anmutende Erklärung, die an naiver Liebenswürdigkeit kaum zu überbieten ist …). Den Preis der Kutschenfahrt, die mich direkt zum Eingangsbereich bringen würde, recherchierte ich natürlich auch. „Bitte gehen Sie zu den dort befindlichen Kassastellen mit den Schildern FOREIGNERS“ – aha. Der Eintrittspreis beträgt 25 US-Dollar. Nach der Kontrolle geht es eine Allee entlang (es war nirgendwo beschrieben, welche Art von Bäumen die Allee säumen …), an deren Ende man nach rechts abbiegt und nun direkt vor einem monumentalen Eingangstor steht, das „schon manche für das Taj Mahal hielten und enttäuscht waren“, wie es in einem Führer beschrieben steht. Nach einer weiteren strengen Kontrolle tritt man durch das Tor und nach dem nächsten Schritt hebt sich endlich der Vorhang und man blickt auf das wahrscheinlich schönste Gebäude der Welt!
Ich hatte eine enorme Erwartungshaltung aufgebaut – frag mich nicht warum, aber so war es! Meine beiden ersten Gastspieltage waren nur lästiger Ballast. Ich war aufgeregt wie schon lange nicht mehr, konnte kaum einschlafen, wollte, was völliges Unverständnis seitens des indischen Fahrers hervorrief, schon zwei Stunden vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof sein, um ihn nur ja nicht zu verpassen. Ich hatte dieses Gebäude so verinnerlicht, dass es am Beginn der Fahrt nach Agra eigentlich kein Gebäude mehr war, sondern ein wunderschönes Mädchen, das ich, jugendlicher Liebhaber, zum ersten Mal treffen sollte. (Meine Frau wendet an dieser Stelle ein, dass ich unbedingt erzählen müsse, dass ich damals ohne sie in Indien war und wahrscheinlich, so ihre Interpretation, die nicht zu erfüllende Sehnsucht nach ihr durch die Sehnsucht nach dem Taj Mahal ersetzte. O. k. – eine wunderschöne Erklärung, lassen wir die mal so stehen …)
Endlich saß ich im Zug. Wir fuhren überpünktlich ab (wenn man die üblichen Verhältnisse in diesem, von mir über alle Maßen geliebten Land kennt, ein wirkliches Wunder!), erreichten auf die Minute Agra, ich stieg aus und dann lief alles wie an einem Fließband ab. Das Fließband war meine Vorstellungskraft, die schon alle Bahnen gelegt hatte, und am Rande des Bandes standen alle bereit, meine Erwartung zu erfüllen: der Taxifahrer, die Pferdedroschke, die Kassa (wo ich sah, warum man sich am Schalter für Foreigners anzustellen hat: erstens, weil an der Kassa für Indians bereits Hunderte warteten und sich drängten und schubsten, während ich nach zwei Minuten das Tor passierte; und zweitens, weil für Einheimische der Eintritt 25 Rupien kostet, also rund 20 Cent, während Ausländer 25 US-Dollar zu bezahlen haben – richtig so!), die Allee, die – jetzt sah ich es mit eigenen Augen – aus Pinien bestand. Das Fließband wurde immer langsamer, je näher ich meiner Geliebten kam. Ich wollte diese letzten Schritte genießen, auskosten, mir bewusst machen, dass ich diesen Augenblick niemals mehr erleben werde. Das Fließband kam vor dem monumentalen Eingangstor fast völlig zum Stillstand, wie in Zeitlupe überschritt ich die Schwelle, der letzte Kartenkontrolleur, gekleidet wie ein Soldat, muss mich für nicht ganz normal gehalten haben wegen meines verklärten, abwesenden Blickes und der seltsam langsamen Handbewegung, mit der ich ihm meine Eintrittskarte reichte. Kaum konnte ich noch einen Fuß vor den anderen setzen, mein Bewegungsablauf schien eingefroren. Ich trat durch das letzte Tor, ich schloss die Augen, sofort erschien auf der Lidprojektionsleinwand das Bild des Taj Mahal. Mein letzter Gedanke war: „Wenn du nun gleich deine Augen öffnest, hast du es tatsächlich, ganz echt, vor dir. Du sitzt sozusagen mit Madonna an einem Tisch und sie greift nach dir, ja, genau diese Madonna, die du sonst nur als Pünktchen auf der Bühne siehst, oder auf dem Bildschirm. Jetzt steht das schönste Gebäude vor dir und es trennt dich nur mehr ein Augenaufschlag von ihm. Mach sie auf – jetzt!“ Ich schwöre es: Das dachte ich mir. Ja, es klingt seltsam, es klingt schwachsinnig, es mag exaltiert klingen, aber so war es, so wahr mir Gott helfe.
Ich öffnete meine Augen. Und – ich sah nichts. NICHTS. Außer Nebel. Ich sah rund um mich herum schemenhaft Gestalten, offensichtlich Inder, durch eine dicke Nebelsuppe tapsen. Ich sah, wie ich später bei meinen Recherchen herausfinden sollte, das in wissenschaftlichen Texten beschriebene Agra-Nebel-Phänomen. Es handelt sich dabei um das unerklärliche urplötzliche Auftreten dichtesten Nebels. Und zwar tritt dieser Phänomennebel partiell auf, das heißt: vor dem monumentalen Eingangstor blauer Himmel, nach dem monumentalen Eingangstor undurchdringliches Grau. Aber damit wollte ich mich nicht zufrieden geben: Nach monatelangem Einlesen, nach der ganzen Reise, nach 25 Dollar...