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E-Book

Wie Musik wirkt

AutorDavid Byrne
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783104903392
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Mit ?Wie Musik wirkt? ermöglicht Musiker David Byrne den Lesern einen außergewöhnlichen Blick in die Welt der Musik - die Mischung aus Musikgeschichte, Autobiographie und Handbuch ist so vielseitig wie der Talking Heads-Gründer selbst David Byrne ist ein Vordenker des Pop und ihm immer einen Schritt voraus. Nach all den Jahren im Musikbusiness weiß er genau, wie unterschiedlich Musik in Kellerkneipen und Aufnahmestudios, auf afrikanischen Dorfplätzen und in den Opernhäusern dieser Welt klingt. Aber wie genau funktioniert und wirkt Musik - akustisch, wirtschaftlich, sozial und technologisch? Diesen Fragen widmet sich Byrne mit seinem Buch, einer lebendigen Mischung aus Musikgeschichte und Autobiographie, anthropologischer Untersuchung und erklärendem Handbuch. Mit Verve und Witz nimmt er die Leser mit auf eine inspirierende Reise. Ein Buch für alle Fans von David Byrne und den Talking Heads - und für alle, die sich für die Kunstform Musik interessieren. Enthält zahlreiche farbige Abbildungen. »David Byrne ist ein brillanter, origineller und exzentrischer Rockstar, und er hat ein Buch geschrieben, das zu seinen vielfältigen Talenten passt.« The New York Times »Ein gut recherchiertes und wahnsinnig fesselndes Stück Musikgeschichte« The Independent

David Byrne wurde in Schottland geboren und in Amerika berühmt. Als Frontsänger der 1975 von ihm mitbegründeten Band Talking Heads gelang ihm der Durchbruch, später war er auch als Solokünstler erfolgreich - als Musiker, aber auch als Filmproduzent, Autor und Fotograf. Das Multitalent hat zahlreiche Preise gewonnen, darunter einen Oscar und einen Golden Globe. David Byrne lebt in New York, wo es heute nicht zuletzt dank des Fahrradaktivisten Byrne (?Bicycle Diaries?, 2011) endlich Radwege gibt.

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Leseprobe

Wir sind alle Afrikaner


Percussion-Musik funktioniert sehr gut im Freien, wo die Leute sowohl tanzen als auch einfach herumlaufen können. Die für diese Art von Musik typischen, komplexen Rhythmen werden hier nicht von Nachhall erzeugenden Wänden zusammengestaucht, wie es etwa bei einem Konzert in einer Schulturnhalle passieren würde. Wer würde sich auch die Mühe machen, Musik zu schreiben, zu spielen oder ihr zuzuhören, wenn sie dort, wo sie aufgeführt werden soll, grässlich klänge? Niemand. Nicht einmal für eine Minute. Percussion-Instrumente hingegen kann man draußen spielen, diese Art der Musik kommt ohne Verstärker aus – auch wenn diese Option erst später aufkam.

Der nordamerikanische Musikwissenschaftler Alan Lomax vertritt in seinem Buch Folk Song Style and Culture die These, die Struktur dieser Musik und anderer ihres Typs – womit er Ensembles ohne Leadsänger oder Dirigenten meint – sei aus einer egalitären Gesellschaftsform entstanden, die sich in der Musik widerspiegele. Für uns mag der Hinweis genügen, dass wir es hier mit einer ganz anderen Dimension von Kontext zu tun hätten.[1] Mir gefällt der Gedanke, dass Musik und Tanz Bilder für die sozialen und sexuellen Sitten einer Gesellschaft sein können, aber das ist nicht das Thema dieses Buches.

Manche Wissenschaftler vertreten die Meinung, da die Instrumente auf dem Bild E oben alle aus lokal vorkommenden, leicht zugänglichen Materialien bestehen, sei es vor allem Bequemlichkeit, die die Menschen zu diesen Instrumenten greifen ließ (dabei schwingt eine gewisse Abwertung dieser Kulturen mit). Diese Meinung impliziert quasi, dass diese Instrumente und diese Art der Musik einfach das Beste waren, was diese Kultur unter den gegebenen Bedingungen zustande bringen konnte. Ich würde dem entgegenhalten, dass es im Gegenteil äußerst kunstfertig hergestellte, mit Bedacht gewählte Instrumente sind, die so gespielt wurden, dass sie einer bestimmten physischen, akustischen und sozialen Situation am besten entsprechen. Die Musik passt perfekt zu den Orten, an denen sie gehört wurde – sowohl in klanglicher wie auch in struktureller Hinsicht. Sie ist optimal auf diese Situation abgestimmt. Musik ist wie ein Lebewesen, das sich entwickelt, um eine zur Verfügung stehende Nische zu besetzen.

Dieselbe Trommelmusik würde sich in einer Kirche in akustischen Brei verwandeln. F Die westliche Musik des Mittelalters wurde in steinernen gotischen Kathedralen gespielt und in Klöstern und Kapellen, die von ihrer Architektur her ähnlich sind. In solchen Räumen ist die Zeit, die der Nachhall braucht, um von der Wand zurückzukommen, sehr lang – manchmal bis zu vier Sekunden –, wodurch eine gesungene Note lange weiterklingt und sich in die in der Luft hängende akustische Landschaft einfügt. Eine Komposition mit vielen Tonartwechseln würde hier unweigerlich Dissonanzen hervorrufen, weil die Töne sich überlappen und miteinander kollidieren würden – eine regelrechte akustische Massenkarambolage. Deshalb hat sich hier eine modale Struktur, oft mit lang gehaltenen Tönen, durchgesetzt, eben weil sie in diesen Räumlichkeiten am besten klingt. Sich langsam aufbauende Melodien, die Sprünge zwischen den Tonarten vermeiden, funktionieren hier wunderbar und tragen zu einem erhabenen Ambiente bei. Diese Art der Musik funktioniert also nicht nur auf dem akustischen Level sehr gut, sie hilft auch dabei, eine Stimmung zu erzeugen, die wir aufgrund unserer Erfahrungen als besonders spirituell empfinden. Afrikaner, deren spirituelle Musik oft rhythmisch sehr komplex ist, würden die aus diesen Räumen hervorgegangene Musik vielleicht nicht unbedingt mit Spiritualität verbinden. Für sie würden sich diese Klänge eher verwaschen und undeutlich anhören. Der Mythenforscher Joseph Campbell vertrat die Ansicht, Tempel und Kathedralen wirkten gerade deshalb so anziehend, weil sie räumlich und akustisch jenen Höhlen nachempfunden seien, in denen die Frühmenschen zum ersten Mal das Konzept einer übersinnlichen Welt entwickelten. Diese Vermutung scheint schlüssig, auch wenn wir natürlich kaum Belege für solche Urzeitmusik haben.

Es wird angenommen, die westliche Musik des Mittelalters sei deshalb so »simpel« strukturiert (es gibt in ihr fast keine Sprünge zwischen den Tonarten), weil die Komponisten es nicht verstanden, sich komplexerer Harmonien zu bedienen. Doch es gab für sie überhaupt keinen Grund, komplexere Harmonien zu verwenden, da sie sich in einer Kirche furchtbar angehört hätten. Aus Sicht der Kunst haben sie genau das Richtige getan. Anzunehmen, es gäbe so etwas wie einen »Fortschritt« in der Musik und dass die heutige Musik in irgendeiner Weise »besser« sei als früher, ist typisch für die hohe Meinung, die einige Zeitgenossen von sich selbst haben. Aber das ist ein Mythos. Kunst wird nicht »immer besser« – nur anders.

Bach spielte und komponierte in einer Kirche, die viel kleiner als eine Kathedrale war. G Der Nachhall muss dort ziemlich stark gewesen sein, wenn auch nicht so gewaltig wie in einer der gigantischen gotischen Kathedralen.

Die Musik, die Bach für diesen Ort komponierte, hörte sich dort wunderbar an. Der Raum selbst ließ die eingebaute Orgel voluminöser klingen und hatte zudem den netten Nebeneffekt, dass Fehler weniger stark herausstachen, während er die Tonleitern nach Lust und Laune hoch und runter spielte. Er modulierte ausgesprochen gerne, und der Ort gestattete es ihm. Bisher waren für solche Räume komponierte Stücke stets in einer Tonart geblieben. So konnten sie so verwaschen klingen, wie sie wollten. Der Raum konnte die akustische Qualität eines leeren Schwimmbeckens haben, auch das wäre kein Problem gewesen.

Vor kurzem besuchte ich ein Balkanmusik-Festival in Brooklyn, das in einer Halle stattfand, die der Kirche auf dem Bild nicht unähnlich war. Die Band spielte in der Mitte des Raumes, während das Publikum um sie herum tanzte. Der Sound hallte hier besonders lange nach, eine nicht unbedingt optimale Umgebung für die komplizierten Rhythmen der Balkanmusik, aber diese Art von Musik war ja auch nie für solche Räume gedacht gewesen.

Im späten 18. Jahrhundert spielte Mozart seine Stücke in den Musikzimmern seiner Förderer, die zwar prunkvoll, aber nicht eben gigantisch groß waren. H,I Daher hat er zumindest anfangs seine Stücke nicht für große Konzertsäle geschrieben, wo sie heute mittlerweile meistens aufgeführt werden, sondern für diese kleineren, intimeren Räumlichkeiten. Bei solchen Veranstaltungen war der Salon zumeist bis zum letzten Platz mit Zuhörern vollgestopft, deren Körper und ausladenden Kleider den Klang abgedämpft haben müssen. Dies kombiniert mit dem ganzen zeittypischen Zierrat und der bescheidenen Größe des Raumes (verglichen mit der immensen Größe einer Kathedrale oder auch nur einer normalen Kirche) trug dazu bei, dass man seine filigrane Musik in ihrem ganzen überbordenden Detailreichtum gut aufnehmen konnte.

Man konnte sogar dazu tanzen. Ich vermute, dass man schon damals anfing, nach einem Weg zu suchen, die Musik lauter zu machen, damit sie trotz der Tanzgeräusche, der stampfenden Füße und dem Geplapper der Zuhörer noch hörbar war. Damals gab es nur eine Möglichkeit, um lauter zu sein, nämlich das Orchester zu vergrößern, was genau zu dieser Zeit auch geschah.

Ungefähr zur selben Zeit gingen auch immer mehr Menschen in die Oper. Die Mailänder Scala wurde 1776 erbaut. Der ursprüngliche Bereich für das Publikum bestand aus einer Reihe von Kabinen anstelle der Sitzreihen, die heute dort stehen. J Das Publikum aß, trank und unterhielt sich während der Vorstellung. Das Verhalten der Zuschauer, das einen wichtigen Teil des Kontextes bildet, in dem Musik gespielt wird, war damals wirklich sehr anders als bei einem heutigen Opernbesuch. Damals quatschte man miteinander und schrie sich während der Vorstellung über alle Köpfe hinweg Sachen zu. Man brüllte auch die Künstler auf der Bühne an, um dem Wunsch nach besonders populären Arien Nachdruck zu verleihen. Wenn den Zuschauern ein Stück besonders gut gefiel, dann wollten sie es noch einmal hören – und zwar sofort! Die Stimmung war wohl eher so wie im CBGB, und weniger, wie man es aus den Opernhäusern von heute gewöhnt ist.

Die Scala und andere Opernhäuser aus dieser Epoche sind ziemlich kompakt gebaut – viel enger als die großen Opernsäle, die wir heute überall in Europa und Amerika haben. Die Tiefe der Scala und vieler anderer Häuser jener Zeit ist vergleichbar mit dem Highline Ballroom und dem Irving Plaza in New York. Dafür ist die Scala höher und hat eine größere Bühne. Der Sound in solchen Sälen ist stark verdichtet (anders als in den großen Konzertsälen von heute). Ich bin in einigen dieser alten Häuser aufgetreten, und wenn man die Lautstärke nicht zu hoch dreht, funktioniert das Ambiente erstaunlich gut, allerdings wohl nur für gewisse Formen der zeitgenössischen Popmusik.

Man muss sich nur das Opernhaus anschauen, das Wagner sich in den 1870er Jahren in Bayreuth bauen ließ. K Wie man sehen kann, ist es nicht besonders groß. Nicht viel größer als die Scala. Wagner hatte die Chuzpe, den Bau eines Opernhauses durchzusetzen, das genau für die Art von Musik zugeschnitten sein sollte, die ihm vorschwebte – und damit war nicht gemeint, dass das Haus mehr Sitze als üblich haben sollte, wie es so manch cleverer Unternehmer von heute wohl tun würde. Ganz im Gegenteil wurde der Raum für das Orchester auf Kosten der...

Blick ins Buch

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