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E-Book

Wie unendlich feinere Sinne muss ein Maler haben

Franz Marcs "Tiger"

AutorChristof L. Diedrichs
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783743185166
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,49 EUR
Was eigentlich ist 'Moderne Kunst'? Wodurch zeichnet sie sich aus und wie funktioniert sie? Anhand von Franz Marcs Bild "Tiger" (1912) - einer 'Ikone' der Modernen Kunst - geht das Buch diesen Fragen nach und bleibt dabei doch immer eng bei dem Bild. Mit einer einfach nachvollziehbaren Methodik und in gut verständlicher Sprache (notwendige Fachbegriffe werden im Glossar erklärt) nimmt der Autor einerseits das Bild und die vom Maler verwendeten künstlerischen Mittel ernst, andererseits zeigt er, wie das Postulat Moderner Kunst, offen zu sein für individuelle, subjektive Deutungen durch den jeweiligen Betrachter, erfüllt werden kann, ohne in unbefriedigende Beliebigkeit abzugleiten. Ganz im Gegenteil: Am Ende stehen Denkanstöße, die weit über dieses Bild hinaus weisen. Franz Marcs "Tiger" ist eines seiner berühmtesten Bilder, aber außer dass es 'schön' sei und sich vor allem durch seine auffällige Farbigkeit auszeichnet, weiß kaum jemand etwas darüber zu sagen. Das Buch geht wesentlich weiter.

Christof L. Diedrichs ist promovierter Kunsthistoriker und als solcher u.a. als freier Autor tätig. Seit einer Reihe von Jahren engagiert er sich besonders aktiv in der Erwachsenenbildung. Von 2008 bis 2014 war er Leiter und Dozent für Kunstgeschichte an der Victor-Klemperer-Akademie, Freiburg i.Br. ("Studium 50plus"). In dieser Zeit hat er ein neues Konzept der Auseinandersetzung mit Kunst für interessierte Laien entwickelt, dessen Grundlage die selbstbewusste, reflektierte Aktivität des Betrachters gegenüber der oft begegnenden Fixiertheit auf erklärende Literatur ist. Über die Buchreihe macht er dieses Konzept auf gut verständliche Weise einem größeren Publikum zugänglich.

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Leseprobe

– EINLEITUNG –
KUNST DER MODERNE


Der Begriff „Moderne Kunst“ wird von Kunstliebhabern und kunsthistorischen Fachleuten in unterschiedlicher Weise verwendet. Die einen meinen damit zeitgenössische, also aktuelle Kunst des frühen 21. Jahrhunderts, andere die Kunst des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts, für viele ist es die Kunst van Goghs, Gauguins, Monets, August Mackes, Franz Marcs, Wassily Kandinskys und Paul Klees, also jene Kunst, die gewöhnlich als „Klassische Moderne“ bezeichnet wird.

Der weiteste und am besten begründete Begriff von „Moderner Kunst“ umfasst die Kunst zwischen der Zeit um 1800 und der Mitte des 20. Jahrhunderts, etwa bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Wesentlich für die Entscheidung, den Beginn der Moderne um 1800 anzunehmen, war die Beobachtung, dass sich zu dieser Zeit die Gesellschaft und mit ihr die Kunst – ihre Bedingungen und ihre Formen – in grundlegender Weise geändert haben. Noch die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts steht auf jenen Fundamenten, die am Ende des 18. Jahrhunderts gelegt worden sind und die nicht allein den Kunstbetrieb, sondern das Verständnis von Kultur überhaupt vollständig verändert haben. Ohne diese Fundamente sähe unsere Kultur heute anders aus.

Was ist die Moderne in der Kunst?

Alles begann mit der Aufklärung, deren führende Köpfe Montesquieu († 1755), Voltaire († 1778), Jean-Jacques Rousseau († 1778) und Immanuel Kant († 1804) waren. Diese beriefen sich ihrerseits auf die kurz zuvor entstandene, neue philosophische Denkweise vor allem von René Descartes († 1650), Spinoza († 1677), Gottfried Wilhelm Leibnitz († 1716) und anderen.

Im Unterschied zu den vorhergehenden Jahrhunderten, die unter der Führung der Kirche das Heil des Menschen ausschließlich von der Gnade Gottes abhängig gesehen hatten, wollten die Aufklärer unter dem Wahlspruch „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ den Menschen nun auf dem Weg der Vernunft zum „Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ führen.1 Sie verpflichteten den Menschen auf seine eigenen, geistigen Fähigkeiten, auf Vernunft und Verstand, und zertrümmerten damit das alte, auf der christlichen Offenbarungsreligion fußende Weltbild. Alles Unerklärliche und auch manches Erklärbare auf das Einwirken Gottes zurückzuführen, dessen Ratschluss bekanntlich unergründlich ist, war es, was Kant mit der geistigen Unmündigkeit des Menschen gemeint hatte: nicht weiter fragen zu dürfen, die Antworten statt in Natur und Vernunft in der Bibel und den Traktaten der Theologen suchen zu sollen.

Allerdings zertrümmerte die Aufklärung gemeinsam mit dem Glauben an einen Schöpfergott und an die Prädestination1 auch jede Gewissheit in Bezug auf die wichtigsten Fragen der menschlichen Existenz – woher kommen wir? wer sind wir? wohin gehen wir? Von nun an musste jeder Mensch diese Fragen ganz individuell für sich beantworten.

Historisch folgte dieser geistigen Umwälzung der Aufklärung kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert die Französische Revolution und in ihrer Folge die Suche nach neuen Staats- und Regierungsformen jenseits des Gottesgnadentums, deren neuartiges, umstürzlerisches Kennzeichen es sein sollte, dass in ihnen alle Menschen gleichberechtigt wären. Dieses Ringen wird das 19. Jahrhundert in entscheidender Weise prägen.

Darüber hinaus ist das 19. Jahrhundert die Zeit der immer schneller fortschreitenden Industrialisierung, die die Menschen vom Land in die Städte zog und sie zugleich dem Arbeitsprozess entfremdete. Großstädte entstanden als ein neues Phänomen: Paris, London, später Berlin. Neue, gesellschaftliche Aufgaben waren zu bewältigen, die bei der Schaffung von Wohnraum begannen und bis zu Ernährung, Hygiene und medizinischer Versorgung reichten. Schließlich betrafen sie auch jenes sich im frühen 20. Jahrhundert als verhängnisvoll erweisende Vakuum, das durch das Schwinden der Religion, damit zusammenhängend der Institution der Kirche, entstanden war.

Konsequenzen für die Kunst

Gerade diese Institution, die Kirche, war es jedoch gewesen, in deren Auftrag Künstler in dem Jahrtausend seit der Herrschaft der Karolinger weit überwiegend gearbeitet hatten. Die Kirche und die Herrscher, die im Zuge der Französischen Revolution entmachtet wurden, seit dem 15. Jahrhundert auch reich gewordene Bürger, die höfische Repräsentationsformen für sich einzusetzen versuchten, waren die Auftraggeber für die Künstler gewesen, welche sie nicht selten über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg gebunden und damit ihre Existenz gesichert hatten. Die Kunst hatte den Auftraggebern Möglichkeiten der Selbstdarstellung und der Jenseitsvorsorge geboten und diese hatten sie in ihrem Sinn eingesetzt. Als Gegenleistung hatten sich die Künstler, die für sie arbeiteten, einer verhältnismäßig soliden Existenz erfreuen können. Der Auftrag für ein größeres Gemälde oder gar einen Altar mit mehreren Tafeln sicherte den Lebensunterhalt des Malers, seiner Familie und seiner Werkstatt nicht selten über Jahre hinweg.

Mit den gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution, vor allem durch das Zurückdrängen des Einflusses der Kirche und der Höfe, veränderte sich die Situation der Kunst und damit notwendigerweise auch der Künstler. Zuvor hatte die Kunst im weitesten Sinn im Dienst von Predigt und religiöser Kontemplation gestanden oder mit Hilfe mythologischer Themen an überzeitliche Werte erinnert und Persönlichkeiten, die sich diesem Kanon in besonderer Weise verpflichtet fühlten (oder zumindest diesen Eindruck erwecken wollten), gefeiert. Von nun an waren es nicht mehr die religiösen und politischen Instanzen, die über Kunstwürdigkeit und Kunstwert entschieden, sondern die Künstler selbst. Kein Wunder, dass ein Bild wie Gustave Courbets Die Steineklopfer (entstanden 1849; 1945 verbrannt; Abb. 2) beim Publikum Anstoß erregte. Schon die Wahl des Motivs musste angesichts dessen, was die Ausstellungsbesucher gewohnt waren, irritierend wirken: Ein Straßenarbeiter – heute würden wir sagen: ein Bauarbeiter – war in ihrem Verständnis weder heroisch noch in anderer Weise beispielhaft; es war daher nicht nachvollziehbar, warum er zum Thema eines Kunstwerks gemacht werden sollte. Dass Courbet aus seiner persönlichen, von sozialen Interessen geprägten Überzeugung heraus mit seiner Kunst etwas anderes erreichen wollte, als exemplarisch Helden im Schlachtgetümmel zu feiern, blieb für das Publikum unverständlich.

Eben hieran wird allerdings deutlich, dass die Künstler in der neuen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in einem existentiellen Dilemma steckten:

  • entweder schufen sie Kunstwerke, die vornehmlich ihre eigenen, nicht selten sozialen oder gar kunstimmanenten Ziele* verfolgten, für den gewöhnlichen Betrachter aber kaum nachvollziehbar waren, weil sie die gewohnten Pfade der Kunstgeschichte und der Kunstrezeption verließen;
  • oder sie orientierten sich an den Erfordernissen und Wünschen des Markts, schauten dem Publikum auf den Mund und – überlebten, wurden gelegentlich sogar berühmt und reich, auch wenn sie im Gegenzug von der Kunst-Geschichtsschreibung nicht mehr als ‚echte Künstler‘ anerkannt wurden (siehe unten: Émile Zola).

Vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts und damit vor der Moderne hatten die Künstler also gewissermaßen in festen Arbeitsverhältnissen zu ihren Auftraggebern gestanden. Es ist nur logisch, dass diese nicht selten massiven Einfluss auf die künstlerische Arbeit nahmen; im Zweifelsfall lehnten sie ein Werk, das ihnen nicht gefiel, ab und der Maler musste die Arbeit ein zweites Mal ausführen, selbstverständlich ohne zusätzliche Vergütung. Mit dem Entstehen eines Kunstmarkts seit der Zeit um 1800 fielen die Künstler aus dieser Abhängigkeit heraus und betraten eine Bühne, auf der sie ganz auf sich gestellt waren. Nun schufen sie nicht mehr im Auftrag und zu einem vorher festgelegten Preis. Stattdessen malten, gravierten, bildhauerten, schrieben oder komponierten sie nun ohne Vorgaben, ohne die Gängelung eines Auftraggebers – allerdings auch ohne die Gewissheit, für ihre Leistung am Ende bezahlt zu werden.

Wer seine Bilder verkaufen, von seiner Kunst leben und Frau und Kinder ernähren können wollte, war von nun an gut beraten, sich am Publikumsgeschmack zu orientieren und sich keine Extravaganzen zu leisten. Andernfalls riskierte er, dass seine Bilder – zumindest zu seinen Lebzeiten – unverkäuflich blieben, wie es nicht nur Vincent van Gogh (1853–1890) und Paul Gauguin (1848–1903) erging, die bekanntlich beide kaum genug Geld verdienten, um buchstäblich satt zu werden.

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