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Will in der Welt

Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde

AutorStephen Greenblatt
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783641156145
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Shakespeare ist wohl der bekannteste Dramatiker aller Zeiten, doch über sein Leben wissen wir so gut wie nichts. Kein Brief blieb von ihm erhalten, wir kennen nur ein paar dürre Lebensdaten, vereinzelte Schriftsätze aus Prozessen, die er betrieb - und ein überaus nüchternes Testament, in dem er seiner Frau sein zweitbestes Bett vermacht. In seiner hochgelobten Biographie versucht Stephen Greenblatt mit detektivischem Scharfsinn, die Lücken dieser Lebensgeschichte zu füllen und hinter das Geheimnis zu kommen, wie aus einem talentierten Jungen aus einer englischen Kleinstadt der größte Dramatiker aller Zeiten werden konnte, kurz: wie Shakespeare zu Shakespeare wurde.

Stephen Greenblatt ist Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Harvard Universität. Er ist einer der angesehensten Forscher zu Shakespeares Werk sowie zur Kultur und Literatur in der Renaissance. Greenblatt ist Herausgeber der Norton Anthology of English Literature sowie Autor mehrerer Bücher, darunter die hochgelobte Shakespeare-Biographie Will in der Welt (2004). Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u.a. mit dem National Book Award und dem Pulitzerpreis für sein Werk Die Wende (2012). Bei Siedler erscheinen zuletzt Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit (2018) und Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert (2018).

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Leseprobe

1


Urszenen


Stellen wir uns vor, daß Shakespeare schon seit seiner Kindheit von Sprache fasziniert, von der Magie der Wörter besessen war. Für diese Obsession finden sich bereits in seinen frühesten Schriften überwältigende Belege, und so kann man mit großer Sicherheit annehmen, daß sie zeitig einsetzte, vielleicht schon in dem Augenblick, als ihm seine Mutter das erste Mal einen Kinderreim ins Ohr flüsterte:

Pillycock saß auf dem Berg ganz allein,
Und wenn er nicht fort ist, wird er noch dort sein.

(Genau dieser Kinderreim ging ihm noch Jahre später im Kopf herum, als er König Lear schrieb. »Pillicock saß auf Pillicocks Berg«, singt der verrückte arme Tom.) Er hörte in den Klängen von Wörtern Dinge, die andere Menschen nicht hörten; er stellte Verbindungen her, die andere nicht herstellten; und ihn überkam ein Vergnügen, das ganz ihm eigen war.

Das war eine Liebe und ein Vergnügen, wie sie das elisabethanische England wecken, reich befriedigen und belohnen konnte, denn diese Kultur schätzte blumige Beredsamkeit, sie förderte bei Predigern und Politikern einen Sinn für wortreiche Prosa und erwartete selbst von Menschen mit bescheidenen Fähigkeiten und nüchterner Sichtweise, daß sie Gedichte schrieben. In einem seiner frühen Stücke, Liebes Leid und Lust, schuf Shakespeare einen lächerlichen Lehrer namens Holofernes, mit dem er einen Unterrichtsstil parodierte, der für die meisten Zuschauer unmittelbar wiederzuerkennen gewesen sein muß. Holofernes kann nicht von einem Apfel reden, ohne hinzuzufügen, daß er »hanget gleich einem Juwel in dem Ohre coeli, der Luft, des Firmamentes, der Feste – und plötzlich fället … auf das Angesicht terrae, des Bodens, des Grundes, des Erdreichs« (IV.2). Holofernes ist die komische Verkörperung eines Lehrplans, der als eines seiner wichtigsten Lehrbücher Erasmus’ Schrift De copia (»Über die Fülle«) verwendete, ein Buch, das Schülern beibrachte, wie man auf 150 verschiedene Weisen (natürlich auf lateinisch) sagt: »Danke für deinen Brief.« Zwar verspottete Shakespeare sehr geschickt dieses manische Wortspiel, aber er nahm es auch überschwenglich mit seiner eigenen Stimme und in seiner eigenen Sprache auf, so etwa, wenn er in Sonett 129 schreibt: Lust »ist Meineid, Mord, blutschändliche Verblendung, / Ausschweifung, Wildheit, Grausamkeit, Verrat«. Irgendwo hinter diesem leidenschaftlichen Ausbruch verborgen liegen die vielen Stunden, die ein kleiner Junge in der Schule damit zubrachte, lange Listen lateinischer Synonyme zusammenzustellen.

»Alle Männer«, schrieb Königin Elisabeths Lehrer Roger Ascham, »erstreben, ihre Kinder Latein sprechen zu lassen.« Die Königin sprach Latein – sie gehörte zu den wenigen Frauen des Landes mit Zugang zu dieser Fertigkeit, die für internationale Beziehungen von so entscheidender Bedeutung war –, und ihre Diplomaten, Ratgeber, Theologen, Geistlichen, Ärzte und Juristen taten es ebenfalls. Doch die Beherrschung der alten Sprache beschränkte sich nicht auf diejenigen, die von ihr tatsächlich praktischen, beruflichen Gebrauch machten. »Alle Männer erstreben, ihre Kinder Latein sprechen zu lassen«: Im 16. Jahrhundert wollten auch Maurer, Wollhändler, Handschuhmacher und wohlhabende Freibauern (yeomen) – Menschen ohne formale Bildung, die Englisch weder lesen noch schreiben konnten, von Latein ganz zu schweigen –, daß ihre Söhne den Ablativus absolutus beherrschten. Latein war Kultur, Zivilisiertheit, sozialer Aufstieg. Es war die Sprache des elterlichen Ehrgeizes, die universelle Währung sozialen Begehrens.

So kam es, daß Wills Vater und Mutter ihrem Sohn eine regelrechte klassische Bildung zukommen lassen wollten. John Shakespeare selbst scheint des Lesens und Schreibens allenfalls teilweise kundig gewesen zu sein. Als Inhaber wichtiger städtischer Ämter in Stratford-upon-Avon konnte er wahrscheinlich lesen, aber sein ganzes Leben lang setzte er an die Stelle seines Namens nur ein Zeichen. Dem Zeichen nach zu urteilen, das Mary Shakespeare, die Mutter von Englands größtem Autor, auf juristischen Dokumenten machte, konnte sie ihren Namen ebensowenig schreiben, wenngleich auch sie sich möglicherweise eine gewisse rudimentäre Lesefertigkeit angeeignet hatte. Offensichtlich waren die Eltern aber zu dem Entschluß gelangt, daß das für ihren ältesten Sohn nicht ausreichen würde. Ohne Zweifel fing das Kind mit einem hornbook an – einer hölzernen Tafel, die mit einem Blatt Pergament bedeckt war, auf das die Buchstaben und das Vaterunser gedruckt waren und das dann mit einer dünnen Schicht aus durchscheinendem Horn überzogen worden war – und mit dem Standardtext der petty school, wie die Grundschule hieß, dem ABC samt Katechismus. (In dem Stück Die beiden Veroneser ächzt ein Liebender »wie ein Schulknabe, der sein Abc-Buch verloren hat«.) Bis dahin erwarb Will nur Kenntnisse, die sein Vater und womöglich auch seine Mutter besaßen. Doch wurde er wahrscheinlich im Alter von sieben Jahren auf die freie grammar school von Stratford geschickt, in der die völlige Vertiefung ins Lateinische zentrales Unterrichtsprinzip war.

Diese Schule trug den Namen King’s New School, aber sie war nicht neu, und sie war auch nicht von dem König, den man in ihrem Namen ehrte, Elisabeths früh verstorbenem Stiefbruder Eduard VI., gegründet worden. Wie so viele andere elisabethanische Institutionen trug auch diese eine Maske, die dazu bestimmt war, Ursprünge zu verbergen, die vom Katholizismus befleckt waren. Im frühen 15. Jahrhundert von der städtischen Heiligkreuz-Gilde erbaut, wurde sie 1482 von einem der katholischen Kaplane der Stadt als freie Schule gestiftet. Das Schulgebäude – das mehr oder weniger unversehrt erhalten ist – bestand aus einem einzigen großen Raum über dem Rathaussaal, den man über eine Außentreppe erreichte, die einst eine Ziegelüberdachung trug. Womöglich gab es Trennwände, besonders für den Fall, daß ein Hilfslehrer ganz kleinen Kindern das ABC beibrachte, aber die meisten Schüler – etwa 42 Knaben im Alter von sieben bis 14 oder 15 Jahren – saßen auf harten Bänken mit Blick auf den Schulmeister, der an der Stirnseite des Raumes in seinem großen Stuhl thronte.

Den Statuten zufolge war es dem Stratforder Schulmeister nicht gestattet, für den Unterricht von einem der Schüler Geld anzunehmen. Er sollte jedes männliche Kind unterrichten, das die Eignung besaß – das sich also die Grundbegriffe des Lesens und Schreibens angeeignet hatte –, mochten auch »dessen Eltern noch so arm und die Knaben noch so ungeschickt« sein. Dafür erhielt er freies Logis und ein jährliches Gehalt von 20 Pfund, eine beträchtliche Summe, die so ziemlich das Maximum des Gehalts darstellte, mit dem elisabethanische Lehrer rechnen konnten. Die Stadt Stratford nahm die Ausbildung ihrer Kinder ernst: Für Absolventen der freien Lateinschule gab es besondere Stipendien, die es begabten Schülern mit beschränkten Mitteln ermöglichten, die Universität zu besuchen. Das bedeutete freilich keine kostenlose Schulbildung für alle. Hier wie überall sonst waren Mädchen sowohl von der Lateinschule als auch von der Universität ausgeschlossen. Die Söhne der ganz Armen – die einen großen Teil der Bevölkerung ausmachten – gingen ebensowenig zur Schule, denn von ihnen erwartete man, daß sie schon in jungen Jahren arbeiteten, und außerdem wurde zwar kein Schulgeld verlangt, aber es entstanden doch Kosten: Üblicherweise hatten die Schüler Kiele für Federn, ein Messer zum Schärfen der Kiele, im Winter Kerzen sowie – eine teure Ware – Papier mitzubringen. Söhnen von Familien mit einigem Vermögen, so bescheiden es auch sein mochte, stand dagegen eine gründliche Schulbildung offen, die das Schwergewicht auf die klassischen Autoren legte. Die Stratforder Schulakten aus dieser Zeit sind zwar nicht erhalten, aber so gut wie sicher besuchte Will diese Schule und erfüllte so den Wunsch seiner Eltern, daß er Latein lernen sollte.

Im Sommer begann der Schultag um 6 Uhr früh, im Winter, als Konzession an Dunkelheit und Kälte, um 7 Uhr. Um 11 Uhr gab es eine Mittagspause – da lief Will vermutlich die knapp 300 Meter nach Hause –, anschließend wurde der Unterricht wieder fortgesetzt und dauerte bis um 17.30 oder 18 Uhr. Sechs Tage in der Woche, zwölf Monate im Jahr. Der Lehrplan machte kaum Zugeständnisse an das Spektrum menschlicher Interessen: keine englische Geschichte oder Literatur, keine Biologie, Chemie oder Physik, keine Volkswirtschaft oder Soziologie, nur oberflächliche Kenntnisse im Rechnen. Es gab Unterricht in den christlichen Glaubensartikeln, aber der dürfte von den Lateinstunden kaum zu unterscheiden gewesen sein. Der Unterricht war im übrigen keineswegs sanft: Auswendiglernen, erbarmungloser Drill, endlose Wiederholungen, jeden Tag Textanalyse, kunstvolle Übungen in Imitation und rhetorischer Variation, und hinter alledem stand die Androhung von Gewalt.

Jedem war klar, daß Lateinlernen untrennbar mit Prügeln verbunden war. Ein zeitgenössischer Erziehungstheoretiker äußerte die Vermutung, daß das Gesäß zu dem Zweck geschaffen sei, das Erlernen des Lateins zu erleichtern. Ein guter Lehrer war per definitionem ein strenger Lehrer: Einen Ruf als Pädagoge erwarb man sich durch die Heftigkeit der ausgeteilten Schläge. Es handelte sich um eine altehrwürdige und eingefleischte Praxis: Als Teil seines Abschlußexamens in Cambridge mußte ein Grammatikabsolvent im Spätmittelalter seine pädagogischen Fähigkeiten dadurch unter Beweis stellen, daß er einem dummen oder widerspenstigen Knaben eine...

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