4. Lesererwartungen an eine Wir-Erzählung
Viele Bewegungen der Vergangenheit beruhen auf religiösen oder politischen Gruppierungen, Individuen gaben oftmals „nur“ einen Anstoß zu bestimmten Weltbildern oder Handlungen. Werden diese aber nicht von der Gemeinschaft aufgenommen und verstärkt, bleiben sie ohne Einfluss. Angesichts der unabstreitbaren Wichtigkeit von Gruppen und deren ungeheuren Einflussnahme drängt sich die Frage auf: Warum wurden bisher so wenige Romane aus der Sicht eines Kollektivs verfasst? Erzählungen aller Art haben die starke Tendenz, unerhörte Geschehnisse, die ganze Gruppen, Gemeinschaften und Völker betreffen, aus der Sicht und mittels eines Einzelschicksals zu schildern.
Dennoch findet sich auch schon ein frühes Gegenbeispiel bei den Anfangsversen des Nibelungenlieds. „Uns ist in alten mæren wnd(er)s vil geseit / von heleden lobebæren võ grozer arebeit […].“ [39] Hier scheint ein Kollektiv von alten Geschichten zu erzählen, die es zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt. Warum also hat sich die Erzählweise, die wir sogar schon im Nibelungenlied vorfinden können nicht durchgesetzt?
Schauen wir beim Nibelungenlied jedoch genauer hin, folgt nach dieser allgemeinen Einleitung ein Wechsel in der Erzählweise. Während zuvor durch das Einschließen in einen bestimmten Zusammenhang das Interesse der Zuhörer oder Leser geweckt wurde, wird nun die eigentliche Geschichte über Kriemhild in der dritten Person Singular berichtet. So versucht der hinter der Erzählung stehende Sprecher die Zuhörer in diesem Fall durch die Verwendung eines inklusiven „wirs“ einzuschließen. Dies ist nach wie vor, gemeinsam mit der Ich-Erzählung, die häufigste gewählte Form.
Einige Gründe hierfür findet man bei möglichen Lesererwartungen. Die unklare Zusammensetzung des „wir“, die unnatürlichen Sprecherstimmen kollidieren mit den Vorstellungen der Leser über die Beschaffenheit der Welt.
4.1. Die Offenheit bezüglich des Numerus und der Referenz
Sprachwissenschaftlich betrachtet, fällt die Offenheit des „wir“ bezüglich des Numerus und Genus schwer ins Gewicht, ebenso auch die partiellen Schwierigkeiten ohne Äußerungssituation die gemeinten Entitäten auszumachen. Sagt ein Sprecher „ich“, so kann man seine Aussage bis auf weiteres erst einmal genauer einstufen. Als physische Referenz fehlt der Sprecher jedoch im literarischen Werk. Da diese Form in der ersten Person Singular steht, wissen wir über die Referenz hinaus dennoch die Anzahl der gemeinten Personen (Einzahl). Verwendet ein Sprecher einen Ausspruch, der Informationen über eine dritte Person („er“/„sie“) enthält, finden wir schon zwei Personen involviert: den Sprecher („ich“), der eventuell unbekannt bleibt und die maskuline oder feminine Person , auf die jener referiert.
Während also singuläre Formen in einer Erzählung in groben Zügen erfasst werden können, zeigt sich die Form „wir“ bezüglich des Genus und des Numerus als offen. Der Leser ist auf zahlreiche Zusatzinformationen bezüglich der Person angewiesen, um zumindest einen ersten Eindruck von dem Erzähler zu erhalten und sich zu ihm in ein Verhältnis setzen zu können.
Sagt ein Sprecher „wir“, dann haben wir es mit einer der fünf besprochenen Bezugssituationen zu tun (vgl. Kapitel 3.1), in der ein Sprecher auf sich selbst und/oder auf eine unbestimmte Anzahl weiterer Personen referieren kann. Die einzige Beschränkung bezüglich der Anzahl ist die, dass mindestens zwei Personen involviert sein müssen. Jedoch kann kein Personenlimit nach oben hin festgesetzt werden. Auch muss ein Sprecher sich mit der Gruppe, auf die er Bezug nimmt, auf irgendeine Weise verbunden fühlen. Die kleinstmögliche Aussage sei daher „wir beide“ und die größtmögliche „wir Menschen auf der Erde“ oder gar „wir Lebewesen“ (Wobei letztere schon nicht mehr sinnvoll erscheint, weil auf keine homogene Gruppe referiert werden kann.).
Diese Unbestimmtheit der Anzahl und des Bezuges, wird im Folgenden auch noch in der Literatur einige Probleme aufwerfen. So gibt es manchmal Schwierigkeiten bei der Ortung der Erzählinstanz, vor allem aber bei der Analyse der Erzählperspektive.
Durch die unpräzisen Bedingungen des Plurals wird in einigen Sprachen noch eine zusätzliche Unterscheidung, der wahlweise Ein- oder Ausschluss einer dritten Person oder mehrerer dritter Personen, vorgenommen. Neben einer Unterscheidung von Einzahl und Mehrzahl findet sich auch eine Deklination von Personalpronomen im Dual (selten auch Trial), die zum Einbezug von dritten Personen genutzt werden. In zahlreichen Sprachen gibt es ein „wir“, das sich auf eine Zweizahl und eines, das sich auf einen offenen Plural, bezieht. Im Deutschen entspricht ersteres am ehesten der Zusatz „wir beide“ dem Dual, der als Rest des westgermanischen Duals angesehen werden kann.
4.2. Die Nicht-Koppelbarkeit von Bewusstseinen
Was aber bewirkt der Ausspruch „wir“, wenn eine Gruppe damit auf sich Bezug nimmt? Nach Ansicht von Soziologen bildet eine Gruppe lediglich ein kommunikatives Konstrukt mit ähnlichen Zielen. Dabei werden die einzelnen Gruppenmitglieder nicht zu der Gruppe an sich und bilden ein Bewusstsein aus, sondern bleiben ein autonomes Individuum.
Dies deckt sich mit allgemeinen Grundannahmen bezüglich des menschlichen Seins, denen diese Vorstellungen vermutlich zugrunde liegen. In diesem Kontext ist vor allem die Idee der Individualität und der Nichtkoppelbarkeit von menschlichen „Bewusstseinen“ interessant. Individualität bedeutet nicht nur Selbstentfaltung, sondern auch Einzigartigkeit der eigenen Person, samt ihrer Wahrnehmung, ihres Denkens, Handelns und Fühlens. Nach jahrzehntenlanger Erforschung des Bewusstseins und Unterbewusstseins und damit verbundenen zahlreichen Erkenntnissen über generell menschliches Denken und Fühlen, gilt nach wie vor, dass es keinen Menschen gibt, der exakt so denkt, fühlt und wahrnimmt, wie ein anderer.
Damit verbunden ist auch die Vorstellung, dass die Möglichkeit einer synchronen Wahrnehmung, Denk- und Handlungsweise ausgeschlossen ist. Auch wenn zufällig von zwei Personen ein Satz spontan gleichzeitig ausgesprochen werden kann, ist es unmöglich – so nehmen wir es zumindest an – dass dies anhält (Es sei denn, es würde sich um auswendig gelernte Sätze handeln.). Es würde nämlich bedeuten, dass diese Menschen entweder genau dasselbe denken würden, oder aber, dass deren Gehirne vor ihren Äußerungen miteinander kommunizieren würden. Die Vorstellung einer totalen Gleichschaltung der Gedanken und Gefühle erweckt den Eindruck einer maschinellen Automatik oder einer Computervernetzung. Die Kopplung einzelner „Bewusstseine“, wie etwa die Vernetzung zweier Computer, ist uns aber (noch) nicht möglich. Denn „Gehirne können nicht kommunizieren, nicht einmal das Bewusstsein kann kommunizieren“[40], bemerkt Niklas Luhmann treffend.
Die in der Kommunikation verwendeten Begriffe erhalten durch Kommunizieren ein bestimmtes Unterscheidungs- und Bezeichnungspotential, das aber nicht mit der Referenz in der Wirklichkeit identisch ist. So wissen wir, dass das Wort „Mensch“ beispielsweise kein Mensch ist. Begriffe „sind nichts anderes als das, was sie in der Kommunikation bewirken.“[41]
Analog für das „wir“ bedeutet dies, dass eben das „wir“ keine Gruppe ist, sondern nur, dass damit aber eine Gruppe assoziiert wird und ein Sprecher durch die bestehende Konvention der Sprache auf solche referieren kann. Menschen schließen also an das Bezeichnungspotential der Kommunikation an. Eine Vermittlung des Bewusstseins an ein anderes Bewusstsein ist jedoch weiterhin nicht möglich. Wenn zwei Menschen die Erklärungen des andern nicht verstehen, ist das ein Indiz dafür, dass hinter den Unterscheidungs- und Bezeichnungskonventionen noch weitere Dimensionen vorhanden sind, die sich mit denen des anderen Bewusstseins nicht decken. Auch kann es durch die unmögliche Verbindung von zwei Entitäten ein wirkliches, verbundenes „wir“ geben, das als Sprecher oder wahrnehmende Instanz auftritt.
Diese Kerngedanken der Systemtheorie Luhmanns nimmt Jan Fuhse in seiner soziologischen Studie „Unser „wir“ – ein systemtheoretisches Modell von Gruppenidentitäten“[42] auf und verwendet sie zu einer Analyse von Gruppen und deren Identität. Zentral ist hier die Annahme, dass ein psychisches (Kommunikation) und ein soziales System (Gruppe) nicht fusionieren können. Ausschlaggebend an der Gruppe sind somit nicht die Menschen, sondern deren Kommunikation.
Damit ist ausgeschlossen, daß verschiedene Bewußtseine sich in Gruppenidentitäten der sonstigen kollektiven Identitäten tatsächlich ‚verwachsen’, wie oft naiv angenommen wird. Keine Vorstellung von Gemeinsamkeit, kein ‚Wir-Gefühl’ kann dafür sorgen, daß Gedanken nicht mehr individuell produziert werden. Die Begriffe ‚Gruppenidentität’ und ‚kollektive Identität’ bezeichnen vielmehr kommunikative Konstrukte. Sie dienen dazu, in der Kommunikation bestimmte Sachverhalte zu beschreiben und – im Falle der Gruppenidentität – den Gruppenzusammenhalt immer...