Jonathan Safran Foers Debütroman Everything Is Illuminated ist eine komplexe Komposition aus einer Vielfalt an Erzählstimmen, Briefen, Chroniken und einer Anzahl an weiteren Schriftzeugnissen. Die unterschiedlichen narrativen Beiträge, so isoliert sie zunächst nebeneinander zu stehen scheinen, fließen alle ineinander über, bedingen, ja verändern sich gegenseitig, so dass sie sich letzten Endes als großes Ganzes zusammenschließen.
Vordergründig besteht der Roman aus drei Erzählebenen, welche sich von Kapitel zu Kapitel abwechseln. Die Haupterzählung und Rahmenhandlung bildet die Geschichte von einem jungen jüdischen Amerikaner, Jonathan, der in die Ukraine reist, um dort nach seinen familiären Wurzeln zu suchen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive seines Übersetzers, Alexander, der zusammen mit seinem Großvater Jonathan auf dessen Suche begleitet. Alexanders Erzählperspektive zeichnet sich vor allem durch sein gebrochenes Englisch aus, welches seinem Bericht an vielen Stellen eine unverwechselbare Komik verleiht. Die zweite Erzählebene ist aus der Perspektive Jonathans geschrieben. Er beschreibt hierin die 150-jährige Geschichte des jüdischen Schtetls Trachimbrod, in dem er seine familiären Wurzeln vermutet. Jonathan in seiner Rolle als allwissender Erzähler liefert eine ganz eigene, oft mythisch-surreal anmutende Darstellung seiner familiären und kulturellen Herkunft. Die dritte Ebene bildet gegenüber den beiden anderen eine Metaebene. Sie besteht aus sieben Briefen Alexanders, die aus einem Briefwechsel zwischen ihm und Jonathan hervorgegangen sind. Alexander nimmt hier zum Einen ihre gemeinsame Suche nach Trachimbrod, zum Anderen die von Jonathan geschriebene und von ihm gelesene Geschichte des Schtetls reflektierend in den Blick.
Der Aufbau der vorliegenden Analyse wird sich schrittweise an die Komplexität des Romans herantasten. So bewegen sich die ersten Abschnitte auf einer rein inhaltlichen Ebene, wobei strukturelle und narrative Besonderheiten zunächst außer Acht gelassen werden. Erst in den späteren Kapiteln werden diese Dimensionen in den Blick genommen und der Roman in seiner Gesamtkomposition – im Zusammenspiel von Inhalt und Struktur – Gegenstand der Betrachtung.
Collective memory simplifies;
sees events from a single, committed perspective;
is impatient with ambiguities of any kind;
reduces events to mythic archetypes.[64]
I will… I will… (E 8)
Der Wagen eines Unbekannten – man nennt ihn Trachim B. – mit der Fracht dessen, was sich in der Vergangenheit angesammelt hat, versinkt in den Fluten des Flusses. Unter den zusammenhanglos gewordenen Relikten des Gewesenen, die jetzt an die Oberfläche treiben, findet sich ein verlorenes Schriftstück mit den zukunftsweisenden Worten „I will… I will…“ (E 8). Die Vergangenheit ist untergegangen und die Zukunft lässt sich noch in keine Perspektive fassen. Die Gegenwart ist gekennzeichnet von dem Unvermögen, dem entstandenen Chaos Sinn und Struktur zu verleihen. In einem derartigen Spannungsgefüge von Vergangenheit und Zukunft – mittendrin orientierungsloses Ausgeliefertsein – beginnt die Erzählung von dem jüdischen Schtetl Trachimbrod.
Das Chaos, welches auf den Unfall Trachim B.s folgt, hält die Bewohner des Schtetls in einer Situation gefangen, die sich jedweder Sinnkonstitution verwehrt. Unfähig, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft zu verorten, Zeit und Raum ihres Daseins zu definieren, verharren sie im Zustand einer (noch) nicht greifbaren Identität. An dieser präidentifikatorischen Stelle, also vor aller Vergegenwärtigung ihrer selbst, scheint alles oder aber auch nichts im Hinblick auf einen Neuanfang der Geschichte des Schtetls möglich zu sein. Die dadurch entstandene Unsicherheit wird bereits mit dem ersten Satz der Erzählung deutlich: „It was March 18, 1791, when Trachim B’s double-axle wagon either did or did not pin him against the bottom of the Brod River“ (E 8). Nichts, noch nicht einmal das Ereignis selbst, welches das Chaos ausgelöst hat – das entweder geschah oder auch nicht – scheint sicher.
Ein Moment der Gegenwart zeigt sich also in jeder Hinsicht destruiert und stellt die Bewohner vor die Aufgabe das Geschehen zu rekonstruieren, um so die Sinnhaftigkeit der Vergangenheit wieder herzustellen, wodurch auch das Hier und Jetzt wieder greifbar werden soll. Deshalb sucht nun jeder der Bewohner nach einer Erklärung für das Ereignis:
By now, almost all of the shtetl’s three hundred odd citizens had gathered to debate that about which they knew nothing. The less a citizen knew, the more adamantly he or she argued. (E 12)
Die ungeklärte Situation eröffnet ein grenzenloses Deutungsspektrum. Ein jeder Schtetlbewohner ergreift die Möglichkeit, die Leere, welche die versunkene Geschichte Trachim B.s mit sich bringt, mit einem ihm passend erscheinenden Sinn zu füllen, der wiederum den Erklärungsversuchen der anderen zuwider läuft. Keine Perspektive innerhalb der Gruppe deckt sich mit der anderen. Auf diese Weise scheitert jeder Versuch einer gemeinsamen Vergangenheitsauslegung zwangsläufig, so dass eine kollektive Identität nicht möglich ist. Die individuellen Vorstellungen von dem, was geschehen ist, fügen sich zu keinem Ganzen, nämlich der Geschichte des Schtetls.
In welch drastischem Konfliktverhältnis die Orientierungslosigkeit der Situation zu dem Bedürfnis der Schtetlbewohner nach definitiver Erklärung derselben steht, widerspiegelt sich vor allem im Kontrast von konkreter Forderung nach Faktizität, formuliert durch den Trachimbrodschen Rabbi und der Sprache des wahnsinnigen Sofiowka, der sie durch seinen diffusen Tatsachenbericht nicht erfüllt:
Das Bedürfnis, das Ereignis faktisch „festzuschreiben“, findet rasch Ausdruck in der Forderung nach einer „shtetl proclamation“ (E 10), wie sie von dem Bewohner Yankel D. vorgeschlagen und später von dem Rabbi Trachimbrods verkündet wird: „WE MUST MAKE A SHTETL PROCLAMATION“ (E 12). Der einzige potentielle Zeuge des Geschehens jedoch ist ausgerechnet der wahnsinnige Schtetlbewohner Sofiowka. Dessen Umwelt erlebt ihn stets als Fremden, da sie sich die Veräußerungen des Wahnsinns in Tun und Sprechen nicht erklären kann. Er behauptet, alles Geschehene mit angesehen zu haben, was impliziert, dass seine Schilderung der Ereignisse auf Tatsachen beruht. Allerdings ist sein Bericht geprägt von einer sprunghaften, assoziativen Sprache, die jedweder Faktizität entbehrt und so die Unsicherheit der Situation kontraproduktiv eher verstärkt als auflöst:
I have seen everything that happened […]. The wagon was moving too fast for this dirt road […] and it suddenly flipped itself, and if that’s not exactly the truth, then the wagon didn’t flip itself […]. But it was flipped by a wind from Kiev or Odessa or wherever, and if that doesn’t seem correct, then what happened was […] an angel with grave-stone-feathered wings descended from heaven to take Trachim back with him […]. (E 9)
Der faktische Charakter des Berichts wird zerstört, indem eine einmal formulierte Aussage sogleich durch eine darauffolgende Aussage, die in ihrem Sinngehalt disparat erscheint, aufgelöst wird. Zuerst ist es die Schnelligkeit, die den Wagen zum kippen bringt, dann wird alternativ die Möglichkeit angeboten, dass es auch nicht so sein könne und zuletzt ist es der Wind, der ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hat und von diesem ist auch nicht klar, wo er herkommt, aus Kiev oder Odessa. Schließlich wird das Geschehen von Sofiowka gar auf die transzendentale Ebene gehoben, indem ein Engel Trachim B. mit sich genommen hat, wobei das phantastische Moment durch widersinnige Neologismen („grave-stone-feathered wings“) zusätzlich verstärkt wird.
Die Frage des Rabbis und die Antwort des Wahnsinnigen befinden sich auf sprachlich unterschiedlichen Ebenen. Während sich der Rabbi mit seiner Forderung auf sprachkonventioneller Ebene befindet, die das Gebot des sinnhaften Sprechens impliziert, ist die Sprache des Wahnsinnigen nicht auf dieser Ebene zu verorten, da sie nicht nach diesen Regeln funktioniert. Die offiziell legitimierte Sprache der Bewohner, repräsentiert durch die legislative Autorität des Rabbis, und die illegitime Sprache des Ausgeschlossenen stehen sich in unaufgelöstem Spannungsverhältnis gegenüber. Eine Übersetzung in die jeweils andere Sprache ist nicht möglich, daher erscheint die Situation ausweglos.
Im Sinne Michel Foucaults, der sich in seinem Essay „Der Wahnsinn, die Abwesenheit eines Werkes“ [65] u.a. mit den Gegensätzen von konventioneller und wahnsinniger Sprache beschäftigt, haben wir es mit der Sprache des Diskursiven einerseits und mit der Sprache des Außerdiskursiven andererseits zu tun. Die Vertreter der diskursiven Sprache zielen auf die Konstitution...