Wer sind «wir» eigentlich?
Aber wer ist das überhaupt, die junge Generation, die da jetzt übernehmen soll, wer sind wir?
Eigentlich fand ich sie immer total bescheuert, diese Bücher über irgendeine Generation, die angeblich soundso war – sei es nun die «Generation Porno» («Alle jungen Leute sind verdorben durch Online-Sexvideos»), die weinerliche «Generation Praktikum» (Wer will da schon dazugehören?) oder gar Absonderlichkeiten wie die «Generation Umhängetasche» (was auch immer das heißen mag). Mir schien es schwierig bis unmöglich, Erlebnisse oder Einstellungen, die einzelne Leute betrafen, auf eine ganze Altersgruppe zu übertragen, um eine wie auch immer geartete These zu untermauern.
Vielleicht liegt das auch an den romantischen Geschichten meiner Eltern. Es fiel einfach verdammt leicht, aus ihnen das Lebensgefühl und die Ideale einer ganzen Generation herauszulesen, sodass ich mich als Teenager oft fragte, was ich eigentlich irgendwann mal meinen Kindern über meine Generation erzählen könnte, das ansatzweise so bedeutungsschwer ist wie die Erlebnisse meiner Eltern.
Meine Mutter zum Beispiel erzählt gern die Geschichte von dem Tag, an dem sie erfahren hat, dass sie mit mir schwanger ist. Es war im Frühjahr 1982, die Verhandlungen über den Nato-Doppelbeschluss erreichten gerade ihren Höhepunkt, meine Eltern und ihre Freunde waren natürlich absolut dagegen. Helmut Schmidt war für sie ein Verräter, ein U-Boot der Konservativen, ein Reaktionär. An dem Tag, als meine Mutter den Schwangerschaftstest machte, wollte sie mit einer Freundin auf eine Demo nach Bonn fahren, gegen Raketen, für den Frieden. Schwangerschaftstests waren damals noch furchtbar lahme Teile, die mehrere Stunden brauchten, um ein Ergebnis zu liefern. Und so stellte sie den Test im Bad ab, fuhr nach Bonn, kam abends aufgekratzt nach Hause und erfuhr dann auch noch, dass sie ein Kind bekommen würde.
Hochschwanger verfolgte sie am 1. Oktober im Fernsehen das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt. Und obwohl sie ihn eigentlich reaktionär fand, weinte sie zu Hause im Wohnzimmer, als er verlor. Weil es doch traurig und gemein war, wie die FDP ihren Bundeskanzler hängen ließ. Und dann wurde auch noch Helmut Kohl, der Inbegriff all dessen, was meine Eltern schrecklich fanden, Bundeskanzler. Am 11. Oktober wurde ich geboren.
Politik war bei uns die ganze Kohl-Ära lang ein großes Thema. Meine Eltern und ihre Freunde definierten sich über ihr politisches Engagement, wie andere Leute es über ihre Religion, ihre Jobs oder ihre Mitgliedschaft im Golfclub taten. Und für uns war die Beschäftigung mit Politik von Anfang an selbstverständlich. In den achtziger Jahren hörten wir Schallplatten, auf denen Frederik Vahle Protestlieder sang, und demonstrierten mit unseren Eltern gegen Atomkraft. In den neunziger Jahren malten wir Plakate für die Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit. Die Botschaft, die in unseren kleinen Köpfen ankam, war klar: Gemeinsam können wir etwas bewirken, etwas verändern. Und: Politik geht uns alle an.
Wen wundert es also, dass ich den Zusammenhalt, die gemeinsamen Ziele und Ideale, die ich aus den Geschichten meiner Eltern heraushörte, in meiner Generation schmerzlich vermisste? Dass ich mich wie viele andere auch gemeint und verstanden gefühlt habe, als Tocotronic «Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein» sangen? Dass ich, als ich jünger war, erst Punk sein und zwei Jahre später auf einmal mit schrecklich hässlichen Buffalo-Schuhen an den Füßen zur Loveparade fahren wollte?
Vielleicht ist diese vage Sehnsucht sogar der Grund, warum ein Generationenkonflikt im eigentlichen Sinne jahrelang nicht in Sicht war – ich beneidete meine Eltern um ihre gefühlte Zugehörigkeit zu einer Bewegung.
Dabei sind meine Eltern nicht einmal 68er im Wortsinn, genauso wenig wie die meisten anderen Leute, die Kinder in meinem Alter haben. Denn diejenigen, die 1968 tatsächlich Studenten waren, sind im Schnitt zu alt, um unsere Eltern zu sein. Meine Eltern zum Beispiel waren 1968 erst 14 und 15 Jahre alt. Dennoch würde ich sie dazu zählen, weil sie früh mit der politischen Kultur der 68er in Kontakt kamen, mein Vater sich schon als Schüler lange Haare wachsen ließ und mit seinen Kumpels Protestaktionen in der Schule organisierte. Weil meine Mutter mit Anfang 20 ihren langweiligen Bank-Job schmiss und gemeinsam mit meinem Vater und seinen langhaarigen Freunden aus der Kleinstadt nach München floh. Und weil sie dort im Prinzip genau das taten, was auch schon die «echten» 68er getan hatten: diskutieren, protestieren, politisieren.
Die Geschichten, die sie von damals erzählen, ähneln haargenau jenen, die heute in jeder Doku über die 68er zu bewundern sind. Wie zum Beispiel eine Freundin meiner Eltern ebenfalls ihre Stelle als Arzthelferin aufgab, ihren schnieken Disko-Freund sitzen ließ und meinen Eltern und ihrer Clique folgte, in München an der Abendschule das Abitur nachmachte, während mein Vater sie mit Texten von Marx und Engels versorgte, die sie gewissenhaft durchackerte und die Stellen, die sie nicht verstand, mit Textmarker anstrich.
Deswegen habe ich mich immer ganz selbstverständlich als 68er-Kind bezeichnet. Ich fand es überhaupt nicht absonderlich, wenn auf Partys meiner Eltern irgendjemand die Internationale anstimmte. Die deutsche Nationalhymne ist mir hingegen bis heute fremd.
Doch meine persönlichen Erfahrungen lassen sich nicht auf die Masse meiner Altersgenossen übertragen. Die meisten Eltern meiner Schulfreunde hatten überhaupt nichts mit Protest und Widerstand zu tun – selbst wenn sie um 1968 herum jung waren. Dieser Eindruck lässt sich auch statistisch nachvollziehen, wenn man das Etikett «Studentenbewegung» ernst nimmt und weiß, dass damals weit weniger Leute studiert haben als heute. Man muss kein Soziologe sein, um sich ausrechnen zu können, dass der Großteil der jungen Deutschen 1968 eher mit Arbeiten beschäftigt war als mit Demonstrieren.
So sagte etwa der bekannte Protestforscher Dieter Rucht einmal im Interview mit der Zeit: «Der Protest der 68er war zwar heftig und spektakulär. Aber in der Summe haben sich damals vermutlich weniger Studenten beteiligt als bei späteren Protesten.» Dennoch dominiert diese zahlenmäßig kleine Gruppe die Geschichtsbücher, Film-Dokus, Leitartikel und alles, was sonst noch Relevantes zur Bonner Republik erscheint – was wiederum dafür spricht, dass der Generationenbegriff Sinn ergibt, selbst wenn er niemals die gesamte Bandbreite an unterschiedlichen Menschen einer Altersklasse erwischt.
Das ist genau der Knackpunkt: Politisch geprägt haben die 68er fast die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ganz egal, wie niedrig ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung zahlenmäßig war. Bis heute ergibt sich das Spannungsfeld der politischen Lager – das eher wirtschaftsfreundliche Schwarz-Gelb auf der einen Seite, das eher auf den Prinzipien Gerechtigkeit und staatliche Fürsorge basierende Rot-Grün auf der anderen – aus dem Konflikt zwischen der 68er-Bewegung und ihren Gegnern. Auch wenn sich das heute nicht mehr so leicht in ein einfaches Rechts-links-Schema pressen lässt – die alte Konfliktlinie ist noch da, sie wurde jahrzehntelang von der Generation der 68er und ihren Nachzüglern aufrechterhalten. Und so sind sie auch für die junge Generation immer noch der entscheidende Bezugspunkt, wenn es um den politischen Diskurs geht. Nicht zwangsweise, weil sie unsere Eltern sind, sondern weil sie unser gesamtes Leben politisch geprägt haben – sei es nun weil sie, wie bei mir, ihre Kinder aktiv in die Politik eingebunden haben oder einfach nur, weil sie auch allen anderen zeigten, dass Demonstrationen und politisches Engagement ein legitimes Mittel im politischen Diskurs sind.
Aber nicht nur in Bezug auf die 68er, auch übertragen auf meine Altersklasse stellt sich zunächst die Frage, inwieweit der Generationenbegriff überhaupt Sinn ergibt. Habe ich, das akademisch gebildete Kleinstadt-Mädchen, nicht mehr mit meinen Eltern gemeinsam als – um mal voll in die Klischee-Kiste zu greifen – mit einem gleichaltrigen Neuköllner ohne Schulabschluss und Berufsausbildung? Was verbindet die 30-jährige Alleinerziehende mit Teilzeitjob mit dem 30-jährigen Unternehmensberater? Sind wir nicht alle total unterschiedlich?
Ich denke, auch losgelöst von den 68ern als Bezugspunkt haben wir Jungen einiges gemeinsam, sind eben doch eine Generation: Zwar kommen wir alle aus unterschiedlichen Orten, Familien, haben unterschiedliche Lebensläufe. Aber dennoch sind wir von ähnlichen (welt-)politischen Ereignissen geprägt: Wir wuchsen auf, als Helmut Kohl noch Kanzler war, erlebten in unserer Kindheit die Wiedervereinigung, den 11. September, dann die Wirtschaftskrise. Und so mussten und müssen wir, die wir so unterschiedlich sind, eben auf ein und dieselben Ereignisse reagieren. Wir alle leben in einer Welt, die mehr und mehr zusammenwächst. Wir sind die Kinder der Globalisierung, so abgedroschen das auch klingen mag. Inzwischen kann ich mir auch ganz gut vorstellen, was ich meinen Kindern mal über meine Generation erzählen werde: Dass wir uns in einer vernetzten Welt bewegten, während unsere Eltern noch in Landesgrenzen dachten. Und dass wir alle Umwälzungen, die damit verbunden waren – globalisierter Arbeitsmarkt, Flexibilität,...