KAPITEL 1
ANNÄHERUNG
Der Clown ist schon eine komische Figur. Wo er auftaucht, ist er sehr präsent – und dennoch schwer greifbar. Clownerie zählt zu den darstellenden Künsten, nur: Was stellt ein Clown dar? Bei nahezu allen anderen darstellenden Künsten weiß jeder auf Anhieb, was jemand dieser Profession kann. Ein Jongleur jongliert – wahlweise mit Bällen, Keulen, Kettensägen oder anderem, je mehr und ungewöhnlicher, desto besser. Akrobaten machen Handstände, Salti oder Flickflacks – am besten mit- und übereinander. Ein Zauberer lässt Dinge oder Menschen verschwinden, auftauchen oder sich verändern – und uns an unserem Verstand zweifeln. Ein Schauspieler hat zum Beispiel die Rolle des Hamlet auswendig gelernt und verkörpert den Prinzen von Dänemark nun auf der Bühne. Diese Liste ließe sich verlängern und deutet eine Schwierigkeit an bei den Künstlern der Gruppe Clowns: Welche besonderen Fertigkeiten sind ihnen zuzuordnen? (Gemeint sind natürlich nicht diejenigen Clowns, die jonglieren, zaubern oder ähnliches vollbringen.) Komische Klamotten tragen? Stolpern können? Lustig sein?
Alle anderen darstellenden Künstler verbindet zudem, dass sie gewisse Voraussetzungen mitbringen müssen, um in ihrem Metier erfolgreich zu sein: Wer zwei linke Hände hat, wird sich weder dem Jonglieren noch dem Zaubern widmen; für die Akrobatik sind Beweglichkeit, Kraft und Mut unerlässlich; ein Schauspieler muss sich in fremde Charaktere versetzen können – und eine Menge Text auswendig lernen. Womit eine weitere, elementare Gemeinsamkeit angedeutet ist: Trainingsfleiß.
Kriterien für Clowns?
Niemand, der sich als professioneller Jongleur anpreist, aber mit Mühe drei Bälle in der Luft halten kann, wird als Jongleur ernst genommen und Aufträge erhalten. Auch Akrobaten, die nicht mehr als ambitionierte Schulturner sind, oder Zauberer, die lediglich Kunststücke aus den Zauberkästen eins bis drei beherrschen, sich allesamt aber als professionell verkaufen, werden bald als wenig professionell erkannt. Bei Schauspielern, insbesondere im Fernsehen, sind die Konturen schon nicht mehr so klar. Bei Clowns aber sind die Kriterien noch diffuser. Zwar existieren handwerkliche Techniken, die für das improvisierte Clownsspiel hilfreich sind (dazu später mehr), aber eben nicht unerlässlich. So scheint es immer wieder zu genügen, möglichst schrille Kleidung zu tragen (am besten kombiniert mit absurd großen Schuhen) und in dieser Aufmachung, überzeugt von sich und seiner „Lustigkeit“, flache Späße und Spiele zu produzieren. Viel üben muss man dafür nicht.
Es gibt solche Clowns, die auf Festen, in Kliniken und Altenheimen auftreten – und Honorar dafür erhalten.
Nur kein Neid können Kritiker entgegnen: Wenn diese Clowns jemanden finden, der sie bezahlt? Gut. In der Tat geht es weniger um diese Art Clowns, als darum deutlich zu machen, welch diffuser Außensicht und welch fragilem Rollenverständnis professionelle Clowns ausgesetzt sind. Vielleicht nützt folgendes Beispiel:
Die Klinik-Clowns, zu deren Gruppe ich gehöre, hatten die Einladung, in der Pause eines großen Neujahrsvarietés um Spenden bitten zu dürfen. Wie alle anderen Künstler zogen auch wir uns in der gemeinsamen Garderobe um, schminkten uns dort, bereiteten uns für unseren Auftritt vor. Der war – zugegeben – nicht sonderlich anspruchsvoll, dennoch sind wir professionelle Clowns. Mehr als nur einmal saß ich dort in der Umkleide und es schoss mir – mit Blick auf die muskulösen Akrobaten aus Südamerika oder die filigranen Jongleure aus China – durch den Kopf: Eigentlich kann ich – nichts.
Das sagt einmal natürlich einiges über mich aus, wenngleich mir in meinen anderen Professionen nach zwanzig Berufsjahren dergleichen nie passiert. Zum anderen stimmt dieser Gedankenblitz in gewisser Weise sogar. Denn meine Akrobatik- oder Jonglierkünste sind im Vergleich zu denen dieser Athleten internationaler Klasse natürlich ein Witz. Dennoch kann ich natürlich nicht Nichts. Als Clown brauche ich andere Fähigkeiten und habe andere Fertigkeiten erlernt als Jongleure, Akrobaten, Schauspieler oder Zauberer. Doch wie erkläre ich die? „Mach doch mal was Lustiges“, war der ebenso hilf- wie erfolglose Versuch mancher Bekannter, mein damals neues Berufsfeld Clown zu begreifen.
Vielleicht hilft weiter, dass ein Clown vor allem das ist oder darstellt, was den Erfahrungen seiner Betrachter entspricht. Die einen lachen, wenn sie nur eine rote Nase sehen, andere fanden diese Typen schon immer irgendwie unheimlich. Der Clown lässt sich romantisieren in Form dieser weißgesichtigen Harlekine aus Porzellan (am besten mit Träne), reduzieren auf lustige Gesellen oder überhöhen als Zivilisationskritiker.
Bunte Typisierungen
Auch in der Literatur findet sich ein heiteres Sammelsurium an Typisierungen: Der Clown ist ein Symbol, ein Archetypus1, ein existenzieller Spieler, bei dem es um Leben und Tod geht2. Er präsentiert einen großen Kulturkritiker, der sich auflehnt gegen simple Nützlichkeit und hingibt an das vermeintlich Zwecklose.3 Im Clown tritt das spielende, unverletzte Kind auf: „unbekümmert und naiv, weil ungebildet und unverbildet“.4 Clownerie stellt damit die bewusste, spielerische Rückführung der Erwachsenen in die frühe Kindheit dar5. Seine Heimat ist das Nichts, das Niemandsland6. Er ist ein Grenzgänger, spielt entlang der Grenzen und darüber hinweg – im konkreten wie übertragenen Sinne, er löst Grenzen gar auf7: Zwischen sich und den Zuschauern, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sogar zwischen Gut und Böse8.
Das alles stimmt irgendwie, doch verlören Clowns womöglich jede Spielfreude, hätten sie dies stets im Bewusstsein. Vielleicht nützt es sogar, nicht alles über Clowns zu wissen. Damit bleibt immer ein Rest von Magie, von Überraschung erhalten, der beim Sezieren eines Phänomens verloren geht. Dennoch: Ein Blick zurück fördert das Verständnis für diese facettenreiche Figuren von Narren, Clowns, Hanswursten und wie sie alle hießen. Denn so vielfältig die Auffassungen von Clowns heute sind, so zahlreich und unterschiedlich sind ihre Vorfahren. Allein ein Umstand eint alle narrenhaften, clownesken Charaktere: Sie gehören nirgendwo hin, zu keiner Gruppe, keiner Gesellschaft. Doch statt sich verloren zu fühlen und einsam, verleiht dieser Einzelstatus der Figur Kraft und Freiheit: Mit niemandem zwanghaft verbunden zu sein bedeutet auch, sich mit jedem verbinden zu können, der Unterstützung bedarf. Außerhalb der Gesellschaft zu stehen bedeutet auch, außerhalb von Zwängen zu sein, sich nicht Regeln und Normen unterwerfen zu müssen. Der Narr verliert nicht den Kontakt zu seiner Umgebung, schließlich ist das sein Spielfeld. „Er ist genug Teil dieser Welt, dass er wiederholt erscheinen kann – und zugleich fremd genug, dass er einfach verschwinden kann und vergessen wird, wenn das Spektakel vorüber ist.“9
Keine lustige Geschichte
Dabei beginnt die Geschichte der komischen Figuren nicht lustig. Sie ist vielmehr geprägt von Härte und Brutalität, Armut und Not, Hunger und Tod.
Die ersten Narren waren keine freiwilligen. Sie gaben sich aus Not der Lächerlichkeit preis. Denn alle irgendwie Behinderten, Verkrüppelten oder Kleinwüchsigen konnten wenig bis gar nicht arbeiten, waren ausgestoßen, dem Spott ausgesetzt, auf Almosen angewiesen. Da stellte es immerhin einen Ausweg dar, als Hofnarr ein Auskommen zu finden. Denn Könige und Adelige umgaben sich nicht nur wegen des komischen Kontrasts zur Normalität gerne mit Zwergen und Krüppeln. Sie nutzten den Gegensatz auch dazu, selbst schöner, großartiger, irgendwie mächtiger zu wirken10. Der erste überlieferte offizielle Spaßmacher dieser Art soll ein Zwerg am Hofe des ägyptischen Pharaos Pepi I. (ca. 2295 – 2250 v. Chr.) gewesen sein11. Zwerge zum Zwecke der Belustigung waren auch im frühen chinesischen Kaiserreich beliebt, ebenso im vorkolumbianischen Amerika. Auf römischen Märkten wurden Krüppel und Irre gar zum Verkauf angeboten, damit der Plebs, das gemeine Volk, ein bisschen Spaß haben konnte.12
Zu diesen frühen Unterhaltern aus Not zählten außerdem Blinde, Gelähmte, Amputierte, Kleinwüchsige, Buckelige, aber auch Kriminelle, Prostituierte und Quacksalber. Kurz: Vorrangig jene, die das damals vorherrschende Bild des Menschen durch eine physische oder psychische Deformation verletzten und einen „Modus vivendi“ fanden, indem sie ihr Anderssein zur Schau trugen.13
Vor vielen Jahren nahm ich an einem Buffonen-Kurs teil. Buffone (übersetzt: Hofnarr) hießen in Italien und Frankreich etwa vom 16. Jahrhundert an verkrüppelte...