Einführung
Ulrich Lamparter, Hans Ulrich Schmidt
Warum dieses Buch?
Das vorliegende Buch mag den einen oder anderen die erstaunte Frage stellen lassen, ob Psychosomatik und Psychotherapie sich nun etwa selbst infrage stellen wollen? War denn nicht jahrzehntelang das fundamentale Anliegen in vielen psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildungen, den ärztlichen Blick für die Bedeutung des Psychischen zu öffnen? Wird denn nicht immer noch anhaltend an der Verfeinerung diagnostischer Instrumente gearbeitet, um psychische Störungen rasch zu erkennen und lange Patientenkarrieren zu vermeiden? Gibt es denn nicht immer noch viele Patienten, die von Arzt zu Arzt geschickt werden, ohne dass erkannt wird, dass das eigentliche Problem im Seelischen zu suchen ist? Geht es denn nicht gerade darum, diese Patienten rasch einer Psychotherapie zuzuführen, und sie nicht »durch die Mühle der körperlichen Diagnostik zu drehen«? Kommt es denn nicht gerade dann zu iatrogenen Fixierungen auf das Somatische?
Verzeichnen wir nicht gerade eine erfreuliche Zunahme der Zielgenauigkeit und Geschwindigkeit, mit der psychosomatisch oder psychisch Erkrankte in eine psychotherapeutische Behandlung weiterverwiesen werden und beobachten eine über viele Jahre gewachsene höhere Akzeptanz der Psychotherapie in der Gesellschaft, bei den betroffenen Patienten und nicht zuletzt bei den primär somatisch orientierten Medizinern?
Versuchen nicht seit vielen Jahren höchst erfolgreich für das Psychische offene Ärzte in Balint-Gruppen der Geschichte hinter den Beschwerden ihrer Patienten auf die Spur zu kommen und ihre Fähigkeiten in Kursen zur psychosomatischen Grundversorgung zu verbessern?
Dieses Buch soll diese – durchaus erfreulichen – Entwicklungen in keiner Weise infrage stellen, sondern sie vielmehr um eine Blickrichtung ergänzen, die gerade den interdisziplinären Stellenwert der Psychosomatik und Psychotherapie weiter vertiefen kann. Bei aller Offenheit für die Welt des Psychischen und die Zusammenhänge von Lebensgeschichte, Lebenssituation und Krankheit gilt es jedoch, den Fehler zu vermeiden, körperliche Krankheiten fälschlich als »psychisch bedingt« zu diagnostizieren.
Störungen, die in den Lebensumständen der Patienten ihre Wurzeln haben, werden in ihrer seelischen Dimension oft nicht ausreichend erkannt. Nicht selten sind ihre Wege, wenn sie psychotherapeutische Hilfe suchen, lang. Dies gilt besonders für Menschen aus den weniger gebildeten Schichten, für sog. Problempatienten oder solche, die in Regionen leben, die immer noch medizinisch oder gar psychotherapeutisch weniger gut versorgt sind. Als langjährig gemeinsam Tür an Tür tätige Diagnostiker in der psychosomatischen Ambulanz, im Konsultations- und Liaisondienst einer Universitätsklinik und in unseren eigenen Praxen haben wir jedoch auch andere Erfahrungen gemacht: Gerade bei seltenen und wenig bekannten primär somatischen Krankheitsbildern oder Problemen werden die Symptome eines Patienten fälschlicherweise als psychisch bedingt aufgefasst. Dadurch kommen diese Patienten auf die »falsche Schiene«, und es wird wertvolle Zeit verloren. An Stelle einer medikamentösen Behandlung oder sogar einer notwendigen Operation wird der Patient in eine psychosomatische Klinik oder ambulante Psychotherapie geschickt. Nicht allzu häufig, aber doch gelegentlich hört man von derartigen »Horrorgeschichten«. Gerade weil die Medizin glücklicherweise nicht mehr auf dem seelischen Auge blind ist und vermehrt psychosoziale Aspekte berücksichtigt, gilt umso mehr die grundsätzliche Empfehlung von Weiss & English (1943), die zu den Gründungsvätern der psychosomatischen Medizin zählen, dem Körper nicht weniger, sondern der Psyche mehr Beachtung zu schenken. Nota bene: dem Körper nicht weniger.
Das Problem des »psychogenen Fehlers«
Die Fehldiagnose »psychogen statt somatogen« ist sicherlich seltener als die umgekehrte schnelle Nostrifizierung von Symptomen durch die Körpermedizin.
Umso gravierender kann jedoch das Versäumnis sein, im Zuge einer vorschnell auf ein psychogenes Konzept fokussierten Diagnose wichtige körperliche Behandlungsmöglichkeiten zu versäumen. Als ein klassisches Beispiel mag hier die Fehldeutung einer Hyperthyreose als Angststörung stehen. Nicht selten wird dann im weiteren Krankheits- und Behandlungsprozess, gerade auch in einer psychotherapeutischen Behandlung, dem Patienten das (scheinbare) Festhalten an Körpersymptomen als Widerstand gegen die Psychotherapie ausgedeutet. Gravierender noch ist es, wenn eine fehlende, eigentlich angezeigte weiterführende somatische Diagnostik eine möglicherweise kurative oder zumindest die Beschwerden lindernde medikamentöse, evtl. auch stärker invasive Behandlung verhindert. Im Extremfall führt dann z. B. eine zu früh eingeleitete, möglicherweise jahrelange Psychotherapie nicht zu einer Rückbildung der Symptomatik, um deren Willen die Psychotherapie ja eigentlich begonnen wurde. Manche unserer Fallgeschichten können diesen Aspekt gut illustrieren.
Der »psychogene Fehler« ist nicht leicht zu erkennen
Unbestritten: Manchmal sind unsere Patienten an einer vorschnellen Psychogenie-Zuschreibung nicht unbeteiligt. So, wenn sie uns hochmotiviert für eine Psychotherapie begegnen und wir unsererseits erfreut, mitunter auch hocherfreut darüber sind, endlich mal wieder einen Patienten nicht in mühsamen Vorgesprächen von möglichen psychischen Zuflüssen zu etwaigen Körpersymptomen oder gar einem primär psychogenen Hintergrund überzeugen zu müssen. Doch dies darf nicht dazu führen, die Wachsamkeit gegenüber dem Seltenen zu verlieren.
Besonders schwierig ist die oft schleichende Entwicklung primär somatogener Erkrankungen zu erkennen, wenn sich der Patient bereits in der Psychotherapie befindet. In einer psychotherapeutischen Behandlung kommt es zu einer Konzentration auf das psychische Geschehen, und es wird »vom Körper weg« gedacht. So wird ein geschildertes Körpersymptom (z. B. Kribbeln) eher als Angstäquivalent eingeschätzt werden, als dass der Gedanke an den Beginn einer Multiple-Sklerose-Erkrankung oder einer Polyneuropathie aufkommt. Zu fern liegt dann der Gedanke, es könnte sich bei den Beschwerden des Patienten um eine körperliche Störung handeln, besteht die Aufgabe der psychotherapeutischen Behandlung ja gerade darin, den Patienten »vom Körper wegzubringen«.
Werden Gedanken an eine somatische Differenzialdiagnose in Fallbesprechungen bereits laufender Psychotherapien geäußert, wird dies in der Regel nicht goutiert. Der Psychologische Psychotherapeut kann dazu ins Feld führen, dass der Patient ja vor Aufnahme der Psychotherapie bereits ärztlich untersucht worden sei. Der Allgemeinarzt, der in der Richtlinienpsychotherapie die Indikation konsiliarisch bestätigen muss, ist in der schwierigen Lage, dass ihm oft, mangels feinerer diagnostischer Möglichkeiten, alternative somatogene Erklärungen nicht ohne Weiteres zur Verfügung stehen oder er bereits von vorherein »psychogen« orientiert und gebahnt ist.
In vielfältigen Settings wird versucht, den Risiken vorschneller Ausdeutung des Krankheitsgeschehens als »psychisch bedingt« Rechnung zu tragen. So »sondiert« etwa die fachgerechte Indikationskonferenz in einer psychosomatischen Poliklinik oder eine Schmerzkonferenz in beide Richtungen. Psychotherapeutische Weiterbildungsinstitute integrieren in das Setting der Behandlungsindikation/-planung sog. Zweitsichten, insbesondere immer dann, wenn die Behandler Psychologen und nicht Ärzte sind. Potenzielle Psychotherapiepatienten werden hier vor einer psychotherapeutischen Behandlungsaufnahme somatisch erfahrenen Ärztinnen und Ärzten vorgestellt, um das Risiko einer psychogenen Fehldiagnose zumindest einzuschränken, ggf. ein fachärztliches Konsil oder Laborbefunde einzufordern bzw. vorzuschlagen. In der ambulanten Versorgung ist bei der Stellung des Kassenantrags durch Psychologische Psychotherapeuten vor Aufnahme einer Psychotherapie eine Beifügung einer ärztlichen Konsultation und Stellungnahme zu der geplanten Psychotherapie vorgeschrieben. Solch eine gute...