Kapitelinhalt
Während der letzten fünf Jahrhunderte hat sich der Wohlstand Europas in etwa verzweiundzwanzigfacht, der Afrikas aber nur verdreifacht. Während noch im Jahre 1000 n. Chr. Einkommen und Produktivität Europas, Asiens und Afrikas noch in etwa gleichauf lagen, beträgt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Nordwesteuropa heute mehr als das Zehnfache des afrikanischen Durchschnitts (und gut und gerne das Vierzig- oder Fünfzigfache der ärmsten Länder Afrikas wie Burkina Faso oder Somalia). Wie ist es zu diesen historisch beispiellosen Einkommens- und Wohlstandssprüngen gekommen, aber auch zu dem immer drastischeren Auseinanderdriften des „reichen“ Westens und des armen Südens Afrikas? Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind, und wird der auf historischen Schultern gewachsene beispiellose Reichtum unserer Zeit halten?
Eine historische Betrachtung ist hier unabdingbar, nicht nur hinsichtlich der Genese des „Wirtschaftswunders“ Europa, sondern auch wichtiger Fragen der heutigen Zeit, etwa ob diese historisch einmaligen Wachstumssprünge nachhaltig sind, halten können und wie wir es den einkommenstechnisch schwächeren Ländern und Weltregionen ermöglichen, an diesen Wohlstand anzuschließen, sich also etwas von dem Kuchen „abzuschneiden.“ In diesem ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit den Hauptfragen und Leitthemen in der Wirtschaftsgeschichte. Es wird begründet, was Wirtschaftsgeschichte eigentlich bedeutet, aus welchen methodischen Disziplinen und Horizonten sie sich speist, welche Fragen an die Menschheitsgeschichte sie richtet. Wie steht die Wirtschaftsgeschichte zwischen den Wirtschaftswissenschaften auf der einen und den historischen Wissenschaften und ihren Nachbardisziplinen auf der anderen Seite? Es wird das Narrativ vom „modernen Kapitalismus“ eingeführt und erklärt, warum die Geschichte des modernen Kapitalismus bereits im Mittelalter beginnt und warum nur eine Perspektive der langen Dauer, der longue durée, uns wirklich belastbare bzw. „handfeste“ Erkenntnisse darüber liefert, wie wir zu dem Reichtum gekommen sind, der insbesondere die westliche Welt der heutigen Zeit auszeichnet und zu dem gemacht hat, was sie ist.
Wirtschaftsgeschichte als Fach an Universitäten
Wirtschaftsgeschichte etablierte sich als akademisches Fach seit dem späten 19. Jahrhundert, deutlich später als die allgemeinen Geschichtswissenschaften, welche sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert erstmals als eigenständige wissenschaftliche Disziplinen an verschiedenen Universitäten im deutschsprachigen Raum finden lassen (aber siehe LeGoff 2016). Häufig ist sie als historische Ökonomik an Wirtschaftsfakultäten angesiedelt, mit wissenschaftlichen Projekten, die kaum mehr als Zahlenspielerei bzw. Anwendung moderner ökonomische Theorien auf historisches Zahlenmaterial darstellen, meist unter Herbeiziehung aktueller Fragestellungen (etwa „Wie erzielt ein Land Wirtschaftswachstum“?), bisweilen auch mit dem (immanenten) Ziel der Bestätigung moderner Theorien mit historischem Datenmaterial (Acemoglu et al. 2005; Acemoglu/Robinson 2011). Fachspezifisch einschlägige Publikationsorgane wie das britische Economic History Review oder sein US-amerikanisches Pendant Journal of Economic History haben einen starken methodischen und inhaltlichen Gegenwartsbezug, der für eine sachgerechte Befassung mit historischen Fragestellungen zwar grundsätzlich angeraten, nicht immer jedoch hilfreich erscheint: Letzteres gilt, da vormoderne Gesellschaften und Ökonomien in vielen Fällen und Bereichen nach Kriterien funktionierten, die in der modernen Volkswirtschaftstheorie nicht vorkommen oder nicht grundlegend behandelt werden.
Manchmal ist die Wirtschaftsgeschichte an historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt, mit stärkerem Bezug zu den historisch-kritischen oder hermeneutischen (induktiven) Methoden. Dies trägt – manchmal bewusst intendiert, bisweilen unbeabsichtigt – der Tatsache Rechnung, dass die ökonomischen Zielvorstellungen und Motivationen der Menschen Europas sich im Laufe des letzten Jahrtausend immer wieder verändert haben und heute drängende Fragen – etwa: „Wie erziele ich Wirtschaftswachstum/Vollbeschäftigung?“ oder „Wie erziele ich nachhaltigen Unternehmergewinn, wie maximiere ich den Profit meines Unternehmens?“ – noch bis vor wenigen Jahrhunderten nicht im Fokus der Überlegungen gestanden haben, ja von vielen Menschen sogar als pervers oder als verkehrte Fragestellung abgelehnt worden wären. Man vergleiche nur einmal die mittelalterlichen Debatten zur Zinsnahme, zum gerechten Preis oder zum Unternehmerprofit. Auch heute werden diese Fragen hier und da noch (oder wieder) gestellt (Sedlacek 2011). Insofern ist es oft schwierig, zum Verständnis der abendländischen Wirtschaftsgeschichte moderne ökonomische Methoden und Fragestellungen überhaupt anzuwenden. Oder aber die Anwendung moderner Methoden führt zu einer groben Verzerrung in der historischen Bewertung, wie die Forschungen des Nobelpreisökonomen und Wirtschaftshistorikers Fogel u. a. zur Sklavenwirtschaft in den Südstaaten der USA im 19. Jahrhundert gezeigt haben, die u. a. die Sklaverei als „ökonomisch rational“ bezeichnet haben wollten (Fogel/Engerman 1995), eine Einschätzung, die bereits der gesunde Menschenverstand aus verschiedener Hinsicht eigentlich verbietet; hierzu bedarf es keiner vertieften mathematisch-ökonometrischen Kenntnisse.
Wirtschaftsgeschichte als Geschichte des Kapitalismus
In jüngerer Zeit hat sich vor allem die Variante als „Geschichte des Kapitalismus“ (history of capitalism) herausgebildet (etwa Kocka 2015, Lipartito 2015, Beckert 2015, Appleby 2011). Sie stellt eine weitere – und vielleicht die vielversprechendste – Alternative dar, einen möglichen „Dritten Weg“. Die Grundmuster sind in Teilen nicht neu. Die Grundannahme ist, dass der Mensch als soziales Wesen und sein Handeln neben der Ökonomie und dem Gebot der Nutzenmaximierung (homo oeconomicus) vielen weiteren Rationalitäten, sozialen Zwängen und psychologischen Prädispositionen gehorcht, die sich nicht ökonomisch erklären lassen, zusammengenommen aber jene regionaltypisch durchaus unterschiedlichen Variationen ökonomischen Handels und Wandels geben, die landläufig als „Kapitalismus“ bezeichnet werden können. Vor allem aber haben der Staat und Mechanismen des Zwangs entscheidende Beiträge zur Entwicklung des modernen Kapitalismus und der modernen Wirtschaft geleistet; Elemente, die in der modernen Wirtschaftsgeschichtsschreibung erst seit jüngster Zeit die Aufmerksamkeit erfahren haben, die ihnen eigentlich zusteht (etwa Beckert 2015; Parthasarathi 2011, Vries 2015; Kocka 2015). Allerdings: Diese Interpretation und Sichtweise auf die Wirtschaftsgeschichte ist nicht neu, und die bereits 1902/1917 in drei Bänden groß angelegte Studie aus der Feder Werner Sombarts (Der moderne Kapitalismus) hat praktisch alle theoretischen und empirischen Grundlagen für eine historische Analyse kapitalistischer Ökonomien gelegt, derer sich die heute in schwellender Anzahl erscheinenden „Geschichten“ des Kapitalismus rühmen, freilich fast ausschließlich ohne Nennung oder Zitation Sombarts! Mehr noch – anders als die meisten jüngsten Werke ging Sombart bis in das Mittelalter und die Renaissance zurück, wenn es um die Analyse kapitalistischer Mentalität und Produktionsformen geht (Sombart 1902–27). Hier hapert es bei vielen der neuen Gesamtschauen der Geschichte des Kapitalismus (eine rühmliche Ausnahme freilich stellt Kocka 2015 dar). Als mode of production ist Kapitalismus damit eine in vielfältige soziale, kulturelle und politische Zusammenhänge eingebundene Wirtschaftsform gewesen, welche erst als Gesellschaftsform, d. h. unter Einbeziehung eben jener weiteren kulturellen, sozialen und politischen Kontexte hinreichend erklärt werden kann. Zwar hat sich diese Richtung der Wirtschaftsgeschichte vor allem vor dem Hintergrund der jüngeren globalen und Finanzkrisen (seit 2007) wieder stärker manifestiert, doch hat sie mit den älteren Klassikern aus der Feder Werner Sombarts, Fernand Braudels Civilization and Capitalism (3 Bände, englisch 1982–84) oder Immanuel Wallersteins derzeit vier Teilbände umfassenden Groß-Synthese (The Modern World System, 1972–2011) eine ehrbare und rühmliche Vorgeschichte mit Werken von analytischer Dichte und empirischer Tiefe, welche die heutigen Studien oft vermissen lassen.
Die meisten „ökonomischen“ Tatsachen (z. B. Wirtschaftsleistung, Realeinkommen, Wirtschaftsdenken) dürfen mithin als eingebettet in weitere soziale, kulturelle, religiöse, politische usw. Zusammenhänge gelten, die zur Erklärung auch der wichtigen ökonomischen Fragestellungen herangezogen werden müssen:
Wie wurden wir so reich, wie wir sind?
Warum hat es die Industrialisierung gegeben?
Warum sind weite Teile der Welt arm und nur kleine Teile reich?
Wieso lebt etwa die Hälfte der Weltbevölkerung unter dem Existenzminimum, während sich etwa 60 Privatleute ein Vermögen teilen, welches in etwa dem der Hälfte der Weltbevölkerung entspricht?