Lebe ich mein Leben selbst oder werde ich gelebt?
»In welchem Moment und bei welcher Tätigkeit Ihres Alltags waren Sie das letzte Mal glücklich?«, so lautet eine der ersten Fragen in der psychotherapeutischen Begleitung durch eine Lebenskrise. Oft müssen wir lange überlegen, ehe uns eine Antwort einfällt. Danach werden wir nachdenklich, wenn das Erlebnis, an das wir uns erinnern, entweder schon sehr lange her ist oder aber mit unserem täglichen Leben überhaupt nichts zu tun hat. Ja, und dann fällt uns noch ein, dass wir als Kinder oder Jugendliche eine genaue Vorstellung von unserem Leben gehabt haben. Wann haben wir den Anschluss an uns und unseren Lebensfaden verloren?
WARUM DER ROTE FADEN SO SCHWER ZU FINDEN IST
Unser Leben verläuft bis zu unserer Lebensmitte ohne großes Nachdenken, ganz nach Plan. Dem Beginn des erwachsenen Lebens haben wir mit dem Auszug aus dem Elternhaus und der Wahl unseres Berufs eine Richtung gegeben. Über unsere Vergangenheit haben wir nie länger nachgedacht, wichtig war nur, dass wir endlich selbstständig werden wollten. Je nach Temperament schienen die Ziele klar gesteckt. Mit dem Finden unseres Lebenspartners und der Familiengründung haben wir die Fahrt und die Richtung besiegelt. Und natürlich wollten wir viel, trauten uns eine Menge zu und dachten, unsere Kräfte seien ohne Ende. Wir waren getragen von dem Lebensgefühl, dass alles machbar und erreichbar ist.
Mein Leben als unvollendetes Strickwerk
Manchmal scheint mein Leben einem meiner unvollendeten Strickwerke zu ähneln. Ich habe es mit vielen guten Vorsätzen nach einer mitgelieferten Anleitung begonnen. Meine Eltern, meine Großmutter, meine Schwester, später meine Lehrer, meine Freundinnen und Freunde und noch einige andere Menschen haben mein Zopfmuster in seinem Verlauf, in seiner Farbwahl und Fadendicke deutlich mitgeprägt. Dann endlich konnte ich die Nadeln selbst in die Hand nehmen. Zuallererst wechselte ich die Nadeldicke von klein auf groß: ein weites, freies, großzügiges Leben sollte das werden! Auch die Anleitung warf ich weg: Ich stricke doch mein Leben nicht nach fremder Anleitung! Das Lebensstricken machte mir großen Spaß! Beinahe spielerisch entfalteten sich die Muster, gesellten sich neue Fäden dazu, veränderte sich der Farbton. Aber irgendwann begann, zunächst noch unbemerkt, der Fadensalat.
Folgende Fragen tauchen im Alter zwischen 35 und 40 Jahren erstmals in uns auf: »Bin ich am richtigen Platz?« »Mache ich das, was ich will?« »Wofür eigentlich die ganze Anstrengung?« »Soll das Leben jetzt immer so weitergehen?« Vielleicht müssen wir uns sogar eingestehen, dass wir mit Ende zwanzig wichtige private oder berufliche Entscheidungen getroffen haben, die – trotz allem Bemühen – nicht mehr tragfähig sind.
Aus Strickwerk wird Flickwerk
Die Fäden wurden immer mehr, sie wechselten die Farben, ließen sich von vielen fremden Händen beeinflussen. Ich begann, den Überblick zu verlieren. Wo war ich denn geblieben? Die Arbeit begann, mich zu überfordern, die Aufgaben waren zu viele und zu schwer. Jetzt merkte ich, dass ich meinen Lebensfaden verloren hatte, auch vom Muster entdeckte ich nichts mehr. Ich verlor erst die Freude, dann die Kraft. Auf einmal sah ich die Löcher in meiner Lebensstrickarbeit. Ich hatte auch Maschen verloren, sogar gerissen waren mir einige Fäden. Ich war am Ende und wollte die Arbeit weglegen. Da raunte mir ein versteckter, ganz dünner und zerschlissener Faden zu. Ganz leise musste ich werden, um ihn zu verstehen.
Prüfungen in der Lebensmitte gehören zum Leben des modernen Menschen dazu. Der Gehirnphysiologe Gerald Hüther berichtet, dass wir in einer Krise an die Wand fahren müssen, ehe wir bereit sind, neue Wege zu probieren. Erst wenn wir mit allen vorhandenen alten Strategien wirklich nicht mehr weiterkommen, ist neues Lernen möglich! Wir können uns die alten, gewohnten Muster in unserem Gehirn wie Autobahnen mit großen Auffahrten vorstellen. Es braucht nur eine gewisse Situation aufzutreten und reaktiv fahren wir auf den entsprechenden Zubringer. Jeder von uns kennt das. Alle Auffahrten müssen blockiert sein, bevor wir jenseits der alten Verhaltensweisen nach neuen Wegen suchen.
Wenn auch das Flickwerk nicht mehr hält
Wir, mein Lebenspartner und ich, ahnten es schon einige Zeit und dachten, wenn wir uns taub stellten oder den Kopf in den Sand steckten – die Arbeitswelt, die Familienpflichten, unsere Ideale, das Freizeit- und Konsumangebot boten viele Möglichkeiten auszuweichen – dann würde die Krise an uns vorüberziehen. Endlich mussten wir erkennen, dass jeder von uns seinen Lebensfaden verloren hatte und es auch kein gemeinsames Muster mehr gab. Die entstandenen Löcher und die zerrissenen Fäden schienen nur noch eine Trennung zuzulassen. Der Schmerz und die Schuldgefühle waren groß, und doch ließ die tiefe Sehnsucht nach Wahrheit und Authentizität kein Flickwerk mehr zu.
Es muss aber nicht immer eine Krise sein. Unser Leben kann auch ganz ruhig und geradlinig dahinplätschern. Eines Tages schauen wir in den Spiegel und fragen uns: »Soll es das gewesen sein?« Oder: »Was ist aus meinen Träumen geworden?«
Es ist Teil des Lebenslaufes, dass wir in der Kindheit unsere Träume noch genau kennen. Dann gehen wir zur Schule, lernen und machen unseren Abschluss. Schon bei der Wahl von Ausbildung oder Studium treten oft praktische Gründe in den Vordergrund. Spätestens als Berufsanfänger sind wir froh, endlich selbstständig zu sein. Im weiteren Verlauf des Buches werden Sie verstehen, warum wir gerade in der Lebensmitte auf die Frage nach unserem roten Lebensfaden gestoßen werden. Diese Frage kann der Einstieg in die Biografiearbeit sein.
BIOGRAFIEARBEIT: WORUM GEHT ES?
In der Biografiearbeit lernen wir, unseren auf Probleme gerichteten Blick in einen lösungsorientierten Blick zu verwandeln. Wir betrachten das Leben in seinem Zusammenhang. Wir bekommen ein Gefühl für unseren roten Lebensfaden. Dies schenkt uns Vertrauen für die Zukunft. Wir nehmen uns in unserem Ich ernst. Wir sind als Menschen lebenslang lern- und damit entwicklungsfähig. Wir dürfen das Älterwerden als Geschenk für unsere seelische Entwicklung begreifen. Wir übernehmen Verantwortung für unser Leben und treten schrittweise aus der passiven Opferrolle in eine aktive Lebensgestaltung. Wir werden zum Regisseur unseres Lebens.
Die Biografiearbeit verbindet uns mit unseren Ressourcen, führt zu mehr Spannkraft und stärkt damit unsere Widerstandskraft und Belastungsfähigkeit. Sie fördert die Selbstwirksamkeit und damit die Fähigkeit zur Selbstregulation, die Voraussetzung von körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit ist. Wir lernen, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir merken, dass die Grundkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten des Lebens uns den Umgang mit unseren Mitmenschen erleichtern. Dieses Wissen hilft jedem, der sein Leben bewusst gestalten und seine sozialen Beziehungen tiefer verstehen möchte.
INFO:
WAS SIE MIT BIOGRAFIEARBEIT ERREICHEN KÖNNEN
Sie können sich wieder mit Ihrem Lebensfaden in Verbindung bringen.
Sie können der Mission Ihres Lebens auf die Spur kommen. Dabei kann Ihnen die Erkenntnis helfen, dass sich hinter den leidvollen Erfahrungen Ihres Lebens oft das Leitmotiv Ihres Lebens verbirgt.
Wenn Sie Ihr Leitmotiv kennen, können Sie Ihre Berufswahl neu verstehen und bewusster die Weichen für die berufliche Weiterentwicklung in den nächsten Jahren stellen.
Sie können Ihre Lebensmittekrise mutig überwinden und zum Regisseur Ihres weiteren Lebens werden.
Sie können Zuversicht und Vertrauen für die Zukunft bekommen.
Sie können Ihre Stärken und Ihre Entwicklungsmöglichkeiten kennenlernen und besser nutzen.
Verwurzelt in der Anthroposophie
Rudolf Steiner (1861?–?1925) ist vor allem durch den Aufbau der Waldorfschulen bekannt geworden. In der von ihm begründeten Anthroposophie nimmt er den Menschen in seiner Einheit aus Leib, Seele und individuellem Geist ernst und beschreibt ihn in seinem lebenslangen Entwicklungspotenzial. Dabei wird das Eingebundensein des Menschen als Mikrokosmos in den ganzen Makrokosmos der Welt berücksichtigt. In Anknüpfung an die Philosophen und Geisteswissenschaftler seiner Zeit versucht Rudolf Steiner, den Menschen als Bürger zweier Welten, nämlich des Himmels – die Welt der Spiritualität – und der Erde – die Welt der Tatsachen –, bis in den Alltag hinein ernst zu nehmen. Das macht Steiner so interessant für den heutigen Menschen, der deutlich spürt, dass Tradition und Herkunft als Urteilsgrundlagen für das eigene Leben nicht mehr ausreichen: Er findet konkrete Verständnishilfen für den kleinen und großen Zusammenhang zwischen Mensch, Welt und Kosmos.
In der Biografiearbeit greift Rudolf Steiner das Wissen aus der Antike um die Wichtigkeit der Lebensjahrsiebte auf und führt es weiter in seiner Bedeutung für eine moderne, selbstbestimmte Lebensgestaltung. Jeder Mensch ist eingebunden in diese allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, in deren Rahmen er als Individuum mit seinem schöpferischen Ich seine einmalige Geschichte zu schreiben vermag. Ja, es ist Ihre eigene Geschichte, um die es hier geht! Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, Spiegelungen und Krisenpunkte des menschlichen Lebenslaufes finden in jedem individuellen Schicksal ihre einmalige »Lebensbühne«.
Die Bedeutung der...