7. Wie wir das Fühlen verloren haben
In dieser Zeit ist es spätestens an der Zeit, das Fühlen wieder zu erlernen, uns daran zu erinnern, dass wir als kleine Kinder, jedenfalls die meisten von uns, noch fühlen konnten.
Uns die Fähigkeit zu Fühlen zurück zu holen, bedeutet, uns unserer Vergangenheit zu stellen. Wir müssen uns anschauen, wie wir das Fühlen verloren haben. Und dieser Prozess ist kein analytischer Prozess. Wir kommen nicht drum herum, die schmerzlichen Gefühle zu fühlen, die auftauchen, wenn wir uns erinnern an die Zeiten als wir klein und ausgeliefert waren.
Wir haben in ganz früher Zeit so starke seelische Schmerzen erfahren, dass sich unser angeborener Überlebensmechanismus eingeschaltet hat, nämlich die Blockierung des Schmerzempfindens und das Vergessen. Damit ist die natürliche Entwicklung unseres Fühlens gestört und unterbrochen.
Unser Fühlen zu blockieren garantiert uns das Überleben. Das ist so. In der Psychologie heißt es, Vermeidung und Verdrängung dienen dem Überleben, aber was wird denn vermieden, und was wird denn verdrängt? Es sind schmerzliche Gefühle, die verdrängt und vermieden werden.
7.a. Frühe Kindheit
In unserer frühen Kindheit gab es lebensbedrohliche Ereignisse, die uns den Tod beschert hätten, wenn wir sie komplett hätten fühlen können. Ein Widerspruch in sich? Stattdessen schaltet der Organismus ab, die Wahrnehmung zieht sich zurück, Nervenenden verkümmern, wachsen nicht weiter.
Frederick Leboyer fragt am Anfang seines 1974 erschienenen Buches „Der sanfte Weg ins Leben“10, das inzwischen ein Klassiker ist, und bitteschön, lesen Sie es, wenn Sie tief berührt und erinnert sein möchten:
„Glauben Sie, dass es angenehm ist, wenn man geboren wird? – Glauben Sie, dass Kinder glücklich sind, wenn sie zur Welt kommen?“
und er sagt weiter:
„Muß ich Sie daran erinnern, dass Kinder unendlichen Kummer haben können, dass das traurige und wunderbare Privileg der Kleinen darin besteht, alles tausendmal intensiver zu empfinden als wir?“
Arthur Janov schreibt in seinem 1983 erschienenen Buch „Frühe Prägungen“11:
„Viele von uns glauben, dass ein neugeborenes Kind wenig mehr ist als ein Protoplasmaklümpchen, das sehr wenig fühlt, noch weniger versteht und kaum auf seine Umgebung reagiert. Wahr ist jedoch das Gegenteil. Das Neugeborene fühlt stärker, als es vielleicht jemals wieder fühlen wird; es hat ein weit offenes <sensorisches Fenster>, das es ihm gestattet, so voll und ganz zu reagieren wie vielleicht niemals wieder; und es wird geboren und erlebt sein neues Leben ohne einen trügerischen Schleier von Ideen, was beinahe ohne jeden Zweifel nie wieder der Fall sein wird.“
Unsere Fähigkeit, zu fühlen, ging verloren, weil unsere Eltern unser intensives Fühlen als Kinder, als Neugeborene, nicht wahrnehmen konnten oder eben nur in sehr abgeschwächter Form.
Wenn wir erwachsen sind, ist unser Fühlen ständig überlagert von unserem Denken, von dem, was wir wissen, von unseren Vorstellungen und Ideen, und es ist ständig überlagert vom eigenen Urschmerz. All das hindert uns, offen und ohne Urteil präsent zu sein. Als Erwachsene können wir so unsere großen und kleinen Kinder in ihrer Tiefe nicht verstehen. Wir können ihr Fühlen nicht fühlen. Das war früher so, und das ist heute immer noch so.
Für die Kinder bedeutet das, dass sie allein sind, allein gelassen. Denn buchstäblich so ist das. Ohne es zu wissen, lassen wir sie allein mit ihrem Sein. Wir können es nicht mit ihnen teilen.
Das ist tragisch. Die scheinbare Lösung aus dieser Tragik ist Anpassung. Sie passen sich uns an, weil sie nicht anders überleben könnten und werden genauso neurotisch, wie ihre Eltern, d.h. sie können nicht sie selbst sein und bleiben. Sie müssen von sich wegrücken, sie ver-rücken sich selbst. Das geschieht einfach. Es ist keine Entscheidung. Es ist Nachahmung und Anpassung. Kinder lernen durch Nachahmung der Erwachsenen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess. Das Verhalten der Erwachsenen ist maßgebend für sie. Als Erwachsene setzen wir diesem Prozess unsere Erwartungen und Forderungen oben drauf und nennen das Erziehung.
In unserer Kultur gehen wir eher davon aus, dass Kinder unvollständig sind und wir ihnen zeigen müssen, wie und was sie werden müssen. Kinder spüren sehr wohl das Gespalten-Sein ihrer Eltern und auch der anderen Erwachsenen, mit denen sie zu tun haben, und das erzeugt oft starke Konflikte in ihnen. Viele von uns können sich erinnern, wie ihnen das zu schaffen gemacht hat, dass die Erwachsenen Dinge eingefordert haben, die sie selbst nicht gelebt haben, wie oft ihr Reden und ihr Tun zweierlei war. In der Pubertät brachen dann oft diese Konflikte in Form von Protest und Widerstand aus uns heraus.
Wir alle, in zivilisierten Ländern jedenfalls die meisten von uns, haben als Kinder diese Erfahrungen gemacht. Wir sind durch diesen Prozess der Neurotisierung, der Spaltung unseres Selbst, der Entfremdung von uns Selbst gegangen, und wir sorgen nun dafür, dass auch in unseren Kindern die natürliche Entwicklung des Fühlens gestört wird, und so werden auch diese dafür sorgen, dass diese Störung wiederum an ihre Kinder weitergegeben wird. Wir können nicht anders. Wir müssen die natürliche Entwicklung des Fühlens stören, weil wir selber nicht fühlen können. Wir können die Bedürfnisse unserer Kinder nicht fühlen, genauso wenig, wie wir unsere eigenen Bedürfnisse fühlen können. Wir können ihren Schmerz nicht fühlen, genauso wenig wie unseren eigenen. Darum ist uns auch immer so wichtig, jemanden, der sich im Schmerz befindet, zu trösten und zu stoppen.
„Wirkliche Elternliebe bedeutet, dass ein Kind sich von seinen Eltern gefühlt fühlt. Mangelt es daran, führt das zu innerer Wertlosigkeit, die wiederum zur Grundlage von konstruktiven und destruktiven Verhaltensweisen im Erwachsenenalter wird.“
schreibt DS Barron in seinem Buch: „Es gibt keine negativen Gefühle“12.
Er stellt die Frage, was denn Bestätigung, Sicherheit und Liebe für ein Kind wirklich sind. Was ist das genau, was Kinder brauchen? Barron schreibt, dass wirkliche Elternliebe nichts mit den Dingen zu tun hat, die üblicherweise für wichtig gehalten werden. Er bietet ein völlig anderes Kriterium für ausreichende Elternliebe an, das auch erklärt, warum auch liebevolle Eltern ihren Kindern nicht das geben, was sie wirklich brauchen. Barron sagt, Kinder brauchen es, zutiefst in das eigene Herz hineingelassen zu werden. Seine Definition von Liebe heißt, den anderen fühlen können, und das kann nur geschehen, so Barron, wenn
„…die eigenen inneren Widerstände gegen Liebe heilen und authentische Offenheit oder emotionale Reife in sich selbst entwickelt [sind].“13
Und wichtig ist der Zusatz, dass dies energetisch gelebt werden muss,
„…neue mentale Haltungen verändern überhaupt nichts.“
Es nützt uns nichts, etwas zu wissen, wenn wir es nicht fühlen können. Erst wenn wir unsere Gefühle fühlen können, können wir auch den anderen fühlen. Erst dann können wir seine Bedürfnisse wahrnehmen und erfüllen.
Dazu ist die uneingeschränkte Annahme all unserer Gefühle nötig und der Mut, uns den eigenen Ängsten zu stellen. Fühlend zu sein, spart nichts aus, nur weil es unangenehm ist. Wenn ein unangenehmes Gefühl vermieden wird, ist man nicht mehr fühlend sondern vermeidend.
„Wenn Kinder nicht fühlen können, dass sie von ihren eigenen Eltern gefühlt werden, dann erleben sie eine traumatische Dissonanz zwischen ihrer eigenen inneren Welt und der Welt ihrer Eltern. … Aufgrund der Autoritätsstellung der Eltern bildet sich so ein dauerhaftes Trauma.“14
Kinder fühlen sich selbst schuldig bei jeder Dissonanz mit den Eltern. Sie nehmen an, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimmt, dass sie nicht okay sind, so wie sie sind. Das ist letztlich die Ursache für das Urgefühl von Wertlosigkeit, das jeder Mensch in unserer Zivilisation auf dem tiefsten Grund seiner Seele in sich trägt. Barron spricht hier von der universalen Wunde der Menschheit, und ich nenne das Wegrennen vor den sogenannten negativen Gefühlen ein universales Muster.
„Um von ihren Eltern akzeptiert zu werden, geben Kinder irgendwann ihre eigene Wahrheit zugunsten der Wahrheit der Eltern auf – und tauschen damit die Natürlichkeit ihrer emotionalen Authentizität gegen die Normalität der Eltern aus, nämlich Inauthentizität, mit dem Ziel, endlich zu bekommen, was sie sich wünschen. Kinder, die dies nicht tun und weiter gegen etwas ankämpfen, was sie nicht einmal richtig benennen können, werden als Problemkinder eingestuft und schlimmstenfalls mit Psychopharmaka in die psychologische Norm gezwängt. …
Die Mehrheit von uns, die sich entsprechend angepasst hat, wird für ihre...