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E-Book

Wohin der Wind mich trieb

AutorAnne-France Dautheville
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783105618318
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Eine junge Frau erobert mit Mut, Charme und Motorrad den südamerikanischen Kontinent. Mit seltener Frische und Direktheit beschreibt Anne-France Dautheville ihre Abenteuer abseits aller Zivilisation, erzählt von ihren aufregenden Erlebnissen zwischen Revolutionen und ausufernden Volksfesten, Voodoo-Ritualen und Versuchen machismo-besessener Männer, ihr um jeden Preis »Gutes« tun zu wollen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Anne-France Dautheville wurde bekannt als erste Frau, die alleine auf einem Motorrad um die Welt fuhr.

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Leseprobe

2 Die «Mitte der Welt»


ECUADOR steht auf einer großen Tafel auf der anderen Seite der Rumichaca-Brücke, COLOMBIA stand auf derjenigen, die ich gerade passiert habe.

Meine erste ecuadorianische Stadt heißt Tulcán. Der Tag neigte sich, als ich ankam. Auf der Plaza de Armas setzt ein Steinpferd zum Sprung an; die Hinterbeine stehen auf einem Sockel, der Rest bäumt sich himmelwärts mit einem General auf dem Rücken. Wieso fällt das Ganze nicht um? Geheimnis plus Klebemasse.

In den Läden rings um die Kirche sind die Lichter bereits angezündet, und dennoch wirkt die Stadt düster und traurig. Ich trat bei einem Schuster ein, da er hübsche Sachen im Schaufenster hatte. «Bist du eine Deutsche?»

«Nein, Französin. Mir gefallen deine Schuhe. Woher bekommst du sie?»

«Ich fertige sie selbst an.»

Er legte mir dicke, drei Jahre alte Kataloge mit Schuhen von Jourdan, Carel und anderen europäischen Spezialisten vor. Man sucht sich seinen Traum aus, und er verwirklicht ihn. «When I get the blues, I buy me a pair of shoes», singen die Schwarzen aus Alabama.

Ich drehte den erlesenen Schuhen, made in Tulcán, den Rücken zu und ging auf Befehl meines Magens in ein Restaurant, wo die Beleuchtung nicht zu grell und die Musik nicht zu laut war und wo die Kellnerin lächelte. Am hinteren Ende des Saals diskutierten an einem Tisch mit Stapeln von Büchern und mehreren leeren Bierflaschen zwei betagte Poeten. Ich verstand nicht, was sie sagten, aber das spielte gar keine Rolle, denn ihre Unterhaltung war wie ein Tanz. Mal streckte sich ein Arm aus, und das kleine Restaurant verwandelte sich in einen Ozean, mal blätterte eine Hand in einem Buch, und das Lokal wurde zum Tempel zeitloser Weisheit. Das sind die wahren Poeten, die sich die Welt nach ihren eigenen Gesetzen formen.

Als ich meine Mahlzeit beendet hatte – in den Anden ernährt man sich von Suppen aus Mais, Kartoffeln und Reis, die zuweilen mit ein wenig hauchdünn geschnittenem Fleisch angereichert sind –, trat einer der Poeten mit königlicher Grazie auf mich zu. «Wir sprechen über Literatur, und es wäre uns eine Ehre, wenn Sie sich zu uns setzen würden.»

Ich setzte mich zu ihnen unter ihre Lampe. Eine weitere Flasche Bier mußte dran glauben, dann eine zweite und dritte. Ein Geschwader bierseliger Musen trug uns in die Gefilde der Gefühle und der vereinigenden Worte. Meine beiden Poeten lasen mir aus ihren Werken vor, die schlicht, kraftvoll und schön waren. Das Bier und die Worte schickten uns zwischen die Sterne zum Tanzen … Ich fürchte, ich war nicht ganz nüchtern an diesem Abend.

Als ich mich von meinen Freunden, meinen Brüdern, verabschiedete, schrieben sie mir je ein Geschenk in mein blaues Notizbuch: «Für eine Reisende, die des Weges zieht wie die Poeten. Carlos Posso, Tulcán, 28. März 1981.» Und: «Nur die Horizonte des Menschen auf seiner endlosen Reise machen aus uns drei Reisende für immer. Umberto Varda, Tulcán, 28. März 1981

 

Am nächsten Morgen weigert sich mein Motorrad, anzuspringen. Ich habe mindestens tausendmal auf den verfluchten Kickstarter getreten.

«Das liegt an der Höhe», belehrt mich ein Passant.

«Wie hoch?»

«3000 Meter.»

Mit einem Tritt voller Wut setze ich es schließlich doch in Bewegung.

Im unteren Teil der Stadt schlafen die Toten.

Der Friedhof von Tulcán ist in ganz Südamerika berühmt für seine Skulpturen. Sie sind weder aus Holz noch aus Stein, es sind Baumskulpturen.

Seit vierzig Jahren formt Benigno Franco, Gärtner von Beruf und aus Leidenschaft, Buchsbäume zu Vögeln, Tieren oder Engeln, schneidet sie zu Tunneln oder zu einer Art Wand, die er mit komplizierten Basreliefs ausschmückt. Man geht auf diesen Friedhof wie in ein Museum. Wenn Benigno Franco stirbt, werden die Buchsbäume in ihren wilden Zustand zurückkehren, denn niemand versteht wie er, mit Bäumen umzugehen. Und die Toten werden ihre Stille zurückgewinnen, und Tulcán wird wieder nichts als eine kleine Grenzstadt sein.

Im Moment belebt noch eine andere Art von Gewerbe dieses Gebiet: Zwischen Kolumbien und Ecuador herrscht ein reger Handel, besonders Schwarzhandel. So hinterging ein Mann jahrelang die Zollbeamten, bis er eines schönen Tages erwischt und ins Gefängnis gesteckt wurde.

Der Mann richtete sich für längere Zeit in seiner Zelle ein. Seine Frau kam ihn besuchen, seine Kinder kamen ihn besuchen und seine Vettern und die Vettern der Vettern; der Besucherstrom aus der Stadt riß nicht mehr ab. Man wunderte sich, stellte Nachforschungen an und entdeckte, daß der Inhaftierte einen kleinen Supermarkt im Gefängnis betrieb. Es soll sogar Leute gegeben haben, die mit einer Waschmaschine oder einem Eisschrank davonzogen.

«Wann wird dieser Mißstand endlich beseitigt?» entrüstete sich tugendhaft das Lokalblättchen.

 

Sie kamen auf Dämonen mit eisenbeschlagenen Hufen, die Funken sprühten, wenn sie auf die Steine am Wegrand schlugen. Im Arm hielten sie einen Ast, zur Hälfte aus Metall, der Feuer und Tod ausspie.

Sie schändeten die Tempel und Gräber, pinkelten auf die heiligen Mumien, lachten und sangen in ihrer Sprache. Die Priester, die Kaziken und Inkas schrien unter ihren Marterwerkzeugen. Die Fremden wollten Gold. Sie brannten ganze Dörfer nieder, schnitten den Männern die Hoden ab und vergewaltigten sterbende Frauen, weil sie Gold wollten. Die Indianer, die Söhne der Sonne, wurden weniger geachtet als Hunde. Alles eigneten die mächtigen Fremden sich an, sogar die Seele ihrer Sklaven. Unter Peitschenhieben und Androhung des Scheiterhaufens zwangen sie die Sklaven, die Messe zu singen. Sie sagten ihnen: «Leide für deine Sünden; wenn du tüchtig weinst, erwirbst du das ewige Leben.» Aber die Indianer glaubten nicht ans ewige Leben; die Brutalität hatte jeden Glauben in ihnen zerstört.

Nachdem die Fremden das Gold gestohlen hatten, entdeckten sie den guten Ackerboden am Fuß des Gebirges. Und wiederum knallten die Peitschen: «Mach das Land urban, Indianer! Arbeite! Pflanze! Ernte! Schneller … spute dich!»

Sie waren Menschen der Gipfel. Der Wind, der in die Haut der Weißen biß, war ihr Freund; die nächtliche Kälte, wenn die Sterne glitzerten, war ihre Gefährtin. In der Ebene starben sie an Fieber, Erschöpfung und Heimweh. Daraufhin schickten die Fremden ihre Schiffe nach Afrika und kauften dort Neger.

In den Sklavenhütten folgten auf die Bambusflöten die Tamtams. Aber das Blut hatte die gleiche Farbe unter der Peitsche, und die Verzweiflung war gleich groß.

Die Pflanzen gediehen, die Weißen wurden reich. Alles andere war ihnen gleichgültig. Aus dieser grauenvollen Zeit ist die schöne, traurige Musik übriggeblieben, und das Elend, und die Negerdörfer in den tropischen Niederungen.

Plötzlich, nachdem ich eine Berghöhe überwunden hatte, fand ich mich in Afrika wieder. Rote Hänge endeten in einem Tal voller grüner Obstbäume. Häuser mit Wellblechdächern standen entlang einer staubigen Straße, Dutzende von schwarzen nackten Kindern liefen hinter einem alten Ball her. Frauen in rosa Kattungewändern kamen zu zweit oder dritt vom Fluß her, wo sie Wasser geholt hatten.

Dann ging es von neuem bergauf, und ich fuhr wieder durch indianisches Gebiet. Endlich ging mir ein Licht auf. Eben noch pinkelte ein Neger am Straßenrand, und jetzt ist es ein Indianer. Seine Beine sind aneinander gepreßt, der Rücken ist etwas gebeugt, die Hände liegen flach auf dem Bauch. Er schämt sich, das Wasser zu verlieren, das der Himmel ihm anvertraut hat. Der Neger dagegen steht breitbeinig da, eine Hand in die Hüfte gestützt, das Gesicht der Sonne zugewandt. Er bietet der Natur den Saft seines Körpers dar.

Und so reiste ich auf dieser kurzen Strecke zwischen Südamerika und Afrika hin und her. Die Berge waren mal grün, mal braun, rot oder blau, steil, und immer überwältigend.

 

In San Antonio de Ibarra zeigt mir Segundo Benavides, Bildhauer und Maler, wie man aus einem kleinen Stück Holz einen Christus hervorzaubert. Sein Meißel wirbelt kleine Späne in die Höhe; die Wange rundet sich, die Nase verfeinert sich, der Mund nimmt einen schmerzlichen Zug an. Segundo verbringt sein Leben mit dem Schnitzen von Heiligen, Märtyrern und Aposteln und hört dabei Radio.

Seine Figuren werden in Kirchen aufgestellt, wo die Menschen vor ihnen niederknien, Alte und Junge, und ihnen alle Leiden dieser Welt anvertrauen. Und das kleine Stück Holz füllt sich allmählich mit tausend Gebeten, tausend Hoffnungen, tausend heimlichen Wünschen – und mit Liebe.

 

Ein großes Unwetter ballt sich über Ibarra zusammen. Ich sehe, wie es sich heimlich nähert; einige ferne Donnerschläge verraten es. Schnell den fünften Gang einlegen und Kurs nach Süden nehmen.

Der Motor grunzt, zufrieden, daß er seinen Zylinder säubern kann. Nur fort aus den Vororten Ibarras, nur fort von hier. Am Rand der Landstraße verkauft eine Frau Maiskolben. Ich vergesse das Unwetter und halte bei der Feuerstelle, wo sie die Kolben röstet. Sie ist eine schöne Frau mit herben Zügen, schwarzen Augen und kupferfarbener Haut. Sie trägt einen langen dunklen Rock, eine bestickte weiße Bluse, einen Filzhut und eine vielreihige Kette aus goldenen Perlen, die ihr wie ein Schal um den Hals liegen. Kaum erblickt sie mich, fängt sie an zu lachen. Ein Mädchen in einer weißen Ledermontur und mit einem Astronautenhelm allein auf einem Motorrad – das gibt’s doch nicht! Ich lasse mich nicht beirren.

«Du bist die erste Indianerin in Tracht, die ich sehe. Darf ich dich...

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