Einleitung
Im Juli 1953 schrieb der damals elfjährige Wolfgang Hilbig aus dem Ferienlager in Posterstein (Thüringen) an seine Mutter, dass sie fast jeden Tag wandern gewesen seien und an manchen Tagen auch in Ronneburg baden waren. Sie würden auf einer Burg wohnen und auf Strohsäcken schlafen. Es sei schon allerhand passiert im Ferienlager, aber sie müsse sich keine Sorgen machen – Ärger hatte es seinetwegen nicht gegeben. Der Junge fühlte sich wohl in Posterstein. Auch das Essen schmeckte ihm. An dem Tag, an dem er seiner Mutter schrieb, gab es eine Bockwurst zum Mittagessen, was er ihr freudig mitteilte. Unzufrieden war er hingegen mit der Bonbon-Versorgung, die seiner Meinung nach besser hätte sein können. In dem zwei Seiten langen, mit Bleistift geschriebenen Brief beschwert er sich aber auch darüber, dass er keine Post bekommen hat: »Warum schreibt Ihr mir nicht? Fühlt Ihr Euch zu wohl oder seid Ihr gestorben?«[1] Da er aber von seiner Mutter ein Messer und zwei Mark erbat, war er sicher davon ausgegangen, dass sie noch am Leben sein würde. Doch befremdet hatte ihn ihr Schweigen schon.
Im darauffolgenden Jahr, erneut hielt er sich in einem Ferienlager auf, ließ er seine Mutter und seinen Großvater wissen, dass er nun nicht wieder auf einem Strohsack schlafen müsse. Wie rasant sich die Zeiten änderten, und zwar zum Positiven hin, Hilbig hatte es zu spüren bekommen: »Wir schlafen in Betten.«[2] Und damit nicht genug: »Wir haben extra Zudecken.«[3] Die bequemere Schlafstätte war ihm ebenso eine Mitteilung wert wie die extra Decke, die ihm nun zur Verfügung stand. Er hatte es warm und war geschützt vor Wind und Wetter.
Auf eine frühe literarische Begabung des späteren Georg-Büchner-Preisträgers deutet in diesen Briefen nichts hin. Der Brief aus Posterstein ist das älteste schriftliche Zeugnis, das von Wolfgang Hilbig existiert. Es befindet sich in Privatbesitz. Der ein Jahr später geschriebene Brief hingegen gehört zur Wolfgang-Hilbig-Sammlung der Berliner Akademie der Künste. Neben der Sammlung wird der 46 Archivkästen umfassende Wolfgang-Hilbig-Nachlass, der der S. Fischer Stiftung gehört, von der Akademie als Depositum betreut. Weder in der Sammlung noch im Nachlass findet sich Hilbigs letztes Gedicht »als sie noch jung waren die winde«, das am 29. März 2007, wenige Monate vor seinem Tod, entstanden ist.[4] Das lyrische Ich des Gedichts erinnert sich am Lebensende an eine vergangene Zeit, zu der die Winde gehörten: »jetzt wenn ich das land durchstreife / und nicht mehr weiß / wo ich bin / und nichts mehr wissen will / in meinem herzen / denk ich an die winde / die alt geworden sind«.[5] Längst ist die einstige Freude über ein gutes Essen, ein eigenes Bett und eine wärmende Decke vergessen.
Der frühe Brief des Elfjährigen aus dem Ferienlager und das letzte Gedicht des anerkannten Autors rahmen Hilbigs schriftliches Leben. Viele Jahre hat er als Heizer in den Kellern von Großbetrieben gearbeitet und Kohle in Öfen geschaufelt. Wie viele Tonnen es waren, lässt sich nicht einmal schätzen. Wie viele Manuskriptseiten der Schriftsteller Wolfgang Hilbig geschrieben hat, wissen wir auch nicht. Doch während die von ihm verheizte Kohle zu Asche zerfallen ist, haben sich im Nachlass neben seinen gedruckten Gedichten, Erzählungen und Romanen zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte und Typoskripte gefunden. Sie bilden zusammen mit den bereits publizierten Texten die Basis dieser Biographie.
Hilbigs handschriftliche Aufzeichnungen – meistens verwendete er linierte oder karierte A5-Blätter oder A5-Hefte, wobei er bei den Heften die mit einem etwas stärkeren Umschlag bevorzugte – sind Dokumente eines Lebens, in dem das Schreiben von zentraler Bedeutung war. Vom weißen Papier ging für ihn ein Reiz aus, wobei das Weiße auch seine »dunklen« Seiten hatte: »Mit dem Papier aber, das plötzlich vor mir lag und nach Schriftzeichen verlangte, trat ein neues Element hinzu, das die Schwierigkeit der Aufgabe um ein Mehrfaches potenzierte; jetzt genügte es meiner Sprache nicht mehr, daß sie nur durch meine, von meinem Auge unterstützte, Stimme bearbeitet ihren Weg zu meinem Gehirn nahm, um von diesem so widerspruchslos empfangen zu werden, daß schon darin, in diesem Einweg, ihr schnelles Vergessen begründet lag, das Papier schaltete sich in dieses System mit seinen spezifischen Forderungen so diktatorisch ein, schob sich so in den Vordergrund, daß meine Monologe sofort am Bewußtsein seiner Existenz erkrankten und ihr Dahinströmen unterbrachen. Die Existenz des Papiers wollte als eine solche reflektiert sein, es war das Dasein leeren Papiers, das vor mir auf den Tisch geraten war, eigens damit es von mir beschrieben würde, und so, als solle dies Schreiben den Beweis für die Wahrheit des Lebens liefern, vielleicht würde mein Leben sich in Zukunft nur noch dadurch beweisen, daß ich jenes vor mir liegende, mich zur Lebendigkeit treibende Papier beschrieb; die Existenz des Papiers würde ab jetzt weitgehend identisch mit meiner eigenen sein, die Existenz des Papiers hatte mein bisheriges Leben ausgelöscht und mich vor die Alternative eines kommenden zweiten gestellt, wenn ich mein zweites Leben nicht auf dem Papier erfüllte, würde es eine Farce bleiben, ach, eine Luftspiegelung, mit der die Wüste an die lange Zurückgebliebenen, ach, an die Toten erinnert.«[6]
Von Biographien hielt Wolfgang Hilbig wenig. Geradezu abwegig erschien ihm der oft so lustvoll an den Tag gelegte biographische Ehrgeiz, erste Anzeichen einer schriftstellerischen Begabung bereits in der Kindheit der Auserkorenen entdecken zu wollen. Diese Skepsis überträgt Hilbig auf den Protagonisten seiner Erzählung »Der Brief«. C. hegt Zweifel, ob es wirklich sinnvoll ist, wenn Biographen die Kindheit nach Spuren durchforsten, um Hinweise darauf zu finden, warum jemand geradezu berühmt werden musste. Wenn sich nämlich der Erfolg durch alle Phasen eines Lebens ziehen soll, dann wird ausgeblendet, was diesem Bild widerspricht.
Biographien widmen sich in erster Linie Berühmtheiten. Allerdings überzeugt Hilbig die schlichte Annahme nicht, dass zwangsläufig berühmt werden muss, wer einer berühmten Familie entstammt. Wäre diese Vermutung zutreffend, dann würde niemand in der Lage sein, seiner Herkunft zu entkommen. Dies jedoch war Hilbig gelungen. Doch er blieb skeptisch. Als er bei E.M. Cioran auf den Satz stößt: »Man muß sich auf jeden Fall von seinem Ursprung lösen«, kommen ihm Zweifel. Zunächst ist er sich noch sicher, dass er einen Bruch herbeigeführt hat: »Das habe ich getan, ich habe mich aus der Fuchtel (buchstäblich Fuchtel) meines Großvaters, des Analphabeten, gelöst, unter der ich aufgewachsen bin.« Unmittelbar nach dieser Feststellung aber stellt er sich die skeptisch klingende Frage: »Aber habe ich mich wirklich gelöst?«[7]
Dass er sich aus der durch seine Herkunft vorgegebenen Bindung nicht gänzlich würde befreien können, wusste er. Auf Hilbigs Kindheit und Jugend lag ein Schatten, den er im Gedicht »ende der biografie« andeutungsweise erwähnt, wenn es dort heißt: »schiefgezogener vorhang über verbissener kindheit wenn ich ihr / nachdenke. wie schnell verströmte sich das rauschen: in der angstbegabten / muschel meines munds. blut im gehör. mit all dem stahl ich mich voran / ins mannesalter.«[8]
Im Essay »Vorblick auf Kafka« schreibt Hilbig: »Den Verfassern literarischer Monografien scheint es nur zu selbstverständlich, daß sich das Leben ihrer Auserwählten in der im Rückblick vorgefundenen Form abspielen mußte, die faktischen Realitäten eines von seinem Abschluß her betrachtenden Prozesses scheinen ihnen allemal recht zu geben.«[9] Dieser Überzeugung ist auch Hilbig, der in seinem Werk ebenso präsent ist wie es nach Ansicht von Walter Benjamin Marcel Proust in dem seinen war: »Man weiß, daß Proust nicht ein Leben, wie es gewesen ist, in seinem Werk beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der, der’s erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist auch das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben der Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens.«[10] Der Gedanke ist auf Hilbig und dessen Werk übertragbar, der sich, als er ernsthaft zu schreiben begann, in der eigenen Biographie auf die Suche nach Erinnerungen begeben hat.
Den endgültigen Bruch mit seiner Herkunft vollzog Hilbig, als er im November 1980 eine Steuermarke beantragte, um fortan ein Leben als freischaffender Schriftsteller zu führen. Wäre es nach seiner Mutter und nach seinem Großvater gegangen, dann hätte aus dem Jungen etwas Ordentliches werden sollen. In dieser Hinsicht war für die beiden nur der Beginn seines Berufslebens akzeptabel. Er erlernte den Beruf eines Bohrwerkdrehers, um dann – so seine Formulierung – zum Heizer »aufzusteigen«. Doch was für ihn ein Aufstieg war, galt in seiner Familie als sozialer...