Das ist ja schon etwas Außergewöhnliches, dass es an Schulen Bergsteigerklubs gibt. So wie bei euch an der Realschule den RAC, hat es, wie mir mein Vater erzählt hat, in der Zwischenkriegszeit auch am Gymnasium einen ähnlichen Verein gegeben, die Bergsteigergruppe Edelweiß.
Ja, und in diesen Schulvereinen war es üblich, wenn man später studiert hat, zum „Akademischen Alpenklub Innsbruck“, zum AAKI, zu gehen. Mit den „Klüblern“, den Aktiven des Akademischen Alpenklubs, bin ich schon während der Schulzeit auf Touren gegangen. Die haben uns mitgenommen, die haben zum Teil schon ein Auto gehabt, oder ein Motorrad, das war für uns sehr wichtig.
Die Faszination der Vertikalen: In der Einstiegsseillänge der direkten Karlsspitze-Ostwand
Ich war ja auch beim AAKI, und unsere Alten Herren haben immer gesagt, ihr müsst euch um die Buben vom RAC, um die „Ratzen“, wie wir euch genannt haben, kümmern, zu ihrer Weihnachtsfeier gehen und sie auf Touren mitnehmen. Wir beide haben ja auf diese Weise im Wetterstein zusammen die Spindler-Route gemacht. Das war für mich etwas vom Allerschwersten, das ich je gegangen bin. Für dich war’s erst der Beginn deiner brillanten Kletterlaufbahn. Nur zwei Jahre später hast du – so lese ich in deinen Tourenberichten – unter anderem die Gelbe Kante an der Kleinen Zinne, die Demuth-Kante an der Westlichen Zinne, die Comici-Führe auf die Große Zinne und die Civetta-Nordwestwand nicht nur geklettert, sondern geführt – als gerade einmal 17-Jähriger. Wie ist es zu dieser Leistungsexplosion gekommen?
Das Klettern ist für mich schon in der Schulzeit immer mehr Lebenszweck geworden. Statt zum Geigenunterricht bin ich mit dem Fahrrad zum Höttinger Steinbruch gefahren und habe dort Klettern trainiert.
Das ist ja auch so eine Innsbrucker Besonderheit. Den Klettergarten innerhalb der Stadtgrenzen zu haben.
Ja, und oft sind wir schon vor Unterrichtsschluss von der Schule abgehaut und mit dem Radl die zwanzig Minuten zur Martinswand gefahren. Unser eigentliches Kletterparadies waren aber die Kalkkögel nahe Innsbruck. Dort hat ja auch der AAKI seinen Kletterstützpunkt, die Adolf-Pichler-Hütte, und Hias Rebitsch hat immer gesagt: Wer in den „Kögeln“ klettern kann, der kann überall klettern.
Mathias Rebitsch, den Reinhold Messner einmal einen „Avantgardisten der extremen Kletterei“ genannt hat, war der beste Bergsteiger des Akademischen Alpenklubs. Wie hast du Hias Rebitsch als Klubbruder erlebt?
Der Hias war ein charismatischer Mensch. Er war nicht nur einer, der sehr viel gewusst hat, er hat vor allem auch erzählen können. Wenn er von einer Tour erzählt hat, hat er jeden Zentimeter beschreiben können, wo jeder Haken steckte, wo er sich eingehängt hat, wo er ausgerutscht ist. Darüber hinaus war der Hias auch ein Philosoph, mit dem man nächtelang über Gott und die Welt diskutieren hat können. Und ich habe das Glück gehabt, dass er mich mochte, denn das war bei ihm nicht so selbstverständlich.
Er war ein introvertierter Mensch, der sich gern zurückgezogen und nicht mit jedem gesprochen hat. Er wohnte damals in Alpbach in einem alten Bauernhaus. Dort habe ich ihn oft besucht und später das Glück gehabt, dass die zweite Hälfte des Hauses frei geworden ist und ich mich dort für einige Jahre einmieten konnte.
Für mich war der Hias wirklich ein väterlicher Freund und Berater. Er war es auch, der uns junge Bergsteiger – Andi Schlick, Franz Jäger, Hansjörg Hochfilzer, Horst Fankhauser und mich, die wir damals die schwersten Touren in den Westalpen gemacht haben – animiert hat und gesagt hat, sucht’s euch höhere Ziele. Der Hias hat uns mit Paul Bauer zusammengebracht, dem berühmt-berüchtigten Expeditionspapst der 1930er-Jahre, der uns die Wege geöffnet hat, um überhaupt Informationsmaterial über Expeditionen zu bekommen. Der Hias war es also, der uns motiviert hat, uns die allerhöchsten Ziele zu setzen.
Die diversen alpinen Vereine in Innsbruck, die Karwendler, die Gipfelstürmer, die Melzerknappen, die Wettersteiner und wie sie alle heißen, sind gesellschaftlich höchst unterschiedlich orientiert, und da gab’s auch die verschiedensten ideologischen Ausrichtungen. Es hat – was heute weitgehend verdrängt wird – in der Zwischenkriegszeit in Innsbruck auch eine jüdische Bergsteigergruppe gegeben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat noch lange eine Art Lagerdenken bestanden. So hat’s neben dem traditionell eher nationalen AAKI auch den „schwarzen“ AAVI, den Akademisch Alpinen Verein, gegeben. Und natürlich, wie überall, auch die „roten“ Naturfreunde. Haben diese ideologischen Unterschiede zu deiner Zeit noch eine Rolle gespielt? War dir das irgendwie bewusst?
Ein gewisses nationales Denken war bei uns in der Familie schon da. Aber die Zeit, als wir in die Dolomiten gefahren sind, war dann auf ganz andere Weise eine politisch sehr heikle. Die „Bumser“, die in Italien Sprengstoffanschläge verübten, waren nicht selten Bergsteiger, und ich war nahe daran, selbst in diese Kreise zu geraten.
Wer nicht!
Ja, wer nicht. Wir haben damals auch dauernd Schikanen erlebt. Wenn wir mit dem Zug nach Bozen gefahren sind, haben uns die Carabinieri stundenlang am Bahnhof den Rucksack aus- und wieder einpacken lassen, um zu schauen, ob wir vielleicht Bomben mithaben. Oder wenn wir die Goldkappl-Südwand im Tribulaungebiet an der damals gesperrten und bewachten Grenze zwischen Österreich und Italien gegangen sind, haben wir uns von der Nordtiroler Seite anschleichen und in einem Schafstall übernachten müssen, dann sind wir über den Stacheldrahtzaun an der Grenze gestiegen und zum Einstieg gelaufen. Dass unter solchen Verhältnissen widersprüchlichste Gedanken aufkommen, ist nicht verwunderlich. Wir haben von der großen Freiheit der Weltberge geträumt und gleichzeitig die Unfreiheit in unserer nächsten Nähe erlebt.
Diesen Konflikt hat ja damals der Südtiroler und Kosmopolit Reinhold Messner mit seinem berühmten Satz „Meine Fahne ist das Schnäuztuch“ drastisch charakterisiert. Aber wie war denn das persönliche Verhältnis der Mitglieder der vielen Innsbrucker Bergsteigervereine untereinander? Ihr habt euch wohl alle gekannt, aber wart ihr Freunde oder eher Konkurrenten?
Wir waren keine Freunde im wirklich freundschaftlichen Sinn. Wir haben uns alle gekannt und sind auch miteinander Touren gegangen. Aber wir waren bergsteigerisch gesehen schon harte Konkurrenten. Das heißt, wenn die „Gipfeler“, die Gipfelstürmer, eine neue Route in den Kalkkögeln eröffnet haben, dann sind wir diese gleich nachgegangen, um zu sehen, ob das, was sie ins Tourenbuch geschrieben haben, auch stimmt, ob die Schwierigkeitsbewertung angemessen ist. Wenn das unserer Meinung nicht so war, sind jede Menge ironischer Bemerkungen dazugeschrieben worden. Man braucht sich nur das Tourenbuch der Adolf-Pichler-Hütte anzuschauen, in das übrigens auch schon Buhl seine Touren eingetragen hat. Da finden sich beispielsweise die sensationellen Erstbesteigungen eines Walter Spitzenstätter von den Gipfelstürmern und daneben immer die oft despektierlichen Bemerkungen der Kletterer anderer Klubs.
Ein wichtiger Faktor bei der Bedeutung Innsbrucks als „alpines Biotop“ war wohl, dass es eine Universitätsstadt ist. Deshalb auch die vielen akademischen Vereine: der AAKI, der AAVI, die Akademische Sektion des Alpenvereins. Durch die Uni ist ja auch zum Beispiel jemand wie der „Preußen-Peter“ oder ein Oswald Oelz nach Innsbruck gekommen, weil sie eben da studiert haben. Was war die Universität für dich?
Der Berg als Studienobjekt: Beim Gletschervermessen am Hintereisferner in den Ötztaler Alpen
Für mein bergsteigerisches Leben war die Uni schon sehr wichtig, da ich mich ja für ein Studium entschieden hatte – Meteorologie und Glaziologie –, das sich auf den Bergen abspielt. Unser Klubbruder Herfried Hoinkes war der Institutsvorstand und hat immer wieder gefordert, in die Berge zu gehen und dort zu forschen. Die Studenten sind ja auch nicht, wie manchmal gelästert wurde, nur für ein „Skisemester“ nach Innsbruck gekommen, sondern weil sie hier ein Zentrum alpiner Forschung vorgefunden haben mit hervorragenden Professoren, wie eben Herfried Hoinkes oder den Geografen Hans Kinzl und Franz Fliri.
Und das hat sich in deiner Generation fortgesetzt.
Ja, und zwar auf mehreren Gebieten: einmal in der Höhenmedizin mit Oswald Oelz, dann in der Meteorologie mit Karl Gabl, in der Gletscherforschung mit Gernot Patzelt oder in der Chirurgie mit Raimund Margreiter, der sich mit den Verletzungen durch das Anseilen auseinandergesetzt hat und auf unserer...