2 | ARBEIT UND BERUF: ZU VIEL ARBEIT, ZU WENIG LEBEN |
Balancing im Betrieb
Work-Life-Balancing-Programme gibt es schon seit etlichen Jahren in vielen US-Unternehmen, seit wenigen Jahren auch in einigen deutschen. Nicht alle tragen das modische Label „Work-Life-Balance“, doch alle unterstützen den Ausgleich zwischen der Arbeit und dem Rest vom Leben. Diese Programme stehen seit einiger Zeit verstärkt in der öffentlichen Diskussion. Die Zeit (Ausgabe 46/2001) nennt einige deutsche Unternehmen, die Balancing-Programme anbieten:
Bei BMW gibt es über 350 verschiedene Arbeitszeitkonzepte, darunter auch 1.100 Telearbeitsplätze (Home Offices), die übrigens zu 70 Prozent von Männern genutzt werden. Zirka 200 Mitarbeiter jährlich nutzen das Sabbatical, im Schnitt 2,5 Monate lang (superlanger Urlaub sozusagen).
VW beteiligt sich an der „Work-Life-Balance-Initiative“ des Bundesfamilienministeriums, das Vätern mehr Spielräume bei der Arbeitszeitgestaltung einräumt.
Das Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit erhielt in 2001 den Preis der Hertie-Stiftung für sein vorbildliches Programm zur Betreuung der Kinder von Mitarbeitern während der Schulferien.
„Boxenstopp“
Bei Porsche in Zuffenhausen läuft seit 2001 das Programm „Boxenstopp“, bei dem sich Mitarbeiter in der Elzthal-Klinik im Schwarzwald durchchecken und sich auf Vordermann bringen lassen können.
Das heißt: Viele Firmen unterstützen bereits aktiv die Work-Life-Balance. Ihre Firma vielleicht auch? Wenn Sie nicht sicher sind: Fragen Sie Ihren zuständigen Personalreferenten.
Der freut sich darüber. Denn diese Programme sind nicht immer so präsent, dass man sie auf den ersten Blick sieht. Ist die Antwort „Nein“, dann wiederholen Sie diese Nachfrage einmal im Quartal und bitten Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen, das ebenfalls zu tun. Spätestens nach zirka einem Jahr haben Sie das Programm damit in Gang gesetzt. Und kommen Sie nicht mit der Ausrede: „Unsere Geschäftsführung lässt sowieso nicht mit sich reden!“ Das mag für goldgepresste Büroklammern gelten. Für Work-Life-Balance (WLB) gilt das nicht, weil das zurzeit ein so genanntes Buzzword ist. Will heißen: WLB ist „in“. Manager und Unternehmen können sich mit einer WLB-Initiative profilieren. Also werden Sie vorstellig. Wenn Sie clever sind, bieten Sie sich gleich als Projektleiter für das WLB-Projekt an.
Do it yourself
Selbstbewusste Mitarbeiter und Führungskräfte auf allen Hierarchieebenen warten in der Regel nicht, bis ihr Unternehmen eine WLB-Initiative startet. Sie ergreifen selbst die Initiative.
Horst Schlegel zum Beispiel, ein Entwicklungsingenieur bei einem Investitionsgüter-Hersteller nahe Ulm, betrieb Balancing, lange bevor das Wort erfunden wurde. Er sagte schon vor 20 Jahren zu seinem Chef: „Ich werde künftig vier Tage pro Woche im Büro sein. Den fünften arbeite ich zu Hause. Ich brauche einen Tag, an dem nicht alle fünf Sekunden die Tür aufgeht und einer etwas von mir will. Wenn Sie möchten, dass ich meine Projekte termingerecht abliefere, sagen Sie Ja.“ Sein Chef sagte Ja und steht 20 Jahre später noch immer zu seinem Wort.
Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass Work-Life-Balance keine unverhoffte Kollektivbeglückung ist, sondern in erster Linie Sache jedes Einzelnen. Es zeigt auch, warum so viele gut geführte Unternehmen Balancing-Programme anbieten. Nicht, weil die Arbeitgeber es so gut mit ihren Mitarbeitern meinten, sondern weil sie früher als jede Gewerkschaft erkannt haben, dass die heutige Hektik ihnen ihr Humankapital kaputtmacht. Maschinen müssen gepflegt werden, damit sie laufen, also warum nicht auch Menschen? Schließlich sind Maschinen leichter zu ersetzen als Menschen.
Falls Sie sich zurzeit mit dem Gedanken tragen, Ihren Job zu wechseln, nehmen Sie ins Anforderungsprofil für Ihren neuen Arbeitgeber auch die Work-Life-Kompetenz auf. Selbst wenn das Unternehmen nichts in dieser Richtung bieten kann, es macht bei der Bewerbung einen guten Eindruck, zu wissen, was man will.
In Firmen ohne WLB-Programm ist Work-Life-Balance oft nur eine Frage von „Trau-dich!“
Schlagen Sie Ihrem Vorgesetzten Ihre konkreten WLB-Wünsche vor. Trauen Sie sich. Er wird nicht zu allen Vorschlägen Nein sagen können. Tut er’s doch, können Sie in einen anderen Unternehmensbereich wechseln. Oft sind die WLB-Angebote in anderen Bereichen besser. Schauen Sie sich um. Wer sucht, der findet.
Was ist zu viel Arbeit?
Woher wusste Horst Schlegel, dass er künftig nur noch vier Tage am Arbeitsplatz sein möchte? Woher wusste er, dass er gerade mit vier Tagen seine Balance, seinen inneren Glückspunkt finden würde? Keine leicht Frage.
Die meisten Leute haben heute das Gefühl: „Ich arbeite zu viel!“ Stress, Hektik und Leistungsdruck bestimmen unseren Alltag. Fast jeder leidet heute unter (mindestens) einem Stresssymptom: Magenprobleme, Kreuzschmerzen, zu viel Rauchen, Essen, Trinken, Tablettenschlucken, Übergewicht, Hautprobleme, Kopfweh … Jeder würde deshalb gern weniger arbeiten. Manche von uns sagen das bereits seit Jahren – aber sie tun’s nicht. Sie arbeiten immer noch nicht weniger. Warum? Weil die meisten von uns überhaupt nicht wissen, wie viel „weniger“ ist.
Wie viel ist „weniger“?
Das heißt, wir wissen nicht, wo im Sektor Arbeit unser innerer Glückspunkt liegt. Ganz deutlich erkennt man dieses Fehlen des Zielpunktes an Äußerungen wie: „Wenn ich weniger arbeiten würde – was fange ich denn mit der vielen Freizeit an?“ Das bedeutet, es ist überhaupt nichts da, mit dem die Waage wieder ins Gleichgewicht kommt, wenn auf der einen Waagschale etwas weggenommen wird: Auf der anderen Waagschale ist nämlich nichts. Eines der deutlichsten Zeichen dafür, dass offensichtlich etwas im Ungleichgewicht ist. Der Ausgleich fehlt!
Wir arbeiten oft zu viel, weil wir nicht wissen, was wir von unserer Arbeit erwarten – außer Geld natürlich
Wer das Gefühl hat, zu viel zu arbeiten, sollte zuerst einmal herausfinden: Was bedeutet „zu viel“? Was wäre denn die richtige Menge Arbeit? Wenn Sie diese Frage zu beantworten versuchen, werden Sie schnell feststellen, dass Sie nicht wissen, womit Sie Ihre Arbeit messen sollen. In Stunden offensichtlich nicht. Denn kein Mensch weiß, ob er seinen inneren Glückspunkt bei vier, sechs, acht oder 20 Stunden erreicht. Warum nicht? Weil man nicht wegen der Stunden arbeitet, sondern wegen etwas anderem. Und genau von diesem anderen müssen wir genug bekommen, wenn es sich lohnen soll zu arbeiten. Und nun der Clou: Die meisten von uns wissen nicht (mehr), was dieses andere ist.
Wir arbeiten rein gefühlsmäßig mehr als nötig – nötig wofür? Dieses Wofür sollten wir zuerst herausfinden. Dann können wir auch sagen, wie viel wir arbeiten sollten, um dieses Wofür zu erreichen.
Wofür arbeiten Sie?
Sie arbeiten natürlich für das, was Ihnen wichtig ist. Doch was ist das? Kreuzen Sie an; selbstverständlich mit Mehrfachnennungen. Was mir in Bezug auf meine Arbeit wichtig ist:
• Wirtschaftliche Sicherheit
• Sicherer Arbeitsplatz
• Erfolgserlebnisse
• Status, Position, Prestige, Macht, Einfluss, Ansehen
• Interessante Leute kennen lernen
• Austausch unter gleich Gesinnten
• Mit kompetenten Leuten zusammenarbeiten
• Ich möchte einfach nur in Ruhe meine Arbeit machen.
• Ich möchte meine Arbeit so gewissenhaft machen, wie ich mir das vorstelle.
• Sie soll mir einen bestimmten Lebensstil ermöglichen.
• Ich möchte an technischen Neuerungen mitarbeiten.
• Gelegenheit zur Selbstverwirklichung
• Meine Arbeit soll mit meinen Werten übereinstimmen.
• Spaß
• Anerkennung von Vorgesetzten, Kunden, Mitarbeitern, der Gesellschaft, dem Freundeskreis
• Meine Arbeit soll Sinn machen.
• Sie soll mir Gelegenheit geben, mich für Menschen und Gesellschaft nützlich zu machen.
• Durch meine Arbeit soll die Welt ein bisschen besser werden.
• Sie sollte mir genügend Zeit für meine Familie lassen.
• Karriere
• Ich möchte meine Ideen einbringen können.
• Was ist Ihnen außerdem besonders wichtig?
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Das Aha-Erlebnis der Arbeit
Wenn unsere Teilnehmer im Coaching oder Seminar die obige Checkliste durchgehen, haben sie immer ein Aha-Erlebnis. Viele sehen zum ersten Mal in ihrem Leben schwarz auf weiß, was ihnen wirklich wichtig ist an ihrer Arbeit. Das ist durchaus paradox. Da arbeitet man zehn, 20, 30 Jahre lang und erfährt nun plötzlich, was einem eigentlich wichtig daran ist! Bezeichnenderweise besteht so lange auch die Disbalance. Denn das eine hängt ursächlich mit dem anderen zusammen.
Warum kommt dieses Aha-Erlebnis erst jetzt? Sind wir zu dumm, um zu wissen, was uns wichtig ist bei der Arbeit? Nein, wir hatten dafür lediglich nie Zeit. Genauer: Wir haben uns nie die Zeit genommen, darüber nachzudenken. Vielleicht auch,...