Die Flüchtlingswelle und die Angst vor der Überfremdung
Herr Drewermann, mit der unerwarteten Flüchtlingswelle, die wir derzeit in Europa erleben, haben sich in der gesellschaftspolitischen Landschaft Europas, vor allem aber in Deutschland, Stimmungen und Haltungen verschoben. Das Verhältnis zum Islam, den Muslimen, mit denen wir bisher eher friedlich und tolerant zusammen gelebt haben, hat sich plötzlich dramatisch verändert. Zunehmend mehr Menschen sehen im Islam eher eine Bedrohung, eine Überfremdung. Viele Menschen wissen zu wenig über den Islam, und dadurch entsteht ein ganz neues, um nicht zu sagen ein gefährliches Gemisch.
Es sind mindestens zwei Ebenen, auf denen die derzeitige Auseinandersetzung mit dem Islam zu erfolgen hätte. Die eine ist: Wir sollten versuchen, den Islam als Religion zu verstehen, um dann im Abstand dazu die Verwerfungen zu bemerken, die wir selber vom Westen her mit verursacht haben, bis dahin, dass wir den »Islamismus« nach 1989, nach dem Zusammenbruch des Bolschewismus, zu einem Ersatzfeind aufbauen, um die Kriegspolitik des Kalten Krieges beibehalten zu können. Wir sprechen von einer Flüchtlingskrise in Erwartung, dass die UNO ihr trauriges Zahlenwerk wird bestätigen müssen: Wir haben in Afrika allein etwa sechzig Millionen Flüchtlinge auf der Suche nach irgendeinem Ort, an dem sie leben könnten. Dahinter stehen gewaltige wirtschaftliche Zerrüttungen, die auf dem Kapitalmarkt, auf dem Nahrungsmittelbörsenmarkt in Chicago, im Landkauf und Landraub vom Westen durch die Multi- und Transnationalen Konzerne in ganz großem Stil verursacht werden.
Die unfairen Terms of Trade auf dem Weltmarkt sind ein Beispiel. Aus Afrika können eigentlich nur Agrarprodukte exportiert werden. Diese haben aber keine Chance, sobald sie europäischen oder nordamerikanischen Produkten Konkurrenz bieten. Dann nämlich werden sie bei uns oder in Nordamerika subventioniert, und wieder stehen die Länder Afrikas, vor allem südlich der Sahel-Zone, vor der Unmöglichkeit, mit dem Preisdumping, das wir betreiben, mithalten zu können. Das Infame ist, wir wollen genau diesen Zustand. Denn auf diese Weise bekommen wir einen Zugriff auf Billigstlohn-Arbeitskräfte. Wir sehen Staaten zerfallen, bei denen wir dann die Regimes einsetzen können, die unseren Zugriff auf die Ressourcen begünstigen. Wir lassen über den IWF, den Internationalen Währungsfonds, die Schulden so ansteigen, dass die Länder auf unabsehbar lange Zeit unsere Wirtschaftssklaven sind.
Empörend wirkt nicht zuletzt die »Willkommenskultur« der EU: jahrelang hat man das Mittelmeer als Massengrab für Flüchtlinge hingenommen, man hat im Schengen-Abkommen innereuropäisch Freizügigkeit ermöglicht, doch die Südgrenzen Europas juristisch und elektronisch abgeriegelt; man hat mit Frontex die Flüchtlingsströme mit militärischen Mitteln aufzuhalten versucht, und man glaubt, in den Maghreb-Staaten und vor allem in dem zerbombten Libyen KZ-ähnliche Auffanglager für Flüchtlinge einrichten zu können, – angeblich um das Schleuserunwesen zu stoppen und die Flüchtlinge zu schützen. Dieser »Schutz« soll sie offenbar davor abschrecken, überhaupt nach Europa gelangen zu wollen. Wenn sie es bis dorthin geschafft haben, lässt man – nach dem Dublin-Abkommen – die Erstaufnahmeländer allein, das absolut überforderte Griechenland zum Beispiel; man kündigt das italienische Mare-nostrum-Programm aus Geldgründen auf; man errichtet in Ungarn und Österreich Sperrzäune – wo in all dem bleibt da die Christlichkeit unserer abendländischen Wertegemeinschaft?
Und nun kommt die 2. Ebene: Wenn es gar nicht anders geht und die Leute wirklich nicht mehr wissen wohin, wenn Bürgerkriege ausbrechen, dann spielt plötzlich ihre Religion eine verzweifelte Rolle. Für Menschen, die gar keinen Ort mehr auf der Welt haben, wird die Religion der letzte Halt, ein Hoffnungsmoment inmitten der Verzweiflung. Sie regredieren im Bewusstsein auf einen Zustand, in dem historisch einmal ihre Welt in Ordnung war. Das kann um Jahrhunderte zurückgehen, womöglich bis ins Mittelalter, als der Islam eine sehr große, starke, gegenüber dem Westen kulturell führende Kultur- und Religionsform bildete. Da sucht man dann Anknüpfungspunkte zur Gestaltung der Gegenwart.
Aber das rechtfertigt doch nicht Terror, das rechtfertigt doch nicht Mord.
Etwas verstehen heißt niemals, es rechtfertigen. Aber nur wenn man es versteht, begreift man die Gründe, auf die hin man so antworten könnte, dass aus dem Terror nicht sofort der eigene Gegenterror in Gestalt des weltweiten zeitlich unbegrenzten Antiterrorkrieges wird. Wir bewegen uns im Moment in einer Blutmühle ohne Ende. Denn wir haben gegenüber dem Terror, von dem ich gerade andeute, dass wir ihn selber mit verschuldet haben, keine andere Antwort, als Gewalt mit Gewalt zu beantworten. »Diese verstehen nur die Sprache der Gewalt«, – Originalzitat des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama. Wenn es so steht, müssen wir nicht mehr schauen, mit was für Menschen wir es zu tun haben. Wir müssen sie ausrotten. Auch Präsident Donald Trump spricht genau so: Man muss sie ausrotten. Wenn das so ist, wollen wir einen unendlichen Krieg global gegen alles, was in unsere kulturellen Schemata nicht hinein passt, ganz egal, wie es zustande gekommen ist. – Wir müssen, was die aktuelle Flüchtlingslage angeht, insbesondere betonen, dass es die Regime-Change-Politik der USA ist, die seit 1991, seit dem ersten Golf-Krieg unter George Bush dem Älteren, konzeptionell die Verwüstung des ganzen Nahen Ostens zugunsten genehmer Regime zur Agenda erklärt hat. Der spätere Weltbankpräsident Paul Wolfowitz, einer der Architekten des Zweiten Golf-Kriegs 2003, hat genau dies vorgesehen: Es sollte ein amerikanisches Jahrhundert entstehen unter dem Diktat der Neokonservativen, wobei der Nahe Osten schon seiner Erdöllieferungen wegen hoch attraktiv ist. Man muss nach diesem Programm den Irak, Syrien, am besten auch den Iran, den Libanon, Ägypten, Somalia, den Sudan, ganz Libyen, Nordafrika so weit aufrollen, dass es den Erdölinteressen der USA zu passe wird.
Aber die Erdölinteressen spielen doch nicht mehr die Rolle. Der Verbrauch des Erdöls in Amerika ist drastisch zurückgegangen.
Das ist aber erst seit ein paar Jahren durch die Einführung der Fracking-Technologie ermöglicht worden. Bis dahin hat man völlig anders konzipiert, und die Folgen tragen wir heute. Vor allem die Bedenkenlosigkeit, mit der man Millionen von Toten in Kauf nimmt. Allein im Irak starben bei den beiden Golf-Kriegen 1991 und 2003 bis zu zwei Millionen Menschen. Gemessen daran ist alles, was durch Terror an Unmenschlichkeit geschieht, quantitativ auf ein Prozent, im Verhältnis 1:100 oder 1:200 anzusetzen. Wenn der IS bisher zehntausend Menschen getötet hat – eine furchtbare Zahl –, muss man das vergleichen mit den zwei Millionen Toten, die auf westliche Militäraktionen in der Region zurückzuführen sind. Dann haben wir ungefähr die Proportionen, um zu bestimmen, woher die Gewalt kommt und wie sie weiter wirkt.
Aber nehmen wir das Beispiel Afghanistan, Herr Drewermann. Es ist ja nicht nur Amerika zuzuschreiben, dass dort Chaos herrscht, dass dort Gewalt herrscht. Der gesamte Westen hat doch versucht, dem Land ein Stück Freiheit zu geben, gerade auch den Frauen, etwas für die Bildung zu tun. Hätte man besser sagen sollen: Lasst sie doch so beten, wie sie wollen. Wäre das Ihre Position, Herr Drewermann?
Afghanistan hätten wir von Anfang an leben lassen sollen, wie es will. Es hat noch niemals eine Möglichkeit gegeben, Afghanistan von außen zu beherrschen. Alexander der Große hat das versucht, die Engländer haben das versucht, die Russen hat man da hineingelockt, und die Amerikaner haben ihr Erbe übernommen. Es ist die Frage, bis zu welchem Chaos-Zeitpunkt wir zurückgehen. Der ehemalige Nationalsicherheitsberater von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski (1977−1981), rechnet es sich heute noch als Verdienst an, die Sowjets unter der Phantasmagorie, die Südflanke ihres Imperiums sei vom Islam bedroht, nach Afghanistan gelockt und dann daraus wieder vertrieben zu haben, mit der Lieferung von Stinger-Raketen an die damals befreundete Dschihadistenorganisation Al Kaida. Weil das sehr gottgläubige, fromme Leute sind, waren es in amerikanischer Lesart unsere Brüder, und sie waren genau die Richtigen, die Kommunisten zu bekämpfen. Die Kommunisten hatten in Afghanistan ein ähnliches Programm wie wir heute: Gleichstellung der Frauen, Abschaffung der Burka, Zugang zu den Schulen, Aufbau von sanitären Anlagen, Tiefbrunnenbohrungen, Infrastruktur, Straßenbau, Elektrifizierung, – alles, was wir auch wollen, war längst schon das Programm fortschrittlicher Sowjets in Afghanistan. Das durfte aber nicht erfolgreich sein, weil natürlich Amerika die Falle zuschnappen lassen wollte. Anschließend hatten wir einen jahrelangen blutigen Bürgerkrieg. Damals haben wir die Taliban durch Waffenlieferungen dahin gebracht, gegenüber den War Lords eine Herrscherschicht zu bilden. Das Ganze ging so gut, bis dass wir im August 2001 in Bonn eine Verhandlung über den Bau von zwei Pipelines vom Kaspischen Meer zum Persischen Golf abgehalten haben....