Wut als Programm
Wut als Charakterzug?
Jeder kennt und keiner liebt sie: Menschen, die bei geringstem Anlass unverhältnismäßig heftig reagieren, die sofort die Beherrschung verlieren oder meinen, dass Beherrschung einen Aufwand erfordere, den sie sich selbst lieber nicht zumuten möchten. In der distanziert-formalen Sprache derjenigen Wissenschaften, die sich mit psychischen Phänomenen befassen, handelt es sich bei solchen Personen um Menschen mit hoher Impulsivität, womit ein weiterer „technischer Begriff“ benannt ist, mit dem wir Emotionen anderer distanziert-emotionsfrei etikettieren.
Ein nicht unwesentliches Problem liegt darin, dass diese Begrifflichkeit, so wie auch der Begriff der „Emotion“, nicht trennscharf definiert ist. Bei der Impulsivität handelt es sich um ein Konstrukt, das in neurobiologischen oder psychologischen Studien zumeist gleichgesetzt wird mit Aggression. Beschrieben wird sie als „besondere Neigung zu unüberlegten, unerwarteten und plötzlichen Handlungen“ (Jackson 1997), damit in Verbindung stehen die Begriffe „Impulshandlung“, „impulsives Verhalten“ und „Impulskontrolle“ („impulsives Verhalten liegt dann vor, wenn die rationale Impulskontrolle zur Hemmung impulsiver Antriebe nicht ausreicht“ – als Erklärung ähnlich hilfreich wie: „Regen liegt dann vor, wenn die atmosphärische Regenhemmung zur Abwendung regnerischen Wetters nicht ausreicht“ …). Leicht erregbare Menschen werden umgangssprachlich auch als Choleriker bezeichnet, ein Begriff, der auf das altgriechische Erklärungsmodell unterschiedlicher Temperamente verweist. Diese wurden auf eine unausgeglichene Zusammensetzung der vier Körpersäfte zurückgeführt, wobei beim Wutschnaubenden, der „Gift und Galle spuckt“, eben die Galle als wesentlichster Bestandteil seiner Physis angenommen wurde. Bei deutlichem Überwiegen einer Sorte war der gesunde Zustand nicht mehr gegeben, weshalb die chronische Wut-Neigung als Krankheit angesehen wurde. Obwohl die modernen psychiatrischen Diagnosemanuale sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, jegliches unerwünschte und von einer fast unerreichbaren, von oben herab definierten „Normalität“ abweichende Verhalten zu pathologisieren, den Krankheitsbegriff ins Unendliche zu dehnen und einer übermächtigen pharmazeutischen Industrie damit eine Unzahl an modernen „Menschenopfern“ (vorzüglich im Bereich finanzstarker Absatzmärkte) zuzuführen, hat die cholerische Charakterstruktur in eben diese Diagnosesysteme keinen Eingang gefunden. Nur dort, wo sich die Muster, nach denen Menschen mit ihrer Umwelt in Kontakt treten, wiederholen und eine breite Spur von Leid und Verwüstung hinterlassen, sind diagnostische Zuschreibungen zulässig. In der Regel handelt es sich dann um Persönlichkeitsstörungen, ein Begriff, der nicht sonderlich glücklich gewählt erscheint. Bezeichnet werden damit tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen und die deutliche Abweichungen in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und in Beziehung zu anderen darstellen. Diese Verhaltensmuster sind stabil und beziehen sich auf vielfältige Bereiche des Verhaltens und der psychischen Funktionen. Sie verursachen Leidenszustände beim Betroffenen oder bei anderen, mit denen er in Kontakt tritt, beginnen in Kindheit oder Adoleszenz, dauern lebenslang an und beruhen nicht auf einer anderen psychischen Störung oder Hirnerkrankung. Das Überdauernde dieser Definition, die eine Person rundweg zum lebenslang „Gestörten“ erklärt, stellt allerdings eine gehörige Stigmatisierung dar. Karl Jaspers meinte dazu: „Menschlich aber bedeutet die Feststellung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer Betrachtung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht.“
Ganz normale Choleriker
Der „Allerwelts-Choleriker“, der spontan, unbeherrscht und jähzornig seine jeweils aktuelle Befindlichkeit auslebt, muss nicht zwingend schon die definierten Grenzen einer Persönlichkeitsstörung überschreiten. Findet er im Privaten eine ausreichende Zahl gelassener Kommunikationspartner, die sich von den vulkanartigen Ausbrüchen nicht beirren lassen, ungerührt deren Ende abwarten und dann – „so ist er eben, aber er hat auch gute Seiten“– wieder zur Tagesordnung übergehen, und zeigt er im Beruflichen mehr Fähigkeit zur Selbstkontrolle oder findet einen Chef, der wegen seiner positiven Eigenschaften die vereinzelten Gewitter toleriert, so muss eine cholerische Disposition nicht unbedingt zu dauernden Konflikten und Leidenszuständen führen. Eine besondere Herausforderung stellen cholerische Chefs dar: Nicht jedem ist es gegeben, derartige Eruptionen ungerührt vorbeiziehen zu lassen, obwohl das wohl das probateste Mittel wäre, damit umzugehen. Wer den Wutausbruch als Aufforderung zu einer Auseinandersetzung interpretiert, wird sich rasch in einem symmetrisch eskalierenden Konflikt wiederfinden, der am Ende nach den Regeln der Hierarchie entschieden wird und zumindest einen schwer Gekränkten zurücklässt. In der Rage fallen Argumente und Fakten nicht auf fruchtbaren Boden, hier regiert die reine Emotion, die Vernunft bleibt außen vor. Weitaus sinnvoller ist es, der Situation aus dem Weg zu gehen oder ihr mit Gelassenheit und einer Portion Charme (allerdings nicht mit Ironie, die würde nur weiteren Zündstoff liefern) zu begegnen, auf das Abklingen zu warten und danach in der Sache selbst zu argumentieren. Besondere Optimisten können in der Verzögerung, die der Wutausbruch bewirkt, eine Möglichkeit sehen, ihre eigenen Argumente zu sammeln und ihr taktisches Vorgehen auszufeilen. Fritz Riemann beschreibt in seiner tiefenpsychologischen Studie über die „Grundformen der Angst“ die Aggression des milde hysterischen Menschen als elastisch, spontan, unbekümmert und oft unüberlegt, dafür wenig nachhaltend und nachtragend. Über derartige Erlebnisse mag man zwar verwundert sein, es wäre aber müßig, sich zu grämen. Zur Illustration hier eine selbst erlebte Episode:
Zwei Berufskollegen, im selben Betrieb tätig, aber an unterschiedlichen Stellen der Betriebshierarchie, begegneten sich zufällig auf der Straße. Der Ranghöhere war in Begleitung und offenbar in ein Gespräch vertieft, weshalb sich der Rangniedrigere nicht mit einem lauten Gruß aufdrängen wollte und es bei einem verhaltenen „Guten Tag“ und einem Nicken bewenden ließ. Einige Zeit, nachdem sie sich auf ihren jeweiligen Wegen schon wieder beträchtlich voneinander entfernt hatten, wurde der Nachgeordnete durch ein lautes Brüllen aus seinen Gedanken gerissen: hinter ihm stand, mit hochrotem Kopf, sein Kollege und schrie, dass es durch die ganze Straße zu hören war: „Was fällt Ihnen ein, mich nicht zu grüßen? Wofür halten Sie sich eigentlich? Jemand wie Sie ist in Ihrer Position völlig fehl am Platz! Sie haben ja gar keine Manieren!!“ Der solcherart Angeschriene brauchte zwar einige Sekunden, um die Situation zu erfassen, schaffte es dann aber doch, sich zu verteidigen: Er habe ja gegrüßt, aber eben nicht laut, um nicht zu stören. Der Andere beruhigte sich sofort, meinte: „Ja, dann ist ja alles in Ordnung“, drehte sich um und ging weiter. Bei der nächsten firmeninternen Begegnung hatte zumindest einer der beiden die ganze Angelegenheit schon wieder völlig vergessen. Was immer man ihm sonst nachsagen konnte, nachtragend war er ja nicht.
Die vier Faktoren der Persönlichkeit
Hans Jürgen Eysenck, einer der maßgeblichen Psychologen des 20. Jahrhunderts, definierte Persönlichkeit als „die mehr oder weniger stabile und dauerhafte Organisation des Charakters, Temperaments, Intellekts und Körperbaus eines Menschen, die seine einzigartige Anpassung an die Umwelt bestimmt. Der Charakter eines Menschen umfasst das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines konativen Verhaltens (des Willens); sein Temperament das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines affektiven Verhaltens (der Emotion oder des Gefühls); sein Intellekt das mehr oder weniger stabile und dauerhafte System seines kognitiven Verhaltens (der Intelligenz); sein Körperbau das mehr oder weniger stabile System seiner physischen Gestalt und neuroendokrinen (hormonalen) Ausstattung“ (Eysenck 1970). Eysenck unterschied vier wesentliche Faktoren, die die Persönlichkeit konstituieren, nämlich Extraversion, Introversion, Neurotizismus (Labilität – Stabilität) und Psychotizismus. Die Grundlage dieser Merkmale vermutete er in den anatomischen Gegebenheiten des Gehirns, die einerseits auf Basis genetischer Vorgaben, andererseits durch Einflüsse im Laufe der Entwicklung geschaffen werden. Die Amygdala, der Mandelkern, ist derjenige Ort unseres Gehirns, in dem Emotionen „entstehen“ und erlebbar werden. 2005 konnte an der Stony Brook University in New York nachgewiesen werden, dass das Volumen dieses Mandelkerns bei Extrovertierten linksseitig vergrößert und bei einer Tendenz zu belastenden, negativen Gefühlen (Neurotizismus) rechtsseitig verkleinert ist. Bei extrovertiert Disponierten wird eine geringere Erregbarkeit des Gehirns angenommen, weshalb sie externe Stimulation und den Kontakt mit anderen suchen, was sie offener, lebhafter, risikoaffiner, aber auch rastlos und sprunghaft machen kann. Im Gegensatz dazu ist der Introvertierte leichter erregbar und dadurch anfälliger für Stimmungsschwankungen. Er sucht vor allem Sicherheit, begnügt sich mit wenigen externen Anregungen, erlebt intensiver und reagiert stärker, was auch die Grundlage sein kann für eine erhöhte Tendenz zu Sorge und Pessimismus, aber auch für Schuldgefühle und Selbstzweifel. Neurotizismus bezeichnet die Neigung zu Nervosität, Ängstlichkeit und Besorgtheit. Menschen mit ausgeprägtem...