Prolog
Gute Menschen fürchten böse Taten, doch würde es das Böse nicht geben, wüssten wir nicht, was es heißt, gut zu sein. Das Böse ist ein Gift, das sich schleichend ausbreitet. Es beginnt harmlos. Es beginnt mit einem Gedanken. Doch aus Gedanken werden Worte, aus Worten werden Taten und aus Taten werden Gewohnheiten. Es sind ebendiese Gewohnheiten, die den Charakter eines Menschen bestimmen. Meine Mutter glaubt an Karma. Sie glaubt daran, dass wir für Sünden, die wir in einem vergangenen Leben begangen haben, heute bezahlen müssen. Ich glaube nur daran, dass ich heute alles tun muss, damit das Morgen besser wird. Und dass der Kampf, den ich für dieses bessere Morgen kämpfen muss, ein Kampf ist, den ich mit mir selbst austragen muss. Mit dem Bösen, mit dem Ha-Satan in mir.
Als ich mich im Halbschlaf aus meinem Bett quälte, hatte ich bloß diesen einen Gedanken, dieses eine Wort im Kopf. Eloha. Ich hatte mich die ganze Nacht mit Digi in meinem Studio eingeschlossen und wie ein Besessener an dem Song gearbeitet. Dazu hatte ich gefühlte 150 Jibbits geraucht und mir Gedanken darüber gemacht, wie ich die Hook rund kriegen könnte. Und jetzt wankte ich durch mein Schlafzimmer, mit Eloha im Kopf und einem unguten Gefühl im Magen. Es war ein ekelhafter Tag, kalt und verregnet. Ungemütliches Oktoberwetter. Alles fühlte sich seltsam entfremdet an. Ich konnte es selbst nicht so richtig verstehen. Aber obwohl ich in meinem Schlafzimmer stand, hatte ich das Gefühl, dass dieses Schlafzimmer eben nicht mein Schlafzimmer war. Dass dieser Ort nicht mein zu Hause ist. Die Uhr an der Wand funktionierte nicht mehr, der Sekundenzeiger tippte nur noch auf der Stelle. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren.
Der Regen wurde stärker. Ich schaute aus dem Fenster und konnte nicht glauben, was ich da sah. Verdammt, das war kein normaler Regen mehr. Der Regen war rot. Wie Blut. Ich massierte mir die Schläfen. Das konnte doch nicht sein. Ich muss gestern zu viel geraucht haben. Ich schloss die Augen, atmete noch einmal tief durch und schaute wieder raus. Ich sah die Häuserblocks aus meiner Nachbarschaft. Die grauen, trostlosen Betonfassaden. Es regnete immer noch, aber der Regen sah wieder wie Regen aus. Mein Kopf tat weh. Ich zog mir was über, ich musste raus, brauchte dringend frische Luft. Ich griff mir meine Alpha-Jacke und ging Richtung Haustür, als ich den Schock meines Lebens bekam. Da stand ein Mann in meiner Wohnung. Direkt vor meiner Haustür. Der Kerl war bestimmt zwei Meter groß, hatte eine spitze Nase, einen langen, dünnen Bart und trug einen krassen Pelzmantel. Er sah aus wie die Kasachen aussahen, die ich aus den Geschichtsbüchern in der Schule kannte. Er stand einfach so da. Ich hatte keinen Plan, wer der Typ war und wie er in meine Wohnung kommen konnte. Instinktiv wollte ich nach meinem Messer greifen, das ich in der Kommode lagerte. Aber es war weg. Ich ging langsam auf den Unbekannten Zwei-Meter-Mann zu. Ich spürte meinen Pulsschlag, bekam kaum Luft. Mein Herz krampfte sich zusammen.
»Hallo?«
Der Typ reagierte nicht.
Ich versuchte so aggressiv wie nur möglich zu wirken.
»Wer bist du? Wie kommst du in meine Wohnung? Antworte!«
Der Kerl schaute mich nur ganz ruhig an.
»Ich bin der Türhüter«, sagte er.
»Was redest du für eine kranke Scheiße?! Warum bist du in meiner Wohnung?«
Er verzog keine Miene, lehnte sich nur ganz gemütlich an die Wand. Was war das nur für ein Albtraum? Ich hatte das Gefühl, man zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte keine Ahnung, was hier für ein Film ablief, aber es war richtig beängstigend. Irgendjemand musste sich einen üblen Scherz mit mir erlauben. Ich hatte das Gefühl, ich würde gleich verrückt werden. Ich musste raus. Ich musste dringend hier raus. Als ich gerade die Tür öffnen wollte, stellte sich der Kerl bedrohlich vor mich.
»Lass mich vorbei.«
»Es ist möglich«, sagte der Pelztyp. »Aber nicht jetzt.«
»Wie, nicht jetzt? Junge, bist du behindert?«
Der Kerl schaute mich todernst an. »Du kannst ja versuchen durch die Tür zu gehen. Aber selbst wenn du an mir vorbeikommst, wird es sechs weitere Türen geben und vor jeder dieser sechs Türen wird ein weiterer Hüter stehen und jeder dieser Hüter ist mächtiger als ich es bin.«
»Was laberst du da für eine hängengebliebene Scheiße?«
Ich fasste mir an den Kopf. Ich hatte wieder diese ekelhaften Schmerzen. Ich brauchte frische Luft. Sofort. Ich lief in mein Badezimmer und riss das Fenster auf. Der Regen war mittlerweile noch schlimmer geworden und der Himmel hatte sich schwarz gefärbt. Als wäre es tiefste Nacht. Der kleine Bach auf der anderen Straßenseite war übergelaufen, es gab eine richtige Überschwemmung. Von meinem Fenster wirkte es fast so, als würde vor meiner Haustür das Meer beginnen, so extrem war es. Ein eiskalter Wind zog durch das Bad. Es schien, als würde ein Sturm aufziehen. Ich wich einen Schritt zurück.
»Mann, Dima. Komm klar, das bildest du dir ein. Das bildest du dir alles nur ein. Du bist todesdrauf.«
Und dann passierte schon wieder so eine abartige Scheiße. Da kamen einfach drei Tiere aus dem Bach, der jetzt ein Meer war. Ein Löwe, ein Bär und ein Panther und alle hatten Flügel und waren überdimensional groß. Wie in so einem Fantasystreifen. Und als ob das nicht schon krank genug gewesen wäre, stieg noch ein viertes Tier aus dem Meer auf. Kein Plan, was das für ein Ding war. Es war grässlich entstellt, hatte riesige Füße, seine Zähne waren aus Eisen und es hatte elf Hörner auf seinem Kopf. So was hatte ich noch nicht einmal in den abgedrehtesten Horrorfilmen gesehen. Der Himmel färbte sich langsam rot. Ich schloss das Fenster, zog den Vorhang wieder zu und atmete immer schneller. Diiiikkaaaaa, was geht? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich kurz davor war, eine Psychose zu bekommen. Ich würde jeden Moment einfach durchdrehen. Was habe ich da gestern nur für ein Zeug geraucht?
Ich schaute in meinen Flur und sah, dass der Kasache mit dem Pelz immer noch bewegungslos vor meiner Haustür stand. Ich schloss mich ein, lehnte mich gegen die Badezimmertür und atmete durch. »Du bist gerade auf dem krassesten Trip deines Lebens, Dima. Komm runter! Komm bloß runter. Das kann unmöglich real sein.«
Mein Kopf fühlte sich mittlerweile an, als würde er explodieren.
Und plötzlich war da dieses Geräusch. Ein kreischendes Ringen. Es kam in unregelmäßigen Abständen. Drrrriiiiing.
Ich stellte mich ans Waschbecken, ließ das Wasser laufen und schaute in den Spiegel. Meine Augen waren rot unterlaufen, ich sah richtig fertig aus. Ekelhaft. Drrriiiiiing. Das Geräusch bohrte sich in meinen Kopf. Ich fing an, mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ich musste dringend wieder runterkommen. Drrrrrriiiing. Ich musste dringend wieder klarkommen. Das war doch nicht normal. Als ich wieder in den Spiegel schaute, sah ich für einige Sekunden nicht mehr mich selbst. Ich sah ein fürchterlich verzerrtes Gesicht. Es sah aus wie eine kaputte Version von mir. Die Gesichtszüge eingefallen, überall an meiner Stirn und meinen Wangen klebten Dreck und Blut. Die Augen von meinem Spiegel-Ich waren leer. Es sah aus wie der Teufel. Ich schreckte zurück. Drrrrrriiiing. Ich wollte aus der Wohnung raus. Vorbei an dem Kasachen, einfach weg, aber … Drrrrrriiiiiing … ich verlor komplett die Orientierung, stolperte … Drrriiiiiiing … und dann wurde mir schwarz vor Augen.
Panisch schreckte ich hoch und riss meine Augen auf. Ich schaute mich um. Mein Schlafzimmer. Meine Wohnung. Ich atmete durch. Was für ein abgefuckter Traum! Und dann hörte ich das Klingeln. Drrrriiiiiing. Irgendwann begriff ich, dass es meine Tür war. Ekelhaft. Ich griff noch halbblind nach meinem Handy. Kurz vor 10 Uhr. Wer zur Hölle machte um diese Zeit so einen gottverdammten Aufstand?
Eigentlich konnte das nur Digi sein. Mein Beat-Mann. Aber der würde doch nicht um diese Zeit kommen. Ich rollte mich langsam aus dem Bett. Es klingelte weiter.
»Ja, Mann, ich komme ja«, schrie ich durch die leere Wohnung und rieb mir die Augen. Vielleicht war das auch mein Subwoofer. Ich hatte mir letzte Woche ein neues Gerät bestellt. Für mein Studio.
»Wer ist da?«, fragte ich in die Gegensprechanlage.
»Herr Dimitri Chpakov?«, hörte ich eine ernste Frauenstimme.
»Ja.«
»Hier ist die Steuerfahndung, öffnen Sie bitte die Tür, wir haben einen Durchsuchungsbefehl.«
Ich lehnte mich gegen die Wand. Ich wusste ja, dass es passieren würde. Dass sie eines Tages vor meiner Tür stehen werden. In meinem verpennten Zustand war ich sogar irgendwie halbwegs froh, dass sie kamen. Damit konnte ich die Sache endlich abschließen. Dachte ich. Ich hatte seit Jahren keine Steuererklärung abgegeben. Das Finanzamt stellte bereits einen Antrag auf Insolvenz. Sollten sie den ganzen Scheiß doch mitnehmen, mir eine Strafe aufdrücken und endlich aufhören zu nerven. Ich öffnete die Tür und machte mich bereit.
Zwei Frauen kamen in die Wohnung.
»Herr Chpakov?«
»Yo.«
Sie hielten mir einen Zettel unter die Nase.
»Wir haben eine richterliche Anordnung, ihre Wohnung zu durchsuchen …«
»Okay«, sagte ich und zog mir meine rote Alpha-Jacke über. Es war verdammt kalt geworden.
»… und auch alle anderen Räume, die sie nutzen. Keller, Dachgeschoss, ist hier noch mehr?«
»Unten ist mein Studio«, sagte ich. Die beiden Frauen nickten sich zu. Nach und nach kamen immer mehr Menschen in meine Wohnung. Erst waren es Männer in schwarzen Anzügen. Zwei, drei, vier, irgendwann liefen fünf von ihnen durch die Zimmer. Dann...