Was ist Yoga?
Die altindische Sprache Sanskrit und unsere deutsche Sprache gehören zu der indogermanischen Sprachfamilie. Die gemeinsamen Wurzeln zeigen sich darin, dass sich manche Wörter wie zum Beispiel Mutter und matr (vgl. lateinisch: mater), Herz und hrd (vgl. englisch: heart), Fuß und pad (vgl. lateinisch pes, für alle, die noch den Ausdruck per pedes für »zu Fuß gehen« kennen). Es gibt aber auch Sanskritbegriffe, die wir als Lehnwörter in den täglichen Sprachgebrauch aufgenommen haben, ohne dass uns vielleicht bewusst ist, dass wir in dem Moment Sanskrit sprechen, so zum Beispiel Dschungel, Orange, Lack und Pyjama.
Der Begriff Yoga stammt ebenfalls aus dem Sanskrit und bedeutet wörtlich »Joch«. Joche sind in der Landwirtschaft die älteste Form des Geschirrs. Sie werden Zugtieren um den Hals gelegt oder, etwa bei Ochsen, vor der Stirn oder im Nacken an den Hörnern befestigt, damit sie vor einen Wagen oder Pflug gespannt werden können. Durch dieses Anspannen an das Joch können die Tiere ihren Kopf nicht bewegen, was zur sprichwörtlichen »Unterjochung« führt.
Man kann den Begriff Yoga also als »Vereinigung« oder »Integration« verstehen, im Sinne von »Anschirren« und »Anspannen« – zum Beispiel der Seele an den Körper –, oder aber auch als Erkennen der Zusammenhänge der größeren Verbindungen: meine Seele, mein Körper, ich, du, wir, alle Lebewesen, die Welt, der Kosmos …
Es gibt viele verschiedene Formen des Yoga, oft mit einer eigenen Philosophie und Praxis. Häufig denken wir bei dem Begriff Yoga nur an körperliche Übungen, die sogenannten Asanas. Aber ich hoffe, du verstehst nach diesem einführenden Kapitel, dass die Bedeutung von Yoga weit über die reine körperliche Praxis hinausreicht. Yoga umfasst auch das Wissen der Chakren, der Mudras, der Bandhas, der Mantren und vieler Meditationen. Und dieses Gesamtpaket kann dir während deiner Schwangerschaft als Stütze dienen. Die philosophischen Grundlagen des Yoga wurden vor allem von dem indischen Gelehrten Patanjali im Yogasutra zusammengefasst, aber auch spirituell-philosophische Schriften wie die Bhagavad Gita und die Upanishaden informieren über Yoga-Grundlagen. Das Yogasutra definiert den Begriff »Yoga« zum Beispiel als einen Bewusstseinszustand, in dem unsere Gedankenströme zur Ruhe finden.
Wie lange es Yoga bereits gibt, ist nicht genau bekannt. Älteste Funde von Steinsiegeln und Tonfiguren im heutigen Pakistan entlang des Indusflusses, die Sitz- und Gebetspositionen zeigen, werden auf circa 2800 v. Chr. datiert, schriftliche Überlieferungen fehlen jedoch. Erst durch spätere Quellen wie den Veden (veda bedeutet Wissen), ab circa 1500 v. Chr. entstandene heilige Texte, gehen wir davon aus, dass Yoga schon vor über 4500 Jahren praktiziert wurde. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die dem Yoga zugrunde liegende Philosophie noch älter ist. Da es sich bei den Veden jedoch um mündlich überlieferte Gesänge handelt, deren exakte Rezitation wichtig war, wurden sie lange nicht niedergeschrieben. Das Wissen durfte nur an bestimmte männliche Angehörige der höchsten Kaste, der Brahmanen, vermittelt werden.
Die vier Wege des Yoga
Als letzter Teil der Veden gelten die Upanishaden; sie beschreiben bereits Atemübungen und das Zurückziehen der Sinne (Pratyahara). Upanishaden bedeutet übersetzt so viel wie »sich in der Nähe des Gurus (Lehrers) oder zu seinen Füßen niedersetzen«. Die mittleren Upanishaden (um 400 v. Chr.) erwähnen mehrfach den Begriff Yoga und auch die wesentlichen Elemente des späteren Yoga-Systems. Im indischen Epos Mahabharata (um 300 v. Chr.) nimmt Yoga bereits einen bedeutenden Platz ein und wird als praktisches Gegenstück zu theoretischen philosophischen Lehren erwähnt. Mahabharata wird auch übersetzt als »die große Geschichte der Bharatas«, wobei Bharata sowohl einen indoarischen Stamm bezeichnen kann wie auch den indischen Subkontinent. Die für viele Yogis und Yoginis (männliche bzw. weibliche Yoga-Praktzierende) sehr wichtige Bhagavad Gita (»der Gesang des Erhabenen«) gilt als Teil des umfassenden Epos Mahabharata.
In der Gita, wie sie oft kurz und liebevoll genannt wird, lernen wir den jungen Fürsten Arjuna kennen, der sich vor Beginn eines großen Krieges, welchen das Mahabharata ausführlich beschreibt, auf dem Schlachtfeld von Kurukshetra die Frage stellen muss, ob er gegen seine Verwandten kämpfen will oder aufgibt. In diesem Moment offenbart sich sein Wagenlenker als Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu. Krishna kommen in der Bhagavad Gita, je nach Kontext, verschiedene Bedeutungen zu: Einmal wird er als das kosmische Selbst angesehen, das alles Lebende durchdringt; ein anderer Aspekt ist die Bedeutung als innere Göttlichkeit, eine Reflexion des kosmischen Selbst in jedem Lebewesen. Eine dritte Funktion ist die des spirituellen Lehrers. Die Überschriften der einzelnen Gesänge der Bhagavad Gita nennen jeweils eine besondere Form des Yoga, zum Beispiel Karma Yoga oder Jnana Yoga. Gott Vishnu offenbart Arjuna hierbei die vier Wege des Yoga:
Bhakti Yoga ist das Yoga der Hingabe. Hier werden Rituale wie Singen oder Beten praktiziert, um sich dem Göttlichen hinzugeben. Die Motivation eines Bhakti Yogis und einer Bhakti Yogini ist die Liebe.
Karma Yoga ist das Yoga des selbstlosen Dienstes. Der Karma Yogi und die Karma Yogini handeln, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Der Weg des selbstlosen Dienstes an der Menschheit soll zur Freiheit aus dem Karma-Kreislauf führen.
Jnana Yoga ist das Yoga der Weisheit. Hier setzt der Yogi und die Yogini sich mit der Philosophie des Yoga auseinander und erforscht so auch die eigene Natur.
Raja Yoga ist die Königsdisziplin des Yoga. Es ist der Yoga-Weg, der sich am meisten durch seine Ganzheitlichkeit auszeichnet. Der Raja Yogi und die Raja Yogini erlangen den Weg zur Freiheit durch die Beherrschung des Geistes. Dies wiederum erfolgt über die Disziplinierung des Körpers.
Jedoch erwähnt Gott Vishnu in seiner Inkarnation als Krishna in der Gita ebenfalls, es sei ratsam, sich nicht auf einen Yoga-Weg zu beschränken, sondern alle Richtungen mit in die Yoga-Praxis aufzunehmen. Nur einen Weg zu gehen, würde ein Hindernis in der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen hervorrufen.
Das bedeutendste Werk des Raja Yoga, das unserer klassischen Vorstellung von Yoga am nächsten kommt, ist das bereits erwähnte Yogasutra des Patanjali (um 200 n. Chr.). Sutra bedeutet »Faden«, das Yogasutra kann also als Leitfaden für Yoga gesehen werden. Es versuchte, die damals vorherrschenden Yoga-Praktiken wie verschiedene Fäden zusammenzufassen. Patanjalis Fokus liegt auf dem Geist des Menschen, seinen Möglichkeiten und Begrenzungen. Unter Yoga versteht er, dass die Qualität unseres Geistes einen Punkt erreicht, an dem wir in der Lage sind, Dinge und Situationen klarer zu erkennen. Um diesen Zustand zu erreichen, stellt er im Yogasutra unter anderem den achtgliedrigen Pfad Ashtanga (ashta bedeutet »acht«, anga »Teile«) des Yoga dar, der auch unter dem Namen Raja Yogasutra bekannt ist:
Yama: Unsere Haltung gegenüber unserer Umgebung
Niyama: Unsere Haltung gegenüber uns selbst
Asana: Die Praxis der Körperübungen
Pranayama: Die Praxis der Atemübungen
Pratyahara: Das Nach-innen-Richten der Gedanken
Dharana: Die Fähigkeit, unseren Geist auszurichten
Dhyana: Die Fähigkeit, unseren Geist kontinuierlich in einer Verbindung mit dem, was wir verstehen wollen, verweilen zu lassen.
Samadhi: Die vollkommene Vereinigung mit einem Objekt, das wir verstehen wollen.
Patanjali stellt uns hier also einen Weg und Übungen vor, durch den wir unsere Gedanken (vrtti) und unseren Geist (citta) beruhigen (nirodha) können: »Sind die Gedanken im Geist zur Ruhe gebracht, verwirklicht man sein wahres Wesen.« (Sukadev Bretz)
Die Hatha Yoga Pradipika (14. Jh. n. Chr.) von Svatmarama verfasst, legt nun weiterführend die Techniken dar, die den Körper und körperliche Übungen als effektives Mittel zum Erreichen der existenziellen und spirituellen Ziele des Yoga einbeziehen.
Für die Arbeit mit Schwangeren ist die Form des Hatha Yoga, die als Teil des Raja Yoga betrachtet werden kann, sehr weit verbreitet. Hatha bedeutet auf Sanskrit »Gewalt« oder »Kraft« die zur Erreichung eines Ziels aufgebracht werden muss. Keiner wörtlichen Übersetzung entstammt die aus dem Tantrismus übernommene Deutung als Verbindung einander entgegengesetzter Energien: ha steht für Sonne, heiß, männlich, tha für Mond, kühl, weiblich. Dieses Verständnis verweist auf viele weitere Gegensätze, die im Hatha...