EINFÜHRUNG
»Den wahren ›Namen‹ einer Sache zu wissen heißt, sie zu evozieren«, schrieb der indische Mythenforscher und Philosoph Ananda K. Coomaraswamy. Dieses Prinzip spielt in verschiedenen Glaubens- und Denksystemen eine Rolle. Ein Schamane ruft mit einem Totem-Namen wie zum Beispiel »Jaguar« magische Kräfte herbei. Mit magischen Riten beschwört der Priester den oder die Namen Gottes. Der Platoniker greift nach dem Absoluten, dem Ideal im Namen von Wahrheit, Gerechtigkeit oder Schönheit. Den wahren Namen einer Sache zu kennen bedeutet, alles zu verstehen, was damit benannt wird.
Yoga – Heilung von Körper und Geist jenseits des Bekannten ist eine Erkundung der alten Weisheit mit Namen »Yoga«. Das Wort tauchte in der Geschichte der Menschheit zum ersten Mal vor ungefähr zweitausend Jahren in Indien auf, obwohl die yogischen Praktiken vermutlich noch weitere zweitausend Jahre früher entstanden sind. Im Westen wird der Begriff wahrscheinlich zum ersten Mal 1785 erwähnt, in der frühesten in Europa erschienenen Übersetzung der Bhagavad Gita (»Gesang des Erhabenen«). Außerhalb des indischen Subkontinents rief das Wort Yoga bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein Vorstellungen von exotischen Adepten hervor, die die Befähigung zu den sagenhaftesten Körperverrenkungen besaßen, welche ihnen – einigen Berichten zufolge – übermenschliche Macht über Zeit, Raum, Materie, ja selbst über den Tod verlieh. In den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts kam es zu einem Sinneswandel, der zu den Meilensteinen in der langwierigen, mühevollen Evolution menschlichen Bewusstseins gerechnet werden kann. Einige begabte, glaubwürdige Lehrer aus Indien brachen auf, um der übrigen Welt die yogischen Techniken der Körperübungen, Atemkontrolle und geistigen Konzentration zu demonstrieren. Ihr Anliegen war es nicht, das Übernatürliche, sondern das unmittelbar Praktische zu lehren: Yoga konnte die körperliche Gesundheit verbessern, einen Heilungsprozess beschleunigen und die intellektuellen, schöpferischen und geistigen Fähigkeiten im Menschen fördern. Unter den Bekanntesten waren einige, die von dem außergewöhnlichen Lehrer Tirumalai Krishnamacharya ausgebildet worden waren. Wie sein Sohn T. K. V. Desikachar in diesem Buch darlegt, hielt Krishnamacharya Yoga für das größte Geschenk Indiens an die Welt. Durch das Engagement mehrerer Generationen von Lehrern, von denen manche den Name Krishnamacharya vielleicht gar nicht mehr kennen, gilt Yoga heute nicht länger als eine esoterische Praktik des Ostens, sondern gehört für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zum täglichen Leben.
Das Umfeld, in dem Yoga gelehrt wird, ist so unterschiedlich wie die Bedürfnisse und Interessen der Praktizierenden: Universitäten, Gemeinde- und Sportzentren, Kureinrichtungen, Krankenhäuser, Selbsthilfegruppen und natürlich Abertausende von Schulen, die auf Yoga spezialisiert sind. Die Körperübungen des Yoga dienen Menschen aus allen sozialen Schichten zur Erhaltung ihrer Gesundheit und Bewältigung von Stress. Yoga-Techniken werden auch zunehmend in Therapien integriert, sei es bei Erkrankungen der Atmungsorgane, Migräne, chronischen Rückenschmerzen, sei es zur Rehabilitation nach Verletzungen, Herzinfarkten oder Schlaganfällen. Die meditativen Praktiken des Yoga werden von Menschen angewandt, die die Grenzen des gewohnheitsmäßigen Denkens überschreiten und die Anforderungen materialistischer Gesellschaften hinter sich lassen wollen.
Yoga wird in starkem Maße mit einem System von Techniken assoziiert, bei dem es um Körper- und Atemübungen sowie Visualisierungen geht. Diese sind von unschätzbarem Wert, bilden aber andererseits nur einen Anfang. In den tiefen Bedeutungsschichten und dem reichen Sinngehalt uralter Quellen entdeckte Krishnamacharya unvorstellbare Möglichkeiten, die der Yoga jedem Menschen für seine persönliche Entwicklung eröffnen kann.
Krishnamacharya brachte die Besonderheit der »konkret erfahrbaren« Sprache in die Lehre des Yoga ein. Nach einer der vielen, aus dem ursprünglichen Sanskrit stammenden Definitionen bedeutet Yoga »zusammenbringen«; und er verstand diesen Begriff in ganz praktischem Sinne als bewusste Herstellung der Einheit von Körper, Geist und Seele. Nach einer anderen Definition bedeutet Yoga »einen Punkt erreichen, der für uns zuvor unerreichbar war«. Dies hat Krishnamacharya wortgemäß interpretiert: Die menschlichen Möglichkeiten zur Erlangung geistiger Klarheit, zu richtigem Verstehen und zur Veränderung sind grenzenlos. Einmal schrieb er: »Die Beziehung zwischen dem Wort und seiner Bedeutung ist ewig, sie ist nichts willkürlich Hergestelltes.«
Während seines über hundertjährigen Lebens widmete sich Krishnamacharya mit großer Zielstrebigkeit dem Studium, der Praxis und der Lehre des Yoga. Da Yoga aus den Weisheitslehren Indiens hervorgegangen war, beschloss Krishnamacharya schon in sehr jungen Jahren, diesen enormen wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Wissensschatz meistern zu wollen. Was auf Goethe im frühen neunzehnten Jahrhundert zutrifft, kann man ohne weiteres auf Krishnamacharya im zwanzigsten übertragen: Er war der letzte Mensch, der in der Lage war, sich des gesamten geistigen Erbes seiner Kultur zu bemächtigen.
Und Krishnamacharyas Sohn, Sri Desikachar, war der Einzige, der die Geschichte über Leben und Werk dieses weisen Mannes zusammenfügen konnte, insbesondere was dessen letzte Jahre betrifft, als Krishnamacharya an den physischen und geistigen Praktiken des Yoga revolutionäre Veränderungen vorzunehmen begann. Denn bei Krishnamacharyas lebendiger Tradition des Yoga geht es einmal darum, mit den Yoga-Praktiken zu experimentieren und sie an die modernen Verhältnisse anzupassen, und zum anderen um das Bewahren alter, zuweilen lange vergessen gewesener Lehren.
Desikachar, ursprünglich Ingenieur von Beruf, heute ein in aller Welt geschätzter Yoga-Lehrer, war in Krishnamacharyas letzten dreißig Lebensjahren dessen Schüler und Kollege. 1976 gründete er im südindischen Chennai (ehemals Madras) eine Yoga-Schule, die Krishnamacharyas Namen trägt. In dem großen Gebäude, an einer staubigen Straße im alten Stadtviertel von Mylapore gelegen, gehen jedes Jahr mehr als zweitausend Inder und Ausländer ein und aus, sei es um eine Yoga-Therapie zu machen, sei es um an Studiengruppen oder einer Lehrerausbildung teilzunehmen.
Die eigentliche Inspirationsquelle für Lehrer und Schüler gleichermaßen befindet sich jedoch am Ende dieser Straße, in einer Ecke des Gartens von Desikachars Wohnhaus. Dort, wo einst das kleine Haus stand, in das sich Krishnamacharya während seiner letzten beiden Lebensjahre zurückgezogen hatte, befindet sich das sannidhi. Dieses stuckverzierte, weißgetünchte Häuschen, das kaum sechs Quadratmeter groß ist, wird aber nicht, wie sonst bei sannidhi üblich, als Schrein betrachtet. Es war immer Krishnamacharyas Eigenart, Wörter zu veredeln, indem er sie in ihrem ursprünglichen Sinne auslegte. Für ihn bezeichnete das Wort sannidhi »Präsenz« oder »Nähe«. In diesem Fall bedeutet es die Nähe zu einem Paar versilberter Sandalen Krishnamacharyas, die dort auf einem behauenen Granitsockel stehen.
Obwohl es Krishnamacharya sein Leben lang abgelehnt hatte, Guru oder auch nur Yogi genannt zu werden, sprachen die Leute von diesem heute fast zur Legende gewordenen Gelehrten immer als dem acharya. Nichts könnte zutreffender sein. Ein acharya ist nicht nur ein weiser Lehrer: Er ist jemand, der weit gereist ist und das lebt, was er lehrt. Von Krishnamacharya heißt es, er habe alles, was er wusste, gelernt, als er zu Füßen seiner Lehrer saß; in diesem Sinne sind auch die weit gereisten Sandalen zu verstehen. So finden sich Lehrerinnen und Lehrer, Schüler und Schülerinnen, die von Krishnamacharyas Lebenswerk beinflusst sind, in dem sannidhi ein, um in Gegenwart dieser Sandalen »ihr Verantwortungsbewusstsein zu stärken. Und um es zu erleichtern », wie Claude Maréchal, der bekannte belgische Yoga-Lehrer es ausdrückte. Denn bei der lebendigen Tradition Krishnamacharyas geht es vor allem um den Dienst an anderen.
Es sei noch hinzugefügt, dass es, wie Desikachar immer wieder betont, keine völlige und letzte Gewissheit über die »wahre« Bedeutung des Begriffs Yoga geben kann. Nach einer anderen alten Auffassung ist Yoga eine »Wissenschaft vom Geist«. Der Geist eines jeden Menschen ist, nach der Lehre des acharya, absolut einzigartig, obwohl er Teil des universalen, ewigen Geistes ist. Doch eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Jeder Mensch, der sich ernsthaft dem Studium des Yoga widmet, kann schließlich die in ihm schlummernden Fähigkeiten entdecken, die zu richtigem Verstehen führen. Francis Bacon hat diese Perspektive vor mehr als vierhundert Jahren folgendermaßen formuliert: »Der Geist kann, je nach Kapazität, auf die Größe der...