Einleitung:
Yoga für Ganzheit und Heilung
Yoga bietet die verschiedensten Ressourcen für ein gesünderes und besseres Leben. Die Asana-, Pranayama- und Meditationsübungen sind ausgefeilte Werkzeuge, um ein dauerhaftes Gefühl von Ganzheit im Leben zu entwickeln und eine breitere Würdigung des Lebens als Teil der erhabenen menschlichen Existenz zuzulassen. Sie lassen sich auch für eine maßgeschneiderte Yogapraxis nutzen, die uns hilft, von gängigen Erkrankungen und Verletzungen zu genesen – einschließlich derjenigen, die wir uns beim Yoga selbst zuziehen können.
Von Anbeginn der Beschäftigung mit dem Yoga im Indien der vedischen Zeit (etwa 1500 v. Chr.) versuchten Seher, Sadhus und spirituell Suchende, Leiden zu lindern oder zu beseitigen, um das Leben besser zu machen. Dies ist das Leitmotiv des Yoga. Einige Yogis betrachten das Leiden als festen Bestandteil des menschlichen Daseins, mit dem man sich auf dem Pfad ritualistischer Praktiken der Selbsttranszendenz letztlich beschäftigt. Andere sehen im Yoga einen Weg, wie man unabhängig vom eigenen Befinden oder den eigenen Umständen gesünder und freudvoller im gegenwärtigen Augenblick leben kann. Wir gehen eher den letztgenannten Weg und erkunden, wie wir hier und jetzt am besten Heilung erlangen und mehr Freude empfinden können.
Das Verständnis für die menschliche Gesundheit ist im Laufe der Jahrtausende bis zur Gegenwart gewaltig gewachsen. Viele Verbesserungen führen dazu, dass wir uns von Methoden verabschieden, die man früher für die wirksamsten oder heilkräftigsten hielt. Viele frühe Yogis und ihre Kollegen aus den heilenden Künsten – vor allem die Pioniere des Ayurveda – bemühten sich nach Kräften, mithilfe von Nachsinnen (oder, wie viele behaupten, göttlicher Eingebung) und Experimentieren die Natur des Menschen und die gesündeste Art zu leben zu ergründen. Im Nebel der frühen indischen Kultur lassen sich zwar einige gesunde Yogapraktiken finden, doch das wachsende moderne Verständnis für den menschlichen Organismus bringt präzisere und effektivere Heilwerkzeuge hervor, wenngleich einige moderne Entwicklungen die Ursache schwerer Erkrankungen sind. Vor dem Hintergrund unseres größeren Wissens können wir erkennen, dass einige der frühen Praktiken wohltuend, andere dagegen wirkungslos oder gar schädlich sind, während wir auch innovative Methoden oder Verfahren in Betracht ziehen, die bis heute neu entstehen.
Yoga ist eine sich ständig weiterentwickelnde Praxis der Selbstkultivierung und Selbsterweckung und lädt uns ein, über die überlieferten klassischen Praktiken hinauszugehen. Daher möchte dieses Buch im Geiste einer lebendigen, sich stetig weiterentwickelnden Yogatradition Erkenntnisse aus dem klassischen und dem modernen Yoga, Ayurveda sowie dem gern als Schulmedizin bezeichneten Fachgebiet anbieten. Daneben zeigt es Methoden der Heilung für die Probleme auf, die uns auf der Matte und abseits davon plagen.
Glaubt man der jüngsten landesweiten Erhebung unter Yogaschülerinnen und Yogaschülern in den Vereinigten Staaten1, sorgt eine regelmäßige Yogapraxis dafür, dass man sich besser fühlt – dass man in Stresssituationen ruhiger bleibt, eine positivere Lebenseinstellung und mehr Selbstakzeptanz besitzt. Dank dieser segensreichen Wirkungen führt Yoga normalerweise dazu, dass man auch besser für sich sorgt: mit einer gesünderen Ernährung, besserem Schlaf und ausgewogener Bewegung. Wenn man an sich arbeitet, hat das auch einen gesellschaftlichen Nutzen. Man kommuniziert klarer, hat mehr Verständnis für menschliche Vielfalt und kümmert sich besser um seine Mitmenschen und den Planeten.
Die Yogapraxis wirkt sich auf alle physiologischen Systeme aus. Eine immer umfangreichere Literatur beweist, dass Yogaübungen eine spezielle Wirkung auf diese Systeme haben, dass sie unter anderem ein paar immer häufiger auftretende Erkrankungen heilen können und eventuell Behandlungsmöglichkeiten für Leiden bieten, die der modernen medizinischen Wissenschaft nach wie vor größtenteils ein Rätsel sind. Die Wirkung des Yoga auf den menschlichen Organismus gibt ebenfalls Rätsel auf – besonders, da so viele verschiedene Praktiken als Yoga bezeichnet werden und die Menschen, die damit arbeiten, im Hinblick auf ihre Verfassung und ihre Absichten sogar noch vielfältiger sind.2 Je weiter wir ins 21. Jahrhundert vordringen, desto mehr Forschungsarbeiten offenbaren, dass diverse Yogapraktiken gesundheitlichen Schaden, Nutzen und manchmal sogar beides verursachen.3
In den Publikationen der modernen medizinischen Wissenschaft finden wir ebenfalls zahlreiche Erkenntnisse zu Gesundheit und Heilung, wenngleich viele schulmedizinische Verfahren einigen Anhängern des Yoga und der Alternativmedizin ein Gräuel sind und zuweilen sogar Schaden anrichten können. Wir sind offen für Heilwissen aller Art, ungeachtet der Quelle – ob aus dem Osten oder Westen, ob Allopathie oder Ayurveda, ganzheitlich oder komplementär. Denn so können wir dem Yoga, dem Ayurveda und der Schulmedizin all das entnehmen, was sie uns zur Heilung unserer Leiden bieten.
Der gesunde Mensch
Yoga entspricht dem Zeitgeist vieler westlicher Gesellschaften – in einer Zeit, in der die Fortschritte in den Bereichen der Gesundheit, des Wohlbefindens und der Lebenserwartung bedroht sind. Vor dem Hintergrund der verbreiteten Schnelllebigkeit und des zunehmenden sozioökonomischen Drucks ist Stress eine der hauptsächlichen Krankheitsursachen und einer der wichtigsten Anreize für die Yogapraxis. Darüber hinaus ist unser globales Umfeld bedroht von rasantem Klimawandel, resistenten Infektionserregern sowie sozialen Verwerfungen und Entfremdung, welche die Globalisierung – an der die meisten von uns aktiv beteiligt sind – widerspiegeln und von ihr noch verschärft werden. Und doch ist der Mensch von Natur aus gesund. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit »nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen, sondern ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens.«4 Die alternative Gesundheitsdefinition von Dr. Andrew Weil als »dynamisches und harmonisches Gleichgewicht aller Elemente und Kräfte, die einen Menschen ausmachen und umgeben«, legt eine ebenso starke Betonung auf Ganzheit – auf das »Heilsein«, das eine ähnliche etymologische Grundlage hat.5
Wir sind natürlich bestrebt, mit all der Kraft und Vitalität zu leben, die uns die Natur verliehen hat. Wir erhalten und steigern unsere Gesundheit, indem wir uns und anderen Nahrung, Bewegung, Schlaf, Liebe, Rituale und Optimismus schenken. Wir machen unser Leben noch gesünder, indem wir sicherstellen, dass wir Zugang zu einer angemessenen Unterkunft, Bildung und Gesundheitsversorgung haben; uns in sicheren sozialen Räumen bewegen und soziale Beziehungen haben, die uns helfen, unser Potenzial voll auszuschöpfen; uns für die Gesundheit des Planeten einsetzen, damit gesundes Leben gedeihen kann; und uns den höheren, im Universum erkennbaren Kräften auf eine Weise öffnen, die unserem Leben einen tieferen Sinn verleihen kann.
Dennoch können unsere Gene, unser Lebensstil und unsere Umwelt eine Herausforderung für unsere Gesundheit sein. Das Erbe unserer Eltern spielt eine wichtige Rolle in unserem Leben. Es macht uns anfällig für bestimmte Krankheiten, Leiden, Verhaltensweisen und Gewohnheiten, die Ähnlichkeit mit dem haben, was die frühen Yogis samskaras nannten. Die physischen und sozialen Verhältnisse in der natürlichen sowie der von uns geschaffenen Umgebung können uns vergiften, was sich in Form von Erkrankungen äußert. Unsere Art zu leben – mit unseren Werten, Überzeugungen, Beziehungen, Hygiene, körperlicher Aktivität und Ernährung – kann Stress, Angst, Depression verursachen und uns anfälliger für Verletzungen und Krankheiten machen. Alles in allem können diese Faktoren die Homöostase beeinflussen – die Regulierung und Stabilisierung des Gleichgewichts unseres gesamten Seins.
Die jedes Jahr von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erhobenen Daten zeigen eine Momentaufnahme der Gesundheit aller Menschen auf der Welt (WHO 2016 World Health Statistics):6
- 1,1 Milliarden Menschen rauchen Tabak.
- 156 Millionen Kinder unter fünf Jahren zeigen ein gehemmtes Wachstum, und 42 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind übergewichtig.
- 1,8 Milliarden Menschen trinken verunreinigtes Wasser, und 946 Millionen Menschen erledigen ihre Notdurft im Freien.
- 303 000 Frauen sterben an Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt.
- 5,9 Millionen Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag.
- 2 Millionen Menschen wurden neu mit HIV infiziert, es gibt 9,6 Millionen neue Fälle von Tuberkulose sowie geschätzte 214 Millionen (Spannweite: 148 bis 304 Millionen) Fälle von Malaria.
- 1,7 Milliarden Menschen müssen wegen...