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E-Book

Zen und wir

AutorKarlfried Graf Dürckheim
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl136 Seiten
ISBN9783105609088
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Karlfried Graf Dürckheim (1896-1988), Psychologe, Meditationslehrer und spiritueller Meister, lebte nach Studium und Professuren in Deutschland von 1937-1947 in Japan, wo er die Bedeutung der meditativen Praktiken des Zen auch für die geistige Gesundheit des westlichen Menschen entdeckte und auf dieser Grundlage seine Initiatische Therapie entwickelte, deren Zentrum Todtmoos-Rütte bis heute ist.

Karlfried Graf Dürckheim (1896-1988), Psychologe, Meditationslehrer und spiritueller Meister, lebte nach Studium und Professuren in Deutschland von 1937-1947 in Japan, wo er die Bedeutung der meditativen Praktiken des Zen auch für die geistige Gesundheit des westlichen Menschen entdeckte und auf dieser Grundlage seine Initiatische Therapie entwickelte, deren Zentrum Todtmoos-Rütte bis heute ist.

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Leseprobe

Zeichen der Wende


Die Hinwendung zur übernatürlichen Erfahrung


Je mehr der Mensch sein Wesen verdrängt, um so mehr gerät er in sein tiefstes menschliches Leiden. Und aus diesem Leiden bricht die Sehnsucht hervor, wieder hinzufinden zu einem Leben, das vom Wesen erfüllt ist. Was ihm gestern noch selbstverständlich war, die Einordnung in die von ihm zu meisternde Welt, das genügt ihm heute nicht mehr. Sie wird ihm zu eng und zu flach, wenn er das Tiefere spürt, das in ihm als das wahre, das überweltliche Leben ans Licht drängt. Der Drang dieses Lebens in ihm, das, nie still stehend, auf nie endende Verwandlung drängt, ist durch jede feststehende Ordnung verstellt. Wo es verstellt ist, äußert es sich in einer eigenartigen Unruhe, in Gefühlen der Angst, der Schuld und der Leere, für die kein äußerer Grund vorliegt und die durch keines der Mittel aufgehoben werden können, die für gewöhnlich dem weltbezogenen Ich helfen. Keine Sicherheit in der Welt nimmt diese Angst, kein Rechtsein in der Welt bringt diese Schuldgefühle zum Schweigen, kein Reichtum der Welt kann diese Leere ausfüllen; denn es geht um etwas anderes.

 

In der Sehnsucht, die den Menschen der Neuen Zeit erfüllt, lebt ein heimliches Wissen. Es ist das verborgene Wissen um eine Fülle, die aus dem Wesen aufsteigt und unabhängig ist und den Menschen unabhängig macht von aller Vielheit, die das weltbezogene Ich mit Besitz, Geltung und Macht zu gewinnen vermag. Es ist ein heimliches Wissen um einen Sinn, der jenseits ist von allem Sinn und Unsinn, von aller Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, wie das Ich sie versteht. Es ist das heimliche Wissen um eine Gestaltwerdung des eigenen Selbstes, in der es keinen Stillstand gibt und in der sich das verborgene Inbild auszeugt in einem fortwährenden Wandel durchlässig bleibender Formen. Es ist das heimliche Wissen um ein Geborgensein in einer Liebe, die unabhängig ist und unabhängig macht von jeder Liebe, die einem von einem anderen zukommt, und die allem Alleinsein die Verlassenheit nimmt. In diesem heimlichen Wissen, das die große Sehnsucht erfüllt, ist das Wesen am Werk. In ihm ist das Sein im Menschen in einer Weise anwesend, die ihn in eine wundersame Unabhängigkeit stellt von allem, woran sich das weltbezogene und weltabhängige Ich hält. Es ist ein Wissen, das mit der Logik der Welt, mit der Logik des gegenständlichen Bewußtseins nichts mehr zu tun hat und ihren so selbstverständlichen Anspruch auf alleinige Geltung aus den Angeln hebt. Ganz leise spricht dieses Wissen erst ahnungsvoll an, dann wird es als Verheißung gespürt und dann als Stimme gehört, die immer eindeutiger, verheißungsvoller und fordernder wird. Ein neues Gewissen erwacht, und endlich wird der Mensch dann bereit, die Augenblicke ernst zu nehmen, in denen dieses heimliche Wissen aufkeimte oder, stärker noch, wenn auch für kurz, als eine Gewißheit da war. Nun erst kann der Mensch die Sternstunden seines Lebens ernst nehmen, in denen das Sein zu ihm spricht, Stunden, deren beglückenden Gehalt er, solange er am objektiv Faßbaren haftet, als ein Ungültiges abtut. Und erst jetzt wird er auch bereit, auf die Zeugnisse derer zu hören, die anderswo und vor ihm erfuhren, was ihm widerfuhr, und es ernst und zum Ausgangspunkt eines Weges nahmen, auf dem sich das von ihm nur augenblicksweise Erlebte mit Stetigkeit als das wahre Wesen entfaltet. Und dann wird er auch hellhörig für die Weisheit des Ostens, der niemals aufgehört hat, der Stimme der verborgenen Weisheit zu lauschen – und als maßgebend für den inneren Weg zu gehorchen.

Hier liegt der große Unterschied zwischen der Kultur des Ostens und der Zivilisation des Westens: Im Westen dominiert, das Gesicht des Lebens bestimmend, der Auftrag des Menschen zur Ordnung der Welt im gültigen Werk; im Osten dagegen der Auftrag des Menschen zum Weg in die innere Reife. Jener erfüllt sich im objektiven Gebilde und in der ihm verpflichteten »Persönlichkeit«, dieser dagegen im Ernstnehmen des Menschen auf dem Weg zur Person. Dieser Weg aber ist der Weg der inneren Erfahrung der uns immanenten Transzendenz. Und im Einmünden auf den Weg der inneren Erfahrung kündet heute das Neue sich an.

Der abendländische Geist ruhte bisher auf zwei Säulen: Auf der einen Seite trug ihn das rationale Wissen, das sich auf der natürlichen Erfahrung der Sinne aufbaut. Auf der anderen Seite trug ihn der Glaube an eine übernatürliche Offenbarung. Der Ferne Osten, der weder etwas dem christlichen Glauben Entsprechendes besitzt noch jemals die Ratio als ein Mittel ernst nahm, die Wahrheit über den Sinn und die Bestimmung des menschlichen Lebens zu finden, hat ein Drittes als Quelle wahrer Erkenntnis und als gültige Basis des menschlichen Weges entwickelt: das Ernstnehmen der übernatürlichen Erfahrung und der natürlichen Offenbarung. Sie wird dem Menschen nur jenseits der Grenzen seiner natürlichen Kräfte geschenkt. Dies Geschenk aber trägt nur dort seine Früchte, wo der Mensch bereit ist, sein inneres Erleben ernst zu nehmen und der Stimme seines tiefsten Gewissens zu lauschen. Was aber bislang als eine für uns nicht zuständige Quelle östlicher Weisheit oder doch nur als ein Privileg bevorzugter Geister galt, daß wir nicht nur an eine höhere, göttliche Wirklichkeit glauben müssen, sondern diese schon in diesem Leben als uns innewohnend spüren dürfen, das ist heute in vielen als Ahnung lebendig, ja für viele schon in erschütternden Stunden zu einer Erfahrungsgewißheit geworden. Nicht weniger als der Mensch des Ostens hat der Mensch des Westens Sternstunden des Lebens, in denen das Sein in sein Innesein tritt. Aber er war bislang nicht dazu erzogen, ernst zu nehmen und zu verstehen, was ihm hier widerfährt. Hier hilft die Begegnung mit dem Zen uns ein Stück weiter.

 

Was sind die Sternstunden des Lebens? Es sind die Stunden, in denen uns ganz unerwartet ein Tieferes anrührt und uns mit einem Male in eine andere Wirklichkeit hineinstellt. Dies kann uns widerfahren im Dunkel einer Not wie ein Licht, das mit einem Schlage alles verwandelt, es kann zu uns kommen auf dem Gipfel eines irdischen Glücks, wo mit einem Male alles einen überirdischen Glanz hat. Es kann geschehen, wo immer der Mensch an der Grenze seiner Macht, seiner Weisheit, seines seelischen Belastungsvermögens zerbricht, vorausgesetzt, daß er dies Zerbrechen annimmt und dann als sein Ureigenes zuläßt und ernst nimmt, was im Eingehen des Alten als ein Neues aus ihm heraufbricht. Es kann geschehen in Stunden drohender Vernichtung, wenn er es vermag, Vernichtung und Tod anzunehmen, wo dann plötzlich die Angst weicht und der Mensch ein neues, unbekanntes Leben in sich spürt, kraft dessen er sich auf eine ganz unbegreifliche Weise unzerstörbar und »in der Kraft« fühlt. Es kann geschehen im Verzweifeln am Widersinn dieser Welt oder im Eingeständnis eigener Schuld. Wenn der Mensch es vermag, das Unannehmbare anzunehmen, wenn er aushält, was nicht auszuhalten ist, kann es geschehen, daß er im Annehmen, im Aushalten, im Ausglühen plötzlich ein inneres Licht erfährt, das ihn in einen »Zustand der Klarheit« setzt, der nichts mehr zu tun hat mit einem Klarsein über etwas, sondern alle begründbare Klarheit umgreift. Es kann auch geschehen, wo der Mensch ein Verlassensein in der Welt, eine Ungeborgenheit, in der man als Mensch nicht leben kann, annimmt. Im Annehmen der ihn aushöhlenden Verlassenheit kann es geschehen, daß er erfährt, wie ein tieferes Aufgehobensein ihn umfängt, ein In-der-Verbundenheit-Stehen, von dem man nicht sagen kann, mit wem es bestünde. Es ist die uralte Erfahrung der Einheit aller Wesen im Sein, an der man selbst teilhat. Diese unbegreiflichen Erlebnisse, dies ganz plötzliche, völlig unbegründete Stehen in der Kraft, in der Klarheit, in der Liebe ist Ausdruck des im Menschen selbst aufgebrochenen und offenbar werdenden Geheimnisses des sich in ihm manifestierenden Seins, in dessen Fülle, Gesetz und Einheit alles Dasein in der Welt als Leben, Sinn und Bergung wurzelt und sich ewig erneuert.

Wer ahnt, wie vielen die Schrecken des Schlachtfeldes, der Bombennächte, der Gefängnisse und Lager, die dunkelsten Zeiten also, die Begegnung mit der Gotteskraft in uns selbst brachten und sie in den schwersten aller Stunden völlig unerwartet ins Licht stellte? Das ist der verborgene Schatz in der heutigen Menschheit: die Erfahrung des »ganz anderen«, das so viele nicht nur befähigte durchzustehen, was alle menschliche Kraft übersteigt, sondern sie zu Zeugen des Wesens berufen hat, das nur darauf wartet, in seinen Zeichen verstanden, in seinem Rufen gehört und zum Aufbruch zugelassen zu werden. Wie viele unter uns haben die Kraft erfahren, die in den schwersten Stunden, wo Vernichtung droht, aufgeht, wenn man nur demütig Sterben und Tod annimmt! Wie viele haben das Licht der Erleuchtung erlebt, das aus einer Verzweiflung hervorbrechen kann, wenn man das Unbegreifliche annimmt! Wie viele haben die unbegreifliche Geborgenheit gespürt, in die Verlassenheit umschlagen kann, wenn man das Unerträgliche aushält! Wie wenige aber wissen, was ihnen da geschah! Und doch entsprang hier für viele die Quelle neuer Hoffnung und neuen Glaubens und der Ursprung eines Fragens und Suchens nach dem Weg, der in das Leben und in die Wahrheit führt, die uns Menschen eigentlich zugedacht sind. Um diese Quelle und diesen Weg weiß Zen.

Dreierlei ist es also, das den westlichen Menschen von heute in die Tiefe des eigenen Wesens hineintreibt und für den Schatz seiner inneren Erfahrung aufschließt: die Not der Entpersönlichung in der versachlichten Gesellschaft, die Vertreibung des einzelnen aus dem bergenden Gefüge tragender Gemeinschaft und der...

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