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E-Book

Das menschliche Gesicht der Angst

AutorAlois Hicklin
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl152 Seiten
ISBN9783105608364
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Alois Hicklin setzt sich mit den unterschiedlichsten Formen von Angst auseinander: von den Phobien wie Höhen- oder Platzangst über Prüfungsängste bis hin zu Angstneurosen. Anhand von Fallbeispielen zeigt er, welche Ursachen bzw. Bedeutung diese Ängste haben können - ein erster Schritt zur Bewältigung oder zum Umgang mit Ängsten. Er zeigt aber auch, daß die Angst bei manchen Menschen so lebensbestimmend ist, daß sie der Auslöser für eine psychosomatische Erkrankung sein kann und welche Therapiemöglichkeiten es in diesem Fall gibt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Alois Hicklin, geb. 1931, Medizinstudium in Fribourg und Zürich; psychotherapeutische Ausbildung bei G. Condrau und M. Boss sowie am Institut für ärztliche Psychotherapie in Zürich. Ab 1970 eigene psychotherapeutisch-psychiatrische Praxis, später auch Lehrbeauftragter des Psychologischen Instituts der Universität Fribourg für Tiefenpsychologie.

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Leseprobe

Die Umweltängste (Phobien)


Höhenangst und Flugangst gehören zu den sogenannten Phobien oder phobischen Angstzuständen. Wir folgen hier einer Einteilung von Ernst E. Boesch, der die Phobien auch als »Umweltängste« bezeichnet und sie von den »Bewährungsängsten« und einer sogenannten »Grundangst« abzugrenzen versucht[20].

Mit dem Begriff der Umweltangst ist gemeint, daß es sich um Ängste handelt, die sich in bestimmten Situationen zeigen, also beispielsweise bei Höhe und Tiefe, in der Enge eines Raumes (Klaustrophobie) oder in der Weite des Raumes (in der Agoraphobie) oder beim Anblick bestimmter Tiere wie Mäuse, Spinnen, Hunde oder spitzer Gegenstände und anderem mehr. Demgegenüber soll bei den »Bewährungsängsten« (Beispiel: die Examensangst) mehr das Mißtrauen der eigenen Person gegenüber, die Vorstellung des eigenen Mißerfolgs, der Zweifel am eigenen Können im Vordergrund stehen. Und schließlich zeigt sich in den »Grundängsten« der vollständige Zusammenbruch der grundsätzlichen Handlungsfähigkeit. Es entsteht eine sogenannte »freiflottierende« Angst, die nicht mehr an bestimmte Situationen und Gegebenheiten (Objekte) gebunden erscheint.

Trotz vieler Bedenken, die sich einer solchen Einteilung entgegenstellen, habe ich sie vorerst übernommen, weil sie äußerlich eine Auf- und Einteilung der Fülle von verschiedensten Angstzuständen erlaubt und dem Bedürfnis nach Orientierung ein Stück weit entgegenkommt. Aufteilung ist aber nicht identisch mit einer tatsächlichen Klärung eines Sachverhaltes.

Immer wieder wird die gesonderte Herausnahme der Phobien und ihre Abhebung von anderen Angstzuständen damit begründet, daß es sich dabei um »reifere« Ängste handle, in denen das Ich (als psychische Instanz in der psychoanalytischen Terminologie) über ein größeres Angstbewältigungspotential – über bessere und zuverlässigere Abwehrstrukturen – verfüge. In den phobischen Ängsten gelinge dem Patienten wenigstens als Ausweg aus unerträglichen diffusen Ängsten »eine Pseudoobjektivierung, allerdings nicht durch Rückgängigmachen der Verdrängung (das wäre einer Lösung des neurotischen Konfliktes gleichzusetzen), sondern durch Verschiebung auf eine andere, eine angebliche Gefahr«[21]. Durch die Objektivierung würde gleichsam die Angst mit einem bestimmten Objekt verknüpft und damit aus der Angst Furcht. Damit wird Furcht, als Gestimmtheit der »objektgebundenen« Gefährdung, der Angst als diffuser Gestimmtheit der Bedrohung gegenübergestellt. »Diese Begriffsunterscheidung gehört heute beinahe zu den Selbstverständlichkeiten unseres philosophischen, psychologischen und anthropologischen Sprachgebrauchs«, faßt Gion Condrau[22] diesen Sachverhalt zusammen. Er setzt sich aber anschließend mit dieser »Selbstverständlichkeit« kritisch auseinander. »Selbstverständlichkeiten« sollten uns immer hellhörig machen, weil sich hinter ihnen nur allzu oft vordergründig einleuchtende, im Grunde genommen aber weitgehend unbedachte Auffassungen verbergen, die uns im beruhigenden (und angstvermeidenden) Gefühl der Pseudogewißheit belassen.

Gerade der am Beispiel der Höhenangst gemachte Versuch, diesem Angstphänomen in seiner Bedeutungsvielfalt näher zu kommen, muß diese Selbstverständlichkeit erschüttern. Die Höhenphobie hat uns gezeigt, daß uns in ihr nicht nur etwas Bestimmtes in dieser Phobie (Höhe, Tiefe) das »Fürchten lehrt«, sondern daß unser Verhältnis zu dem, was uns begegnet, die Frage nach unseren Fähigkeiten der Abgrenzung, die Frage nach der Echtheit unserer Selbständigkeit im Prüfungsfeld einer gegebenen Situation und die allgemeine »Fluchtgestimmtheit« zur Sprache kommen. Diese Situation ist ein gutes Beispiel dafür, daß in Ängsten, welcher Art sie auch immer sein mögen, und in menschlichen Beziehungen ganz allgemein, das Objekt im psychoanalytischen Sinne sich nie vom erlebenden Menschen (oder vom Subjekt) trennen läßt.

Letztlich gilt diese Untrennbarkeit auch für die sogenannten Realängste. Man meint damit Ängste, die sich auf konkrete äußere Bedrohungen beziehen und deshalb auch als verständlich und »normal« gelten. Wenn wir in einer Zirkusmanege plötzlich einem Löwen gegenüberständen, wären wir höchstwahrscheinlich ziemlich ängstlich, auch dann, wenn sich der Dompteur mit uns zusammen im abgeschlossenen Gitterraum aufhielte. Wenn wir diese Angst als normal bezeichnen, so hat das vermutlich weniger mit sogenannten realen Gefahren zu tun als vielmehr mit der Festlegung, welchen Situationen sich der Durchschnittsmensch im allgemeinen gewachsen fühlt und zu fühlen hat. Vom Standpunkt des Dompteurs aus sieht die Sache anders aus. Auch er weiß um die Gefährlichkeit, auch ihm ist eine gewisse Unberechenbarkeit im Umgang mit Löwen bekannt, gleichwohl kennt er ihre Verhaltensweisen und hat gelernt, mit ihnen umzugehen. Möglicherweise versteht er schlecht, wieso sich gewöhnliche Menschen vor Löwen so fürchten, aber beispielsweise vor Menschen keine Angst haben, obwohl sie dazu viel mehr Grund hätten. »Normalen« Menschen wiederum scheint es unverständlich, warum Menschen vor Menschen Angst haben sollen. Wir hatten einen Patienten, der unter Menschen regelmäßig in panische Ängste mit massiven Schweißausbrüchen und schweren psychosomatischen Symptomen geriet, der zu Hause aber Terrarien mit giftigen Schlangen hielt, mit denen er völlig angstfrei umging. Er konnte nicht verstehen, daß andere Menschen sich vor seinen Schlangen ängstigten[23]. Ein solches Angstverhalten mutet vorerst schwer verständlich an.

Nicht anders geht es uns, wenn wir einen Patienten mit massiven phobischen Ängsten, zum Beispiel mit einer schweren Agoraphobie [Platzangst], vor uns haben, der schon von den vielen visuellen Eindrücken beim Hinaustreten vor die Haustüre erdrückt wird. Das ist nur deshalb so, weil uns das Erleben eines »harmlosen Sonntagsspazierganges« bei strahlendem Wetter und beeindruckender Landschaft alltäglich und deshalb normal beziehungsweise selbstverständlich geworden ist. Das ist es aber nur, weil wir den Eindrücken, die uns auf dem Spaziergang begegnen, spielend gewachsen sind. In diesem Zusammenhang sei eine Patientin mit schwerer Agoraphobie erwähnt, die tagsüber ohne Begleitung ihres Ehemannes kaum einen Schritt außer Haus tun konnte, während sie sich nachts bei Dunkelheit immerhin ein Stück weit vom Haus entfernen konnte. Sie hatte die Situation mit ihrer Aussage klar erfaßt, daß sie bei Tageslicht von den vielen Eindrücken erdrückt werde und daß sie ihnen gegenüber keinen genügenden Stand hätte, während diese Eindrücke in der Dunkelheit weitgehend fehlten, etwa nach dem Motto: »Was ich nicht sehe, macht mich nicht heiß.« Gerade dieses Beispiel zeigt aber die Fragwürdigkeit einer Abgrenzung phobischer von freiflottierenden, unbestimmten Ängsten. Die Angst dieser Patientin mit Agoraphobie kam einem psychotisch-diffusen Angsterleben sehr nahe. Der langen Rede kurzer Sinn: Der an einer Phobie Leidende ist im allgemeinen nicht deshalb der »Gesündere«, weil er Ängste besser oder durch Verschiebung abwehren kann, sondern weil häufig der Bereich, in welchem er sich ängstigt, kleiner ist als bei Menschen, die mit diffusen, ungerichteten Ängsten die Hilfe des Psychotherapeuten aufsuchen.

Umweltängste, das haben wir oben ausgeführt, vermögen den Anschein zu erwecken, als ob die angebliche Bedrohung unabhängig vom Menschen existiere. Sie lenken vom Menschen ab und lassen uns den Blick nur auf die Außenwelt richten. Was die Mehrheit einer Gruppe dann als bedrohlich erlebt, wird als Furcht oder normale, verstehbare und damit auch nicht krankhafte Angst bezeichnet. Andere Ängste, welche die meisten Menschen nicht teilen, also beispielsweise Ängste vor engen oder weiten Räumen, vor Spinnen, Mäusen, vor Blitz und Donner, vor Dunkelheit oder vor der Helle des Tages, und die als »Phobien« bezeichnet werden, gelten hingegen als krankhaft, als neurotisch. Zudem werden diese Ängste als lächerlich und unsinnig abgetan. Durch diese Etikettierung verlieren sie aber ihren Sinn, da sie eigentlich, wie alle Ängste, zur Auseinandersetzung mit ihnen aufrufen und deshalb »gesund« sind. Gerade weil Phobien, wenn sie über längere Zeit bestehen und sich verstärken, sich durch eine bloße Vermeidungshaltung nur noch in Schach halten lassen und meist mit einer erheblichen Einschränkung des freien Bewegungsraumes des betreffenden Menschen verbunden sind, führen sie recht häufig in die Sprechstunde des Arztes oder Psychotherapeuten. Neben der Klaustro- und Agoraphobie sind auch schwere Spinnenphobien (schon der Anblick einer Spinne ruft ausgeprägte Angstgefühle hervor, häufig können Spinnen auch nicht entfernt und schon gar nicht berührt werden), aber auch Ängste vor anderen Tieren recht häufig, wie vor Mäusen, Käfern, Insekten, Schlangen, Pferden, Kühen, Hunden. Als Phobien müssen auch die Ängste vor Gewittern, vor Blitz und Donner, die Höhenangst, aber auch die Tiefenangst, die Angst vor dem Wasser, vor der Helle des Tages und dem Dunkel der Nacht bezeichnet werden. Sehr viele Menschen fürchten sich vor dem Infiziertwerden durch Bakterien und Viren, wobei sich heute zu der schon längst bekannten Angst vor den klassischen Geschlechtskrankheiten Lues und Gonorrhoe noch die Aids-Phobie gesellt. Etwas seltener sind phobische Ängste vor Messern und spitzen Gegenständen. Auf einige dieser Phobien wollen wir näher eingehen: auf die Klaustrophobie und die Agoraphobie, auf die Spinnenphobie, die Hundephobie und schließlich auf die Bakteriophobie und die Phobie vor Geschlechtskrankheiten. Die Wesenszüge und der Bedeutungsgehalt der Höhenphobie wurden bereits ausführlich...

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