Die Gefahr der emotionalen Verschmelzung von Eltern für das Kind
Wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, neigen Borderline-Persönlichkeiten dazu, ihre innere Leere durch Identifikation und Verschmelzung mit einem Partner zu füllen. Dies setzt aber voraus, dass dieser bereit ist, zugunsten seines Partners und der Beziehung, seine Individualität aufzugeben. In meinem Buch „Wenn lieben weh tut“ bin ich bereits darauf eingegangen, wie sich die Partner in einer Borderline-Beziehung oft in destruktiver Weise ergänzen. Sie sind oft beide abhängig von der Reflektion ihres Partners, geben die Verantwortung für sich selbst an diesen ab und können so weder für sich noch für den anderen oder die Beziehung sorgen.
Wenn die beteiligten Partner, also die Eltern, sich als gegenseitige Erweiterung wahrnehmen und sich über den anderen definieren, bleibt es den Kindern nicht erspart, ebenfalls in diesen Prozess integriert zu werden. Auch wenn dies in einem unterschiedlichen Ausmaß geschieht, verschmilzt auch jedes der Elternteile mit dem Kind. Für das Kind bedeutet das, wenn es nicht abgelehnt werden will, sich beiden Eltern bedingungslos anzupassen. Es wird also, um nicht zurückgewiesen und so in seiner Existenz bedroht zu sein, sich bemühen, es jedem Elternteil recht zu machen und dessen jeweilige Stimmung zu reflektieren.
Dabei gerät es, bei Auseinandersetzungen oder Dissonanzen zwischen den Eltern, in einen ausweglosen Konflikt. Da es ja von beiden Elternteilen als Erweiterung der eigenen Persönlichkeit gesehen wird, erwarten auch beide, dass es sie reflektiert, sich positioniert und anpasst. Für das Kind hat dies dramatische Konsequenzen, denn egal was es tut, es wird von einem seiner Elternteile verstoßen werden. Selbst wenn es sich nicht positioniert und ausschließlich Angst oder Verzweiflung zeigt, entspricht es nicht den Interessen der streitenden Eltern, da diese ja oft ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind und das Kind in seinem Schmerz dann als „belastend“ erleben. Im „günstigen“ Fall wird es ignoriert, also unsichtbar, im ungünstigen Fall wird es für sein „Stören“ bestraft. Wie im Abschnitt „Misshandlungsmuster coabhängiger Partner und deren Konsequenzen“ (S. 30) beschrieben, wird es auch oft in Streitigkeiten involviert und gegen den Streitpartner benutzt. Dabei kann es sich ergeben, dass dieser dann seine Aggression ausschließlich gegen das Kind richtet, weil er dieses, verschmelzungsorientiert, als Verlängerung des „verhassten“ Partners wahrnimmt. Da das Kind in dieser Konstellation definitiv das schwächste Glied ist, bietet es auch den geringsten Widerstand, so dass es dann oft zum Blitzableiter degradiert wird.
Die schwerwiegendsten direkten Gefahren, die sich aus dem Verschmelzungsprozess der Borderline-Persönlichkeit mit dem Kind ergeben, sind diejenigen, die deren selbstverletzende oder suizidale Handlungen betreffen. Dabei wird das Kind genötigt, sich riskanten oder lebensgefährlichen Situationen auszusetzen oder sich an Alkoholexzessen oder selbstschädigenden Verhaltensweisen wie Rauchen, übermäßiges Essen, exzessives Sport treiben u. ä. zu beteiligen.
Besondere Grausamkeit ergibt sich nur allzu oft durch misshandelnde Übergriffe auf das Kind, wenn es als Verlängerung des Partners im Konflikt angesehen wird und stellvertretend für diesen Gewalt und Herabsetzung erfahren muss.
In seiner Tragik am schwerwiegendsten, ist die Tötung des Kindes aus diesem Zusammenhang heraus (der Fall Amélie-Céline, S. 72) sowie der sogenannte erweiterte Selbstmord, in dem sich das jeweilige Elternteil gemeinsam mit seinem Kind tötet. In den Medien werden derartige Ereignisse dann oft als Familientragödie bezeichnet. Die typischen Ergebnisse der Befragungen von Bekannten oder Nachbarn der Familien, vermitteln dabei oft Unauffälligkeit oder besondere Zurückgezogenheit der Eltern. Nette und ruhige Menschen, die keinerlei Anzeichen für derartige Tragödien geliefert haben. Nicht jede Borderline-Beziehung vermittelt das innere Chaos nach außen, genauso häufig gilt es schamhaft, den Rahmen zu wahren und das Scheinbild einer heilen Familie zu präsentieren.
Familiäre Geheimnisse
Persönlichkeitsstörungen, Alkoholismus, Straftaten, sexuelle Übergriffe … all das, was gesellschaftlichen Normen und Werten widerspricht, wird oft geleugnet. Nicht nur das Individuum ist bestrebt, in seinen sozialen Kontakten so zu funktionieren, dass es nicht zurückgewiesen wird. Auch Familien versuchen in ihrer Funktionalität nach außen so zu agieren, dass sie Anerkennung und Respekt erhalten und von der Gemeinschaft nicht ausgestoßen oder verurteilt werden. Dabei ergibt sich eine innerfamiliäre Dysbalance zwischen der Realität und dem zu vermittelnden Scheinbild. Um diese auszugleichen, wird das jeweilige Ereignis verdrängt, verniedlicht, ignoriert oder geleugnet. Körperliche Verletzungen werden Unachtsamkeiten oder Unfällen zugeschrieben, Alkoholkonsum wird zur Übelkeit degradiert, sexuelle Übergriffe ignoriert oder in ihrer Verantwortung an das Kind zurückverwiesen, was sich dann als „schlecht“ wahrnimmt und beschämt und verängstigt schweigt.
Für Kinder entwickelt sich aus diesem Leugnen und Kaschieren ein Missverhältnis zum jeweiligen Ereignis, mit der Schlussfolgerung, dass es zur Normalität gehört und somit akzeptabel ist. Dabei wird ihm, durch die Botschaften der richtungsweisenden Eltern vermittelt, dass es seiner Wahrnehmung nicht vertrauen kann (und darf). Wenn das gewalttätige Verhalten einer Bezugsperson im Nachhinein verniedlicht oder entschuldigt wird, empfindet das Kind seine erlebte ganz natürliche Angst als überzogen und unangebracht. Es beginnt, sich selbst zu misstrauen. Parallel dazu gerät es in einen Widerspruch, den es nicht aufdecken darf. Einerseits werden Handlungen verharmlost und familiär akzeptiert, andererseits aber müssen sie verdeckt und vor äußerer Wahrnehmung geschützt werden, womit das Kind aber auch indirekt erfährt, dass diese Handlungen eben nicht tolerierbar sind. Es wird diesen Widerspruch und auch die Auseinandersetzung damit leugnen, um seine Existenz nicht zu gefährden, die ja von der Familie abhängig ist.
So wie ein Kind auch bereit ist, die Verantwortung für die Defizite oder Misshandlungen seiner Eltern zu übernehmen (sie sind nur so, weil ich nicht gut genug bin …), so übernimmt es dann auch die Verantwortung dafür, die Familie vor äußerer Bloßstellung zu bewahren. Es gilt, die Eltern zu schützen, denn selbst wenn es Eltern mit wenig hilfreichen Eigenschaften sind, sind sie doch trotzdem die wichtigsten Bezugspersonen für ihr Kind. Und so ist es bereit, das Geheimnis der Familie zu bewahren und ebenfalls zu leugnen und zu verschleiern, um so auch das eigene Verstoßenwerden zu vermeiden.
Auch in Borderline-geprägten Familien werden die typischen, symptomatischen Verhaltensweisen oft gedeckt, wie es sich aus den authentischen Erzählungen im 2. Teil dieses Buches (ab S. 47) herauslesen lässt. Christinas Mutter bat die Nachbarn um Stillschweigen und Christina selbst wagte es nicht, sich an die Polizei zu wenden, als ihr Vater sie hochschwanger, in einer kalten Nacht, bedrohte und aus der Wohnung warf. Sie schützte ihn, aus Angst davor, dass er dann Repressalien ausgesetzt sein würde, für die sie dann, aus ihrer Sicht, verantwortlich gewesen wäre.
Judith, die von ihrer Mutter keinen Trost oder eine empathische Reaktion erhalten hat, weil diese die Gewalt ihres Mannes leugnete, um sich nicht den eigenen Ängsten oder Verhaltensdefiziten, einschließlich der daraus entstehenden Verantwortlichkeit stellen zu müssen. So erhielt Judith schon früh die Lektion, dass der Umgang mit Misshandlung und Gewalt über tolerieren und schweigen erfolgt.
Das familiäre Borderline-Chaos wird entweder durch die äußere perfekte Inszenierung einer heilen Familie gedeckt oder offensichtlich ausgelebt. Je nach sozialem Status, gilt es, die Fassade aufrecht zu erhalten, um nicht gesellschaftlich degradiert zu werden. Kinder übernehmen dabei schnell die Verantwortung und lernen, das für die Familie gefährliche Tabu zu vertuschen. Ihr Wertesystem wird dabei untergraben, da sie weder stabile Werte vermittelt bekommen, noch in ihren Handlungen mit ihren Werten übereinstimmen dürfen. Der kleinste Versuch, die Wahrheit auszusprechen wird oft hart bestraft. Um das familiäre Geheimnis zu schützen und zu verhindern, dass es offenbart wird, implizieren Aussagen wie „was haben wir nicht alles für dich getan …“ und „wie kannst du uns das antun …“, Schuld und Scham beim „abtrünnigen Verräter“. Dabei wird oft das im Keim erstickt, was heilsam wäre. Nämlich die Wahrheit zu erkennen, auszusprechen, zu akzeptieren und zu verarbeiten. Das Kind, das sich gegen derartige Übergriffe wehrt oder nicht bereit ist, das familiäre Geheimnis um jeden Preis mitzutragen, wird zur Bedrohung für das familiäre System und entsprechend...