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Zerreißprobe

Kirchlicher Dienst zwischen persönlicher Überzeugung und amtlichen Anspruch

AutorWunibald Müller
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451345654
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Vieles was kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aller Berufsgruppen - einschließlich der ehrenamtlichen Mitarbeiter - augenblicklich erleben, wird für sie zu einer Zerreißprobe: • die Gesamtsituation der Kirche - die kirchlichen Strukturen, denen sie sich zum Teil hilflos ausgesetzt fühlen, • die vielfältigen Erwartungen, die von ihrem Arbeitgeber, aber auch von den Menschen, für die sie da sein wollen, auf sie gerichtet sind, • eine Diskrepanz zwischen ihren persönlichen Überzeugungen, ihrem persönlichen Lebensstil und dem, was sie im Namen ihrer Kirche nach außen hin vertreten sollen. Das neue Buch von Wunibald Müller beschreibt die Situationen und hilft, Strategien zu entwickeln und Wege zu finden, um körperlich, seelisch und spirituell gesund zu bleiben.

Wunibald Müller leitet als katholischer Theologe und Psychologe das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach.

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Leseprobe

2. Die innerpsychischen Lebensenergien nutzen


Neben der Resilienz, den Wachstums- und Widerstandskräften, über die wir verfügen, können wir auch unsere innerpsychischen Lebensenergien für die Bewältigung schwieriger Situationen nutzen. Oft werden diese Lebensenergien von uns nur halbherzig benutzt oder wir können sie für unser Leben nicht fruchtbar machen, da sie im Laufe unsrer Entwicklung in ihrer Entfaltung behindert worden sind. Stehen uns diese Lebensenergien aber zur Verfügung, leisten sie einen ganz entscheidenden Beitrag zu unserer Lebenszufriedenheit und für die Bewältigung schwieriger Situationen, wie sie uns in Zerreißproben begegnen.

Die Tiefenpsychologie ordnet diesen innerpsychischen Kräften – sie spricht auch von Archetypen, also Urbildern, von denen eine psychische Energie ausgeht – bestimmten Funktionen und Eigenschaften zu. Dabei unterscheidet sie zwischen vier Energien:

  • der Energie des Königs bzw. der Königin
  • der Energie des Kriegers bzw. der Kriegerin
  • der Energie des Liebhabers bzw. der Liebhaberin und
  • der Energie des Magiers bzw. der Magierin.

Auf der Folie dieser unterschiedlichen psychischen Kräfte und Energien lässt sich anschaulich darstellen, über welch eine Vielfalt von unterschiedlichen Energien und Ressourcen wir verfügen. Das allein schon kann dazu beitragen, diesen Energien mehr Bedeutung in unserem Leben einzuräumen und sie bewusst bei der Auseinandersetzung mit schwierigen Lebenssituationen für uns zu nutzen. Bei den folgenden Ausführungen zu Lebensenergien orientiere ich mich an Robert Moore und Douglas Gilette (1990), die sich sehr ausführlich damit befasst haben.

Die königliche Energie


Jeder und jede von uns verfügen über eine königliche Energie. Das Bild vom »göttlichen Kind« in uns beschreibt diese königliche Energie. Wenn es uns gelingt mit dem göttlichen Kind in Berührung zu kommen und wir das göttliche Kind als einen vitalen Aspekt unseres Selbst verstehen, erweist es sich als eine Quelle schöpferischer Kraft, die wir für unser Leben und für unsere Arbeit fruchtbar machen können. Der Schattenseite der königlichen Energie begegnen wir, wenn wir uns mit dem göttlichen Kind identifizieren, also glauben selbst das göttliche Kind zu sein.

Sind wir mit dem göttlichen Kind in uns in Berührung, wirkt sich das positiv auf unser Selbstwertgefühl aus. Wir erachten uns dann für wertvoll und liebenswert im Unterschied zu einem negativen Selbstwertgefühl, bei dem wir uns für wertlos und nicht liebenswert halten. Bei einem positiven Selbstwertgefühl können wir uns annehmen und lieben, so wie wir sind. Wir sind bereit und in der Lage, fürsorglich, respektvoll, liebevoll, zärtlich und verantwortlich mit uns umzugehen – alles, was in uns ist und uns ausmacht, zu küssen (vgl. Grün, 1995). Wir sind weiter davon beseelt, uns zu entfalten und glücklich zu sein (vgl. Fromm 1972, 85) und gönnen das auch unseren Mitmenschen. Wir neiden es ihnen nicht, wenn sie glücklich sind. Wenn wir uns selbst annehmen können und angemessen für uns sorgen, nehmen wir anderen und dem lieben Gott viel Arbeit ab.

Menschen, die in Berührung mit ihrer königlichen Energie sind und sich selbst schätzen – die eine echte Liebe für sich empfinden und spüren, haben auch viel für andere Menschen übrig. Das wusste schon Meister Eckhart, wenn er sagt: »Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst.« (Fromm 1972, 89) Auch Gott können wir nach dem Mystiker und Mönch Thomas Merton nicht vollkommen lieben, außer wir lieben uns selbst vollkommen. Solange wir nicht in der Lage sind, uns selbst zu lieben und uns anzunehmen, werden wir von anderen erwarten, dass sie durch ihre Anerkennung die Liebe ersetzen, die wir uns selbst gegenüber nicht empfinden. Wenn wir uns selbst lieben, müssen andere nicht für diesen Mangel an Liebe uns selbst gegenüber aufkommen. So gesehen stimmt der Buchtitel eines Bestsellers: »Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest«. Manche haben Probleme damit, von der Liebe zu sich selbst als etwas Positivem zu sprechen. Ihnen ist beigebracht worden, es sei etwas Negatives, ja Egoistisches, sich selbst zu lieben, und das gelte es zu überwinden. So versagen sie sich das Ja zu sich selbst. Sie sagen zu sich, ich bin nichts wert, ich bin unbedeutend, ich bin klein, ich bin nicht liebenswürdig. Ihre Ausstrahlung ist entsprechend negativ. Sie hat wohl Joseph Ratzinger (1982, 79ff.) im Blick, wenn er schreibt:

»Man sagt von Menschen, die besonders unerlöst wirken […] häufig: Der mag sich selbst nicht, um so die äußerste Art der Verquerung gegenüber dem Sein auszudrücken; denn wen und was soll der denn schon mögen können, der mit sich selbst zerfallen ist? Hier zeigt sich etwas sehr Wichtiges: Der Egoismus ist bei den Menschen zwar natürlich und ganz von selber da, aber keineswegs die Annahme seiner selbst. Den ersten muss man überwinden, das zweite muss man finden. […] hier liegt nicht zuletzt die Wurzel dessen, was die Franzosen ›maladie catholique‹ nennen: Wer nur übernatürlich, nur selbstlos sein will, ist zwar am Schluss ich-los, aber alles andere als selbstlos […]. Wer sich annehmen kann, dem ist das entscheidende Ja gelungen. Der lebt im Ja. Und nur wer sich annehmen kann, kann auch das Du annehmen, kann die Welt annehmen. Der Grund dafür, dass ein Mensch das Du nicht akzeptieren, mit ihm nicht ins Reine kommen kann, liegt darin, dass er sein Ich nicht mag und dann erst recht nicht sein Du annehmen kann.«

Das Himmelsbrot des Selbstseins, das wir Menschen uns nach Martin Buber einander reichen, baut auf unsrer Selbstannahme auf und trägt zu unserer Selbstannahme bei.

Die Kriegerenergie


Kennzeichen der Kriegerenergie sind die Kraft und Energie, die eingesetzt werden, einmal um sich einen Raum der Möglichkeiten zu erschließen, dann um sich vor anderen schützen zu können. Die Personen, die mit der Kriegerenergie ausgestattet sind, fühlen sich der größeren Sache verpflichtet. Dafür stellen sie manchmal auch ihre eigenen Bedürfnisse zurück oder verhalten sich emotional distanziert gegenüber anderen Personen. Sie zerstören, was zerstört werden muss: Korruption, Anspruchsdenken, Unterdrückung. Ausgestattet mit ihrem Schwert, sind sie in der Lage, sich Konflikten zu stellen, sich einzumischen, unbequem zu sein und, wenn es nötig ist, auch, auf die Barrikaden zu gehen. Darin zeigt sich ihre prophetische Seite.

Ist die Energie des Kriegers beziehungsweise der Kriegerin verbunden mit der königlichen Energie, zeichnet die Person aus, dass sie mutig und entschieden für ihre Sache eintritt, ohne dabei sich selbst zu vernachlässigen. Sie kann sich dann für andere einsetzen, sich aber auch schützen und abgrenzen, wenn das aus Rücksicht für sie und ihre körperliche und seelische Gesundheit geboten ist. Sie ist also in der Lage, auf eine angemessene Weise für sich und andere Sorge zu tragen.

Die Schattenseite der Krieger-Energie finden wir in den Personen, die sich zu Tode schaffen. Sie arbeiten Tag und Nacht und meinen ihr Leben für andere opfern zu müssen. Sie schaden damit sich selbst und anderen, mit denen sie zusammen leben und arbeiten, da diese in der Regeln ihren Erwartungen und Standards nicht entsprechen können und sich ständig unter Druck gesetzt fühlen.

Die Liebhaberenergie


Die Liebhaberenergie steht unter anderem für Eros, Enthusiasmus und Lebendigkeit. Haben wir Zugang zur Liebhaberenergie, fühlen wir uns energetisiert, leidenschaftlich, begeisterungsfähig. Aus der Liebhaberenergie erwachsen uns der Sinn, die Offenheit für das Unendliche und Ewige, der Glaube an eine bessere Welt. Die Person, die mit der Liebhaberenergie ausgestattet ist, verlangt es danach, das Leben in seiner Fülle auszukosten. Ihre Leidenschaftsfähigkeit macht sie empfänglich für tief empfundene Freude, tiefen Schmerz und ein echtes Mitgefühl. Die Liebhaberenergie bringt uns nahe an das Lebensfeuer, das in der Liebe brennt. Der Mann, die Frau unter dem Einfluss der Liebhaberin, des Liebhabers möchte berühren und berührt werden. Die Liebhaberenergie kommt auch in unseren Wünschen und unserer Sehnsucht nach der Erfahrung von Zugehörigkeit und Liebe zum Ausdruck. Die Liebhaberenergie ist weiter eine Quelle der Spiritualität, mystischer Erfahrung, die uns die Erfahrung der Verbundenheit, des Einsseins mit dem Unermesslichen ermöglicht.

Menschen, die mit ihrer Liebhaberenergie in Berührung sind, entdecken wir unter den Männern und Frauen, die besonders sensibel sind für psychische Prozesse, die über einen sechsten Sinn verfügen. Wir finden sie bei Menschen, die ihren Ahnungen und ihrer Intuition trauen. Wir begegnen ihnen bei kirchlichen Mitarbeitern, deren Predigt, Unterricht, Vorlesung angereichert ist durch Bilder und Geschichten, die »mit dem Herzen denken«.

Die Schattenseite der Liebhaberenergie zeigt sich in der Unfähigkeit, sich begrenzen zu können. Dann ist der Liebhaber Gefangener seiner Gefühle, verloren im Meer seiner Gefühle, kann sich nicht kontrollieren und seinen Gefühlen der Faszination, der Angst und Verzweiflung nicht widerstehen. Die negative Liebhaberenergie manifestiert sich dann in einer nicht enden wollenden Ruhelosigkeit. Dann sind wir ständig unzufrieden mit dem, was wir haben – auch an Schönem, und suchen außerhalb von uns, was wir nur in unserer Tiefe finden können. Wir sind dann nicht bereit, uns unserer Sterblichkeit zu stellen, unsere Endlichkeit zu akzeptieren.

Die Magierenergie


Bei der Magierenergie treffen wir auf die Energie, die am...

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