Der 20. Juli
(2010)
Nur eins würde dem Sinn dieser Stunde entsprechen: schweigen in Ehrfurcht. Aber das würde den Menschen, an die wir heute denken, nicht gerecht. In Demut und Dankbarkeit stehen wir hier, wo der Mord an den Patrioten seinen grausamen Anfang nahm. In Demut, da uns die Pein der Prüfung erspart geblieben ist – wir wissen nicht, wie wir uns verhalten hätten. Aber auch in Dankbarkeit, da die Menschen des 20. Juli ein Vorbild des Anstands hinterlassen haben, weil die Erinnerung an sie und den gescheiterten Aufstand eine Mahnung an die Bürger unserer Welt darstellt.
Die Menschen des 20. Juli sind ein Teil deutscher und europäischer Geschichte und in der deutschen Geschichte einmalig: Nie zuvor gab es in Deutschland einen solchen Aufstand für Befreiung, für Recht und menschliche Würde, von Menschen aus verschiedenen Schichten getragen – Adel und Gewerkschaftler, Militär und Beamte, Christen und Freidenker, aus allen Teilen des Landes. Gemeinsam im Kampf gegen ein Übel, den eigenen Unrechtsstaat, der das Land moralisch und schließlich existentiell in eine Katastrophe trieb, und doch auch mit sehr verschiedenen Zukunftsvorstellungen.
Ihnen gilt unsere Bewunderung, die ihnen in früheren Zeiten von Deutschen und Fremden eher verschwiegen wurde. Ihr Beispiel der nur dem eigenen Gewissen folgenden Unbeugsamkeit passte weder den Deutschen, die im Dritten Reich der Begeisterung oder der Passivität verfallen waren, noch den Feinden, die überzeugt waren, dass alle Deutschen Nazis waren. Heute sollten wir uns um ein lebendiges historisches Verständnis bemühen. Das Menschliche, das immer individuell ist, mit historischem Wissen zu verbinden, ist stets eine Herausforderung, und ganz besonders vielleicht, wenn es Menschen betrifft, die man als Menschen bewundert, deren Denken und Verhalten uns aber gelegentlich fremd vorkommen. Wir müssen uns bewusst sein, dass diese großartigen Menschen in einer uns fernen Welt lebten, unter den schwierigsten Bedingungen; wir sollten versuchen, sie in ihrer ganzen Größe und Tragik zu verstehen. Dieser Ort hier des Leidens sollte Verständnis mit Einfühlung verbinden.
Aber vorerst das rein Menschliche, das Unmittelbare, die Ehrfurcht vor diesen Menschen: die Trauer, die uns an diesem Ort berührt. Ich habe die Erschütterung des plötzlichen Wiederauftauchens von vergangenem Schrecken hier im Bendlerblock am 20. Juli 1954 selbst erlebt – bei der ersten offiziellen Gedenkstunde für die Menschen des Aufstands. Hauptredner war ein Freund meiner Eltern, Hermann Lüdemann, der als Sozialdemokrat sehr früh 1933 verschleppt und gepeinigt wurde. Bundeskanzler Adenauer war anwesend – aber es war die Sicht der Witwen in Schmerz und Trauer, die Sicht der vaterlosen Kinder, das Wahrnehmen ihrer Tränen, die ich sah oder ahnte – das hat mich zutiefst betroffen. Etwas änderte sich in mir, Gefühle vorerst, Gedanken später, die ich aber am nächsten Tage in einem Brief festhielt. Die Opfer waren lebensnah, die Tragik spürbar. Eine innere Scham überkam mich, die Scham über meine hasserfüllte Abscheu vor allem Deutschen, das in mir seit meiner Kindheit nistete. In jenem Brief schrieb ich, dass ich ein Gefühl der Befreiung spürte, ein Bröckeln des unreflektierten Hasses des Kindes, des Ausgeschlossenen, dessen Eltern aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Trauer der Hinterbliebenen hat mich aufgewühlt und im Rückblick bin ich mir bewusst, dass ich für diesen Schock eigentlich vorbereitet war. Als Kind im Nationalsozialismus aufgewachsen, spürte ich die Gefahren und die Hilflosigkeit der damaligen Zeit, ich kannte einige der frühen Opfer des Regimes und wusste auch, dass es gute Menschen gab – und träumte von Freiheitskämpfern und Freiheit. So hatte mein Leben mich auf den Schock der Begegnung vorbereitet: Ich wollte ja an ein anderes Deutschland glauben. Auch heute noch fällt es mir schwer, das innere Aufrütteln jenes Tages zu erklären: Es ging um Trauer und Bewunderung, aber auch, und in demselben Brief, um Bedenken: der Versuch der Befreiung kam spät und die Ideale der Befreier entsprachen nicht unseren Idealen.
Jene Stunde im Bendlerblock am 20. Juli 1954 hat mein Leben begleitet, hat mir den Weg zu neuen Beziehungen zur deutschen Gegenwart ermöglicht, vertieft durch spätere Freundschaften, die gemeinsames Gedenken des 20. Juli einschlossen. Ich denke an Ralf Dahrendorf und Marion Gräfin Dönhoff. Und dieses Erlebnis mag auch Ermutigung gewesen sein, sich immer wieder mit der widersprüchlichen Geschichte dieses Landes zu befassen. Die Erinnerungen an den 20. Juli sind selbst voller Widersprüche und oft voller verdeckter Selbstinteressen: Ich habe versucht, mir selbst meine eigene Erfahrung durch die Wahrnehmung der Forschung so vieler Historiker verständlich zu machen. Mythische Heroisierung oder Verleumdung sind verderblich.
Damals, 1954, ergriff mich die Trauer der Hinterbliebenen, heute möchte ich mich an die Familienmitglieder wenden. Meine Damen und Herren: Sie tragen ein schweres aber auch großes Erbe, Sie wissen besser als die allermeisten von uns, was Ihre Eltern und Großeltern erlebt und erlitten haben, und Sie wissen um den schweren Weg, dem die Überlebenden ausgesetzt waren.
Auch wissen Sie, was die Frauen im Widerstand geleistet haben: ohne deren Verständnis, ohne deren Liebe und Hilfe wäre der Widerstand unvorstellbar gewesen. Dieser unerschütterliche, als selbstverständlich empfundene Zusammenhalt entsprach dem Geist des Widerstands. Allein das Wissen um das unbeschreibliche Leid des Mannes, die verzweifelten Versuche, den Verurteilten doch noch das Leben zu retten, die Sorge um die Kinder zur Zeit der Sippenhaft: alles Beweise unfassbarer Tapferkeit.
Ein tiefer Glaube an Gott und sein Walten gab vielen Widerständlern Rückhalt und Rechtfertigung. Alle hatten ein durchdringendes Verantwortungsgefühl – ein Pflichtgefühl aus Tradition, im Dienste der Humanität, überzeugt von den Geboten der Menschlichkeit.
Sie wissen: Der Aufstand war nicht umsonst. Die Erinnerung an ihn hat einige Vordenker der Bundesrepublik bewegt. Das Grundgesetz ist entferntes Echo: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Die Erinnerung hat das Selbstbewusstsein der neu entstandenen Bundeswehr bestimmt: der Gedanke des Staatsbürgers in Uniform ist Leitfigur der Bundeswehr; die Mahnung, dass selbst der Soldat seinem Gewissen folgen muss – bis hin zum Ungehorsam – ist Erbe des Widerstands, wie dies auch der frühere Generalinspekteur Klaus Naumann, der unter uns weilt, öfters betonte: «In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehorsamsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gestellt würde.» Dieses Gelöbnis glich in sich selbst einer moralischen Revolution, Abschied vom Kadavergehorsam, Echo von Schillers Beschwörung, dass Tyrannenmacht eine Grenze haben muss. Eine grundlegende Errungenschaft der deutschen Geschichte – von anerkannter Bedeutung auch für Soldaten anderer Nationen.
Wir gedenken hier der Menschen, die am letzten, größten Moment des deutschen Widerstands teilgenommen haben. Stellvertretend, ungenügend, nur einige Namen: Wir denken an General Beck, an die Brüder Stauffenberg, an Hans von Dohnanyi und die Familie Bonhoeffer, an Helmuth Graf von Moltke und seine Mitstreiter, an Fritz von der Schulenburg. Auch an Sozialdemokraten, an Wilhelm Leuschner, Julius Leber, Gustav Dahrendorf, die trotz schon erfahrener Folter sich erneut dem Widerstand stellten, an Harald Poelchau, den Gefängnispastor. Aber wir sollten uns auch an die frühen Widerständler erinnern, an die Gegner der Nazis in Weimar und die nach der Machtübertragung an Hitler 1933 verfolgten Gegner, die im Untergrund den Kampf weiterführten, wo auch Willy Brandt sein Leben riskierte; an Einzelne wie Georg Elser, und an kleine Gruppen wie die Geschwister Scholl oder Arvid Harnacks Rote Kapelle – bis zuletzt in die höchsten Kreise des Militärs und der Bürokratie. Auch sollten wir der Menschen gedenken, die in jener Zeit ganz einfach Anstand bewiesen haben, in aller Stille, die den Hilflosen einen menschlichen Dienst erwiesen haben. Was waren das für Menschen, die ihr Leben riskierten, um anderen zu helfen, oder um ihr Land zu retten, um das Prinzip des Rechts neu zu festigen.
Es war schwer für die Menschen des späteren Widerstands, ihre Welt zu verstehen, erschwert wohl auch durch ihre Vorstellungen der deutschen Vergangenheit. Sie lebten im Schatten dramatisch-traumatischer Geschichte. Ganz knapp nur einige Andeutungen: Von 1914 bis 1933 taumelte Deutschland von einem tief aufwühlenden Umsturz zum anderen: Rausch und Siege von 1914 endeten mit einer anscheinend plötzlichen Niederlage, mit einer neuen, für viele fremden Staatsform, befrachtet von alten Schulden, die sich in einer Welt von Feinden behaupten musste, Inflation und Wirtschaftskrise – und Kampf im Innern. Das Land war gespalten, auch die Deutung der vielen Traumata war Kampfgebiet. Viele der...