I
Einleitung:
Außenseiter, Mainstreamer, Individualist
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler war kein Star, kein Celebrity-Gesicht, das die Menschen auf der Straße erkannt hätten. Gelegentlich war er zu Gast in Fernseh-Talkshows und kommentierte deutsche Geschichte und nationale Identität, oder äußerte sich kritisch zur Vereinbarkeit von Islam und westlichen Werten. Wenn er, als sei das ein Bestandteil des Namens, als der «Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler» bezeichnet wurde, steckte darin ein Hinweis auf ein bestimmtes wissenschaftliches Programm, das er seit den frühen 1970er Jahren an der damals neu gegründeten Reformuniversität Bielefeld umzusetzen versuchte: Geschichte nicht als Politik- und Ereignisgeschichte, sondern als Sozialgeschichte mit traditions- und gesellschaftskritischem Impuls. Aber in der Ortsbezeichnung klang auch ein ironischer Hinweis auf Randlage und Provinzialität an, mit der Wehler gerne kokettierte, wenn er von der «westfälischen Steppe» sprach, in die römische Zivilisation anders als in seine rheinische Heimat nie vorgedrungen war und die nach der deutschen Wiedervereinigung noch weiter von den intellektuell-politischen Erregungszonen entfernt lag als in der alten Bundesrepublik. Aber in dieser Steppe konnte er sich, ungestört von äußeren Ablenkungen, umso besser an seinen Schreibtisch zurückziehen – und mit Beharrlichkeit in asketischer Tagesorganisation Texte verfassen, die eine beträchtliche Wirkung entfalteten.
Auf diese Weise sind Millionen Menschen mit ihm in Berührung gekommen. Im schulischen Geschichtsunterricht spielte seine Interpretation des Kaiserreichs als autoritärer Obrigkeitsstaat und damit als Wurzelgrund für den Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Seine fünfbändige «Deutsche Gesellschaftsgeschichte», die vom 18. Jahrhundert bis zur Wiedervereinigung reicht, hat ein breites Lesepublikum gefunden und dient als zuverlässiges Referenzwerk, ob es um soziale Verhältnisse in der Frühindustrialisierung geht oder um die Herrschaftsstrukturen des NS-Regimes. In Zeitungsartikeln und Interviews, zum Beispiel im «Spiegel» oder in der «Zeit», in Radiogesprächen, auf Vortragsveranstaltungen und Podiumsdiskussionen warb Wehler nicht nur für seinen sozialgeschichtlichen Ansatz, sondern kommentierte den Umgang der Deutschen mit ihrer jüngeren Geschichte – besonders wirkungsvoll und zugespitzt im «Historikerstreit» von 1986/87 um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen.
Von hier aus betrat er das Gelände der allgemeinen politischen Kommentierung: nicht zu jedem Tagesthema, das morgen wieder vergessen war, aber zu Grundfragen der gesellschaftlichen und kulturellen Orientierung, sofern sich Argumente aus historischer Erfahrung beibringen ließen: Gehört die Türkei in die Europäische Union? Wehler war, wie sein langjähriger Mitstreiter Heinrich August Winkler, skeptisch wegen kultureller und religiös-politischer Unterschiede zum Westen, die bis in die Antike zurückreichten. Warum nimmt die soziale Ungleichheit zu, und was kann dagegen getan werden? Wehler prangerte, mit der für ihn charakteristischen überschießenden Polemik, in seinem letzten Buch über «Die neue Umverteilung» die wachsenden Unterschiede zwischen Arm und Reich an und verglich sie mit den ausgeglicheneren Verhältnissen in früheren Jahrzehnten. So wurde er zu einem öffentlichen Intellektuellen, der die Debatten auch über seine Fachzuständigkeit hinaus prägte. Aber seiner Disziplin, der Geschichtswissenschaft, blieb er verwurzelt und zugleich ein Unruhestifter, der ziemlich genau ein halbes Jahrhundert, von den 1960er Jahren bis zu seinem Tod am 5. Juli 2014, immer wieder für Kontroversen sorgte, der provozierte und aneckte, aber auch mächtige Impulse für Innovationen gab.[1]
Nimmt man alles zusammen: die produktive Wirkung auf das Fach, den streitbaren öffentlichen Intellektuellen, den Netzwerker und Institutionenbildner, und nicht zuletzt die gelehrten Werke mit dem Höhepunkt der «Gesellschaftsgeschichte», dann war Hans-Ulrich Wehler wohl der einflussreichste Historiker der Bundesrepublik und vielleicht des gesamten 20. Jahrhunderts in Deutschland. Jedenfalls würde es schwer fallen, andere Namen zu nennen, die vergleichbar vielfältige Resonanzräume erreicht hätten. Aber auf solche Superlative kommt es am Ende auch gar nicht an. Denn mindestens genauso interessant ist – diese Perspektive muss sich ein Sozialhistoriker erst recht gefallen lassen – bei aller Individualität das Typische, das ihn in Strömungen seiner Zeit einbettet, in den historischen Kontext der post-nationalsozialistischen Bundesrepublik und ihres Versuches, im Anschluss an den Westen liberal-demokratische Sicherheit zu gewinnen. Typisch auch: die Selbstbefragung, die kritische Wende des deutschen Professoren- und Bildungsbürgertums, die politisch linksliberale, vor allem aber normativ-demokratiepädagogische Orientierung des früher überwiegend obrigkeitsstaatstreu-nationalkonservativen Gelehrtenstandes.[2] All das machte Hans-Ulrich Wehler seit den 1970er Jahren zu einer Art Habermas der Historie.[3]
Dieses kleine Buch versucht eine Annäherung an Hans-Ulrich Wehler, den Historiker und Zeitgenossen. Es will und kann keine Biographie sein, die den Menschen aus seinen Lebenserfahrungen verstehbar macht, obwohl es durchaus darum geht, das Spannungsreiche und Widerspruchsvolle einer Persönlichkeit aufzuzeigen, die sich selber häufig in größtmöglicher Eindeutigkeit stilisiert hat und so dann auch, von seinen Freunden und erst recht von seinen Gegnern, wahrgenommen wurde. Gegen die Biographie spricht die mangelnde Distanz, als noch fehlender zeitlicher Abstand ebenso wie durch die Nähe des Autors, eines akademischen Schülers Hans-Ulrich Wehlers zwischen Hauptstudium und Habilitation, zu seinem Gegenstand.[4] Es geht auch nicht, jenseits der Person, um eine Gesamtwürdigung der «Bielefelder Schule», der westdeutschen Richtung von Sozialgeschichte als «Historischer Sozialwissenschaft», wie sie Wehler maßgeblich profiliert hat, intellektuell ebenso wie institutionell und in persönlichen Netzwerken.[5]
Es geht um eine erste Schneise, eine Momentaufnahme im Augenblick des Übergangs – nicht zuletzt eines generationellen Übergangs, der durch das allmähliche Verstummen einer enorm einflussreichen, generationell geprägten Gruppe von Intellektuellen und Wissenschaftlern definiert ist. Insofern geht es, über die wissenschaftlich-biographische Skizze hinaus, um die Annäherung an einen charakteristischen Typus von «Professoren-Intellektuellen», der in der deutschen Nachkriegsgeschichte unverwechselbare Gestalt angenommen hat und sich der zuletzt vieldiskutierten «45er-Generation» zurechnen lässt, also den um 1930 Geborenen, die aus der Jugenderfahrung im «Dritten Reich» für ihr Leben und ihren (wissenschaftlichen, aber auch künstlerischen) Beruf einen politischen, ja pädagogischen Auftrag, eine Mission für die entstehende Bundesrepublik gewannen.[6] Es geht um Aspekte einer Disziplingeschichte der Geschichtswissenschaft und von Historiographiegeschichte (als der Geschichte der Geschichtsschreibung), um den Wandel ihrer Interessen von der Politik- und Staatengeschichte über die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte bis zur Kultur-, Erinnerungs- und Wissensgeschichte, die heute wenn nicht den Mainstream, so doch längst mehr als die Experimentier- und Avantgardezone des Faches beschreibt. Vermutlich lässt sich der Mainstream, ein Zentrum, ein halbwegs einheitlicher theoretisch-epistemischer Bezugspunkt des Faches Geschichte inzwischen gar nicht mehr bestimmen. Gegen diese Entwicklung, die vermutlich eine grundlegende Transformation auch anderer Geistes- und Sozialwissenschaften betrifft, hat Hans-Ulrich Wehler, der Innovator und Avantgardist früherer Zeiten, zuletzt vehement gekämpft. Das wird ein Leitmotiv der folgenden Überlegungen sein.
Es geht aber nicht um einen allzu esoterischen Blick auf das Binnenleben einer einzelnen wissenschaftlichen Disziplin. Immerhin: Diese Disziplin, die Geschichte, ist nach einer kurzen Krise und Verstörung um 1970 (erneut) zu der öffentlichkeitswirksamen, gesellschafts- und kulturprägenden Wissenschaft überhaupt geworden. Ablesbar ist das an Verlagsprogrammen und Bestsellerlisten, an der medialen und auch politischen Wirkung von Historikern wie Christopher Clark und Heinrich August Winkler, an populären Geschichtsmagazinen und an der Omnipräsenz von Erinnerung im öffentlichen Raum. Auch im Zeitalter von Genetik, Hirnforschung und Digitalisierung kann es keine Naturwissenschaft mit der breiten Attraktivität historischen Wissens und historischer Orientierung aufnehmen, erst recht keine andere sozial-, geistes- oder kulturwissenschaftliche Disziplin: weder Soziologie und Politikwissenschaft, an die Historiker wie Wehler die Geschichtswissenschaft Anfang der 1970er Jahre anschließen wollten, noch die Sprach- und Literaturwissenschaften. Warum ist das so, zumal in Deutschland, und wie konnte die Geschichte diese Stellung behaupten angesichts mehrfacher fundamentaler Verwandlungen? Auch diese Frage lässt sich exemplarisch an der wissenschaftlichen Biographie des öffentlichen...