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Zu Wort kommen

Narration als Zugang zum Thema Inklusion

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl189 Seiten
ISBN9783170289109
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Inklusion als Aufgabe des Zusammenlebens und -lernens von Menschen verschiedener Fähigkeiten, Kulturen, Geschlechtern, Religionen u.a. wird häufig aus der Außenperspektive untersucht, d.h. hinsichtlich struktureller Vorgaben, Bedingungen und Zielen. Narration als Schlüssel zur Inklusionsthematik lässt dagegen die beteiligten Personen selbst zu Wort kommen: Kinder, Jugendliche und Erwachsene entfalten Selbstdarstellungen, die in Auseinandersetzung mit Menschen, Texten, Orten und Metaphern ihre Geschichte erzählen. Durch die Konfrontation der großen Erzählungen, wie denen der Religionen und Kulturen, mit den kleinen Erzählungen des Alltags werden so individuell gestaltete und geprägte Zugehörigkeiten bzw. Ausschlüsse sichtbar. Religionspädagogische, heil- und sonderpädagogische, erziehungs- und kunstwissenschaftliche sowie politikdidaktische Perspektiven fokussieren das zentrale inklusive Bildungsziel, verschiedene Weltsichten und Sprachformen sowie deren Interpretationen unterscheiden und für eigene Worte gebrauchen zu lernen.

Dr. Katharina Kammeyer, Bergische Universität Wuppertal. Prof. Dr. Bert Roebben, TU Dortmund. Dr. Britta Baumert, Phoenix-Gymnasium Dortmund.

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Leseprobe

1.         Inklusion als Erfahrung und Erzählung. Überlegungen aus heil- und sonderpädagogischer Sicht


Markus Dederich


Einleitung


Eine erfahrungsbasierte und narrative Annäherung an Fragen der Inklusion findet sich bis heute in der inzwischen vielstimmig geführten Debatte über Inklusion nur in Ansätzen. Die nachfolgenden Überlegungen skizzieren in groben Strichen die Konturen eines narrativen Zugangs zur Inklusion. Dies geschieht, indem nach einer kurzen Erläuterung zum Begriff der Inklusion in einem Doppelschritt eine Grundlegung erfolgt: Zunächst wird der in den Wissenschaften üblichen Forschungsperspektive, die hier „Perspektive der dritten Person“ genannt wird, die „Perspektive der zweiten“ sowie die „Perspektive der ersten Person“ zur Seite gestellt. Sodann werden einige allgemeine Kennzeichen von Narrationen erläutert. Im anschließenden dritten Abschnitt werden drei exemplarisch ausgewählte Aspekte der Thematik dargestellt: Die Bedeutung von Narrationen für unser Verständnis von Behinderung, der Zusammenhang von Narrationen und dem Welterleben schwerstmehrfachbehinderter Menschen sowie der in das Feld der Ethik verweisende Zusammenhang von Narration, Behinderung und Stellvertretung.

1.         Die Idee der Inklusion


Wörtlich bedeutet der Begriff Inklusion ‚Einschluss’ (lat. ‚inclusio’) im Sinne von Einbeziehung oder Zugehörigkeit. Während nach einer heute verbreiteten Auffassung Integration eine Ganzheit wieder herstellen will – also das vormals Ausgeschlossene nun wieder ‚zurückgeholt’ und einbezogen wird –, beruht Inklusion darauf, vorgängige Ausschlüsse prinzipiell zu vermeiden und Zugehörigkeit und Teilhabe von Anfang an zu gewährleisten. An diesem Punkt also geht Inklusion zumindest konzeptionell und sozialethisch über Integration hinaus. Letzterer Hinweis ist wichtig, denn der Begriff ‚Inklusion‘, wie er in den erziehungswissenschaftlichen Debatten in der Regel verwendet wird, ist keine ausschließend beschreibende oder analytische Kategorie, sondern auch ein Wertbegriff. Dies wird unmissverständlich deutlich, wenn man etwa bei ‚Inclusion International’ liest: „Inklusion geht es um die Schaffung einer besseren Welt für alle.”1 Auch folgende Erläuterung des Inklusionsbegriffs stellt die normative Dimension heraus: „Inklusion heißt, Menschen willkommen zu heißen. Niemand wird ausgeschlossen, alle gehören dazu: zu unserer Gesellschaft, unserer Kommune, zu jeder kleinen oder großen Gemeinschaft. Alle werden anerkannt und alle können etwas beitragen. Unsere Gesellschaft wird reicher durch die Vielfalt aller Menschen, die in ihr leben.“2

Nach dieser Auffassung verpflichtet die Idee der Inklusion die Gesellschaft dazu, alle Hindernisse und Barrieren zu beseitigen, die eine umfängliche, selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft einschränken oder verhindern. Als umfassendes Recht auf Teilhabe verstanden, bezieht sich die Inklusion auf sämtliche Lebensbereiche, zu denen alle barrierefreien Zugang haben und in denen sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten entfalten können sollen. Ebenfalls bedeutsam ist das im Zitat der Montag-Stiftung aufgegriffene Anerkennungsgebot. Unterschiede zwischen Menschen – auch solche Unterschiede, die als Abweichungen von als ‚normal‘ gesetzten oder als ‚natürlich‘ angesehenen Eigenschaften gelten, etwa der körperlichen Leistungsfähigkeit oder einem Mindestmaß an Intelligenz – verlieren ihre Bedeutung als soziales Bewertungs- und Hierarchisierungsinstrument. In einer inklusiven Gesellschaft werden Individuen, wer auch immer sie seien, nicht mehr anhand vereinheitlichender Maßstäbe verglichen und beurteilt, sondern in ihrem Sosein angenommen und wertgeschätzt. Prengel versucht zu zeigen, dass für die Inklusion ein spezifisches Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit leitend sein sollte. Einerseits sollen empirische Unterschiede zwischen Menschen, d.h. Unterschiede, die anhand von bestimmten Kriterien konstatiert werden können, als solche angenommen werden und nicht in eine Werthierarchie gebracht werden. Und genau dies – die Wertschätzung von Differenzen und der Verzicht auf Hierarchisierung – soll die Gleichwertigkeit aller Menschen zum Ausdruck bringen. In diesem Sinn schreibt Prengel: „Gleichheitsvorstellungen ohne Ausgrenzungen implizieren die Akzeptanz gleichwertiger Differenzen und gehen damit über die Gleichheitsvorstellungen, die nur für Gleichartiges gelten und Abweichendes ausgrenzen, qualitativ hinaus. Gleichheit als Gleichwertigkeit des Differenten stellt damit erst die Einlösung der mit dem universell formulierten, aber nur reduziert gemeinten Gleichheitsbegriff verbundenen Versprechungen dar.“3 An anderer Stelle heißt es: „Radikale Pluralität bildet sich aus der unhintergehbaren Eigenart differenter Lebensweisen und Wissens- und Denkformen, diese genießen jede in ihrer Eigenart hohe Wertschätzung. Indem aber jedem dieser Entwürfe das gleiche Recht auf Eigenart zukommt, wird das Gleichheitspostulat durch die Anerkennung von Verschiedenheit eingelöst.“4

2.         Ein narrativer Zugang zur Inklusion: Grundlagen


2.1           Von der Perspektive der dritten zur Perspektive der zweiten und ersten Person


Der traditionelle Blick der Wissenschaft auf die Welt und die Menschen entspricht der Perspektive der dritten Person. Die Welt oder etwas in der Welt ist Gegenstand, ist Objekt der Wissenschaft und wird als ‚er‘, ‚sie‘ oder ‚es’ betrachtet. Die Wissenschaften nähern sich ihren Gegenständen in einer theoretischen Haltung, d.h. ganz wörtlich als Zuschauer, der die Wirklichkeit erfasst, ohne in sie verwickelt zu sein und in sie einzugreifen. Jedoch sind die Gegenstände der wissenschaftlich betriebenen Pädagogik auch Subjekte – leiblich existierende Menschen, die sich von sich her artikulieren, Ansprüche an uns stellen, mit uns in Beziehung treten. Sie haben einen eigenen Blick auf die Welt, erfahren und erleiden ihre Welt auf ihre je eigene Weise, antworten auf oft nicht sicher vorhersehbare Weise auf das, was ihnen begegnet oder widerfährt, versehen dies mit Bedeutung und Sinn, bahnen sich auf der Grundlage ihrer Erfahrungen, die wie ein Kompass wirken, einen eigenen Weg durch ihr Leben – auch wenn dieser Weg Anderen als Irrweg erscheinen mag.

Die subjektive Dimension des menschlichen Lebens und ihre Bedeutung für die soziale Wirklichkeit ist in den Humanwissenschaften schon lange bekannt. Sie in der Forschung ernst zu nehmen, hat weitreichende wissenschaftstheoretische und methodische Konsequenzen. Dann muss nämlich die Perspektive der dritten Person durch die Perspektiven der zweiten und ersten Person ergänzt werden: Zum einen durch die Erforschung subjektiver Wirklichkeiten im Medium des Gesprächs oder aus der Perspektive einer persönlichen Beziehung, zum anderen durch die narrative Artikulation von erfahrener Lebenswirklichkeit in einem Text oder einer mündlichen Erzählung. Das bedeutet, dass die Erforschung menschlicher Wirklichkeiten sich nicht mehr auf systematische Beobachtungen, Experimente und standardisierte Befragungen sowie deren theoriegeleitete Auswertung beschränken darf. In dieser veränderten Perspektive wird die Forschung zu einem Prozess der Kommunikation, durch den einerseits Erfahrung zur Sprache kommt und der andererseits das Medium ist, in dem und durch das Erfahrung möglich wird.

Dieser Ansatz ist auch für ein tieferes Verständnis dessen, was in und durch Inklusion geschieht, von Bedeutung. Inklusion erfordert mehr als eine Reorganisation von Schule und einen Umbau von schulrelevanten Strukturen. Inklusion kann nur gelingen, wenn Menschen Inklusion wollen und inklusiv denken und handeln. Die Erfahrung zeigt, dass der Weg hin zur Inklusion häufig durch Unsicherheiten, Berührungs- und Versagensängste, schieres Unwissen, unausgesprochene Erwartungen usw. erschwert wird. Obwohl Inklusion ein hochpolitisches Projekt ist und klare gesetzliche Regelungen, ausreichende Finanzierung, barrierefreie Umwelten, gut durchdachte Konzeptionen und viel fachliches Wissen erfordert, hat sie auch eine individuelle, eine subjektive Seite. Sie vollzieht sich mit ihren Verheißungen und Spannungen, mit den durch sie ausgelösten Hoffnungen und Ängsten in und durch die einzelnen Menschen.

Bevor ich hierauf näher eingehe und einige bedeutsame Aspekte des Narrativen für diesen Prozess aufzeige, soll kurz dargelegt werden, was nachfolgend unter Narration verstanden...

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