Blick zurück
Ich glaube nicht, dass Menschen, die Lehrer, IT-Techniker, Lokomotivführer oder meinetwegen Physikerinnen sind, oft von anderen gefragt werden, wann und warum denn ihr Berufswunsch entstand. Bei Schauspielern, und ganz besonders dann, wenn wie in meinem Fall von »Familien-Tradition« keine Rede sein kann, ist das anders. Bei Publikumsgesprächen und allen möglichen Begegnungen wurde mir, zumindest in jüngeren Jahren, die Frage immer wieder gestellt. Die Auskunft, dass es einfach so war, dass der Wunsch eben da war, reicht dann nicht, ganz im Gegenteil, da wird der Fragende misstrauisch – es muss doch diesen einen Moment der Erweckung gegeben haben, diesen einen Anlass oder zumindest so etwas wie ein Gefühl von Bestimmung, warum verrät sie uns das nicht?
Wer weiß am Ende schon ganz genau, was einen auf diese oder jene Lebensbahn getrieben hat. Berühmtheit und Popularität waren jedenfalls nie mein Motiv, Schauspielerin zu werden. Ich sehe den Schauspielerberuf in der Reihe mit den anderen Berufen. Die eine ist Friseuse, der andere Tischler, ich bin Schauspielerin. Mein Bestreben ist, dort wo ich stehe, mein Bestes zu geben. Diese Lebenshaltung ist vom Elternhaus geprägt worden. Natürlich hat es Erlebnisse und Ereignisse in Kinder- und Jugendtagen gegeben, die den Wunsch, Schauspielerin zu werden, in mir weckten und bestärkten. Vielleicht, als ich, das erste und einzige Mal in meiner Schulzeit, im Theater saß, mir »Kabale und Liebe« ansah und vom Schicksal der Luise so mitgenommen war, dass ich Rotz und Wasser heulte? Vielleicht, weil ich in unserer sangesfreudigen Familie unbewusst die Erfahrung machte, dass Musik, also Kunst, die Seele bewegt? Vielleicht, weil ich das Kino so liebte? Obwohl meine Eltern als strenggläubige Baptisten eine große Abneigung gegen solche Orte seichter Unterhaltung hatten, ging ich wann immer möglich ins Kino, und war fasziniert davon, wie die Schauspieler in eine fremde Haut schlüpfen, verspürte pure Freude über solches Sich-Verwandeln.
Eine andere Kindheitserinnerung: Es machte großen Eindruck auf meine Geschwister und mich, wenn unsere Großeltern Stegreif-Spiele für uns aufführten, natürlich auf Ostpreußisch, denn von daher stammte meine Familie. Sie bastelten sich eine kleine Kulisse, einen Schalter, an dem meine Großmutter eine Fahrkarte erwerben wollte. »Ich will ä Billet für zwee Mark.« – »Wohin denn?« – »Dat jüt Ihn’ gar nichts an!« – »Aber ich muss doch wissen, wohin.« – »Nein, seien Sie nicht so neugierig.« Der Streit geht immer weiter, die Frau will dem Mann hinterm Schalter mit ihrem Schirm eins übern Dassel hauen, dann sagt er: »Mensch, Beamtenbeleidjung!«
Wir Kinder juchzten vor Freude. Aber es war kindliches Spiel, nicht mehr und nicht weniger.
Meine Lust aufs Schauspielen kam erst viel später. Und so richtig entwickelte sie sich erst auf der Schauspielschule; aus einer fixen Idee und ein bisschen Talent wurde in der Arbeit mit meinen Kommilitonen eine echte Leidenschaft.
Ich hatte mich gegen den Willen meiner Eltern und hinter ihrem Rücken für die Schauspielschule beworben und war in Leipzig abgelehnt worden. Eine schwere Enttäuschung, aber kein Grund aufzugeben. Ich hatte es in Berlin erneut versucht und war angenommen worden.
Ich wollte lernen, ich wollte spielen, ich wollte in diesem Beruf bestehen und etwas leisten, das mir Freude bereitete, indem ich es möglichst gut machte. Ich wollte mein Talent bestätigt sehen, wollte sehr bald wissen, ob da mehr war als nur die Gabe zur Mittelmäßigkeit.
Ich stürzte mich hinein ins Lernen, und vor allem ging ich immer ins Theater! Als Studentin war ich jeden Tag dort. Es gab keinen, den ich ausgelassen hätte! Meist saß ich im Deutschen Theater, aber oft auch in der Volksbühne. Und als ich später fest an der Volksbühne engagiert war, saß ich auch jeden Tag dort, egal ob ich nun am Abend selbst spielte oder nicht. Wenn ich so darüber nachdenke: Ich war eigentlich kaum zu Hause. Wenn ich keine eigene Vorstellung hatte, saß ich eben vor der Bühne, um den Kollegen zuzuschauen. Ich bin ja in erster Linie Schauspielerin, weil ich das Theater liebe.
An der Schauspielschule fand ich endlich auch Zugang zu Brecht. Ich empfand ihn immer als einen enorm klarsichtigen Dichter, kam ihm aber nicht nahe. Daheim in Gera hatte ich mir in einer Laientheater-Aufführung die »Die Ausnahme und die Regel« angesehen und nichts, rein gar nichts verstanden. Das änderte sich nun an der Schauspielschule durch den Regisseur Kurt Veth, der bei uns als Gastdozent unterrichtete. Er machte mir Brecht begreifbar, machte ihn greifbar, und ich spielte an der Schule mit großer Freude die alte Peachum und die Isabelle in den »Rundköpfen und Spitzköpfen«.
Fast zur Verzweiflung hingegen brachte mich das Fach Rhythmik. Das bedeutete: Tanz für die Frauen, Fechten für die Männer. Die Tanzlehrerin sagte immer zu mir: »Du tanzt wie ne schwangere Ente!« Aber die Jungs beim Fechten waren auch nicht besser dran. Als sie einmal dem Befehl »Schritt, Ausfall!« Folge zu leisten versuchten, sang der Lehrer plötzlich in der Ecke: »Wir sind ja die lustigen Holzhackerbuben …« Der ganze Jahrgang glänzte nicht gerade im Sport. Nur Fußballspielen, das konnten unsere Jungs.
Gut erinnern kann ich mich noch an Herrn Doktor Gerhard Piens, bei dem wir Theatergeschichte hatten. Der lispelte deutlich, redete und redete, und wenn er beispielsweise gerade den ganzen Shakespeareschen Theaterkosmos heraufbeschworen hatte, so dass wir aus dem Staunen nicht mehr rauskamen, dann schloss er am Ende: »Und wissense was? Shakespeare war ooch ne olle Sau.« Das war Doktor Piens. Er hat den Unterricht immer sehr lebendig gestaltet.
Chef der Berliner Schauspielschule war Wolfgang Heinz, die Berühmtheit, der große Schauspieler und Regisseur. Als seinen Stellvertreter holte er Rudolf Penka an die Schule, der noch während meiner Studienzeit im Einvernehmen mit Heinz die Leitung der Schule übernahm. Penka war ein Fels in der Brandung, ein Mann von Haltung. Im KZ hatten die Nazis ihm fast den Kopf zertreten, deswegen trug er Stahlplatten im Gesicht. Für seine Studenten ging er durchs Feuer und hielt schützend die Hand über sie. Der Vorwurf ideologischen Fehlverhaltens drohte damals schnell und oft selbst dann, wenn einfach nur einer in jugendlichem Übermut über die Stränge geschlagen hatte. Aber nicht nur deshalb schätzten wir ihn. Walfriede Schmitt hat einmal treffend über Penka gesagt, dass er das Talent hatte, die Schauspielstudenten zu uneitler Selbsterkenntnis und zur Leidenschaft des Spielens zu verführen.
Ganz ähnlich traf das auf Frau Professor Margrit Glaser zu. Sie war für die »künstlerisch-pädagogische Schauspielerziehung« zuständig, aber weder pädagogisch sehr geschickt noch gerecht. Dafür war ihr Unterricht anregend, und im Szenenstudium gab sie uns Studenten viele Impulse. Sie gehörte zu den Lehrern, die stark auf die komödiantisch-artistischen Techniken setzten.
Rudolf Penka und Margrit Glaser waren es auch, die mir den Hals retteten, als mir wegen einer versemmelten Hausarbeit die Exmatrikulation drohte. Wer diese Arbeit nicht schaffte, würde unweigerlich die Schule verlassen müssen, schauspielerisches Talent hin oder her. Der Lehrer für Gesellschaftswissenschaften hatte mir meine Arbeit mit Karacho gleich am Anfang der Unterrichtsstunde zurückgegeben; ich wartete das Ende der Stunde gar nicht ab, fuhr zum Bahnhof und kaufte mir eine Fahrkarte nach Hause. Als ich bei meinen Eltern ankam, lagen zwei Telegramme für mich auf dem Tisch. Eines von Frau Professor Glaser, das andere von Rudolf Penka. Er schrieb: »Komm zurück, man kann über alles reden.«
Wahrscheinlich hat mich aber noch etwas anderes vor der Exmatrikulation bewahrt – manchmal ist die Tragik fremden Lebens ausgerechnet dem unglücklichen Menschen ein Helfer. Eine Studentin hatte kurz vorher aus Liebeskummer einen Selbstmord versucht, sie konnte zum Glück gerettet werden, ich fand sie, wir brachten sie in die Charité. Die Schule war natürlich in heller Aufregung, und im Schatten dieser Turbulenz wuchs mir Rettung zu: Denn als ich plötzlich, nach dem Debakel mit der Hausarbeit, verschwunden war, dachte man, ich könnte eventuell zum gleichen Mittel greifen, und schickte die erlösenden Telegramme.
Ich fuhr zurück nach Berlin, schlich mich in die Schule, öffnete beim Szenenstudium ganz leise die Tür, Margrit Glaser sah mich, sie rief: »Nun aber Tempo, rauf auf die Bühne!«, und es wurde probiert, als sei ich nie weg gewesen.
Zu den Kommilitonen meines Studienjahres gehörte Klaus-Peter Thiele, der noch während der Ausbildung bei der DEFA die Titelrolle im großen Erfolgsfilm »Die Abenteuer des Werner Holt« spielte, dann Siegfried Höchst, später einer der bestimmenden Regisseure in Potsdam und Berlin, und Jürgen Rothert, jahrelang Schauspieler an der Volksbühne, bis weit in die Castorf-Zeit hinein. Insgesamt waren wir zu Beginn des Studienjahres fast dreißig Studenten, das reduzierte sich im Laufe der Zeit, und dann verloren wir uns in der Weite der wirklich vielen Theater, die es in der DDR landauf, landab gab.
Wir hatten gegen Ende der Studienzeit den Plan gefasst, als Trupp junger Schauspieler den Norden der Republik unsicher zu machen. Die Hauptsache für mich war: Spielen, egal wo. Ich schielte nicht nach den großen, berühmten Häusern, die Einteilung in A-, B- und C-Theater war mir wurscht. Ich habe es...