Einleitung
Das Zeitalter der digitalen Medizin beginnt jetzt
Jeden Januar ist in der Innenstadt von San Francisco ein seltsames Schauspiel zu beobachten: Für drei Tage füllen sich die Straßen bis tief in die Nacht mit 20 000 aufgeregt diskutierenden Menschen, Rock-Festival-Stimmung liegt in der Luft. Wer genau hinhört, erwischt immer wieder die gleichen seltsamen Wortschnipsel: »Proteinausprägung«, »T-Zellen«, »Antigene«, »PD-1-Inhibitor«. In fast allen Bars, Restaurants und Galerien versammeln sich Mediziner, Biologen, Wissenschaftler, die Eingangsschilder sind überklebt mit neuen Namen: Merck, Genentech, Max-Planck-Institut, Harvard University.
Der Grund für diesen Ausnahmezustand ist die JP Morgan Healthcare, die größte Konferenz für Biotechnologie und Medizinforschung der Welt, ein dezentrales, chaotisches Forschungsfest mit Hunderten Veranstaltungen an Dutzenden Orten. Es gibt keine Webseite, keine Eintrittskarten. Aber alle Protagonisten, die an der menschlichen Gesundheit forschen, die mit der Medizin Geld verdienen oder das Gesundheitssystem regulieren, finden im Januar den Weg nach San Francisco: Pharmakonzerne, Universitäten, Forschungslabore, Start-ups, Politiker. Auf den Bühnen und in den Konferenzsälen werden große, zukunftsweisende Themen diskutiert, »Designing the Human Future« etwa oder »Die nächsten Schritte im Krieg gegen den Krebs«. Aber die eigentliche Veranstaltung findet jenseits der Podien statt, bei privaten Partys und Gesprächen hinter verschlossenen Türen.
So wie bei dieser Feier in der Suite eines Luxushotels. Vor der Tür reichlich Sicherheitspersonal, dahinter knapp 30 Gäste: Vier führen Milliardenkonzerne, zwei haben einen Nobelpreis, zwei weitere gelten als sichere Kandidaten, ihn noch zu erhalten. Ein spontanes Get-together nach Mitternacht, erst wenige Stunden vorher flogen SMS und E-Mails hin und her, Zugang nur mit den richtigen Verbindungen. Und einer Flasche Champagner, schnell an der Hotelbar besorgt, aber bitte nicht den billigsten.
Die Stimmung brodelt, ein Stimmenwirrwarr, doch diskutiert wird nur ein Thema: wie sich mit neuen Gentherapien der Krebs nicht einfach besser bekämpfen, sondern niederringen, besiegen, ja heilen lassen kann. Schließlich zückt einer der Forscher einen Textmarker und beginnt, Formeln an die Hotelwände zu malen, zögert kurz, doch ein Pharmaboss ruft: »Scheiß drauf, mach weiter, ich übernehme die Renovierungskosten!« Eine nervöse Energie durchdringt den Raum, eine seltsame Mischung aus fiebrigem Enthusiasmus und konzentrierter Anspannung.
Ähnlich ist die Atmosphäre in diesen Tagen fast überall, wo an der menschlichen Gesundheit geforscht wird: in den Laboren der Universitäten und Biotech-Start-ups, in den Forschungsinstituten und in den Konzernzentralen der Pharmakonzerne. Unter Biologen und Medizinern herrscht ein bislang nie da gewesener Optimismus, befeuert von zahllosen Entwicklungen in zahllosen Bereichen, die alle gleichzeitig auf sie einprasseln und die vieles möglich machen, was doch gerade eben noch völlig utopisch schien: Krebs zu heilen, Zellen zu programmieren, künstliche Organe zu züchten, das Gehirn mit Maschinen zu verbinden, Gene zu manipulieren, Krankheiten per Knopfdruck zu besiegen, das Leben um 20, 30 Jahre zu verlängern. Die Menschen nicht nur gesünder, sondern klüger, hübscher, jünger zu machen.
Egal, wen man fragt, nahezu einhellig sehen Experten, Forscher, Wissenschaftler die Medizin am Beginn einer Revolution. Die Menschheit ist auf dem Weg in eine technologisierte, datengetriebene, digitale Gesundheitswelt mit neuen Möglichkeiten für die Diagnose und die Therapie von Krankheiten und mit Medikamenten, die uns ein längeres, gesünderes Leben bringen sollen.
»Wir stehen am Beginn einer transformierenden Ära in Wissenschaft und medizinischer Technologie«, sagt der Chef der amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde.
»Eine medizinische Revolution hat begonnen«, sagt die Leiterin des Dana-Farber-Instituts, des führenden Krebsforschungszentrums der USA.
»Der wissenschaftliche Fortschritt ist gigantisch«, sagt der Chef des Pharma-Riesen Roche.
»Die technische Entwicklung hat ein neues Zeitalter der Medizin eingeleitet«, sagt der Forschungschef von Microsoft.
»Wir haben die Fähigkeit entwickelt, die Evolution zu kontrollieren«, sagt Jennifer Doudna, Mit-Erfinderin der Crispr-Technologie, einer Art Gen-Schere, mit der sich das Erbgut von Pflanzen, Tieren, Menschen zurechtschneiden lässt.
Was ist da im Gange? Woher kommt dieser plötzlich so enorme Optimismus, dieser Enthusiasmus? Waren es nicht dieselben Forscher und Experten, die bislang immer bedauernd betonten, dass medizinische Forschung unendlich schwer und die Biologie zu kompliziert sei, um sie wirklich zu entschlüsseln?
Doch heute ist alles anders. Wir stehen am Beginn gewaltiger Veränderungen, nicht nur in der Medizin, sondern in allen Bereichen unseres Lebens. Das ist die zentrale Erkenntnis, die sich mir nach mehr als einem halben Jahrzehnt als SPIEGEL-Korrespondent im Silicon Valley, im Nexus des globalen Fortschritts, unweigerlich aufgedrängt hat.
Denn wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Entwicklungen aus Jahrzehnten zusammenfließen, an dem neue Technologien aus allen möglichen Bereichen verschmelzen: aus Chemie, Physik, Materialwissenschaften, Robotik. Im Englischen gibt es ein Wort für diesen Prozess, für das gleichzeitige Zusammenfließen und Beschleunigen, und es dient als eine Art Zauberwort hier im Silicon Valley, das hervorgeholt wird, wann immer es den nächsten, scheinbar überraschenden Fortschrittssprung zu erklären gibt: Convergence.
Die Digitalisierung hat zwei Jahrzehnte gebraucht, um langsam durchzusickern in jeden Winkel, jede Ecke der Zivilisation. Jetzt beginnt sie, ihre beschleunigenden Kräfte wirklich freizusetzen. Hierin liegt die eigentliche Erklärung für die rasante Entwicklung, die wir gerade erleben, in der Medizin ebenso wie in vielen anderen Bereichen: Der Fortschritt verläuft nicht geradlinig, sondern exponentiell. Er bewegt sich in Verdopplungssprüngen, die mit der Zeit immer gewaltiger werden.
Als Metapher hilft die Geschichte von der Erfindung des Schachspiels. Der Legende nach verhandelte der Erfinder des Schachspiels seine Bezahlung mit dem Kaiser von Indien so: »Alles, was ich will, ist ein Häufchen Reis. Lass uns die Menge ermitteln, indem wir ein Reiskorn auf das erste Feld des Schachbretts legen, auf das zweite zwei Körner, auf das dritte vier, auf das vierte acht, und so immer weiter mit den Verdopplungen, bis zum letzten, dem 64. Feld.«
Auf den ersten Feldern liegen also sehr wenige Reiskörner. Das war die bisherige Geschichte des Fortschritts in den vergangenen 10 000 Jahren Menschheitsgeschichte: Er wächst zwar exponentiell, aber es fühlt sich linear an, weil der Verdopplungseffekt in der Summe immer noch relativ klein ist. Richtig interessant wird es erst in der zweiten Hälfte des Schachbretts. Dort explodieren die Zahlen: Nach 32 Schachfeldern kommen bereits Milliarden Reiskörner zusammen. Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass wir zu Beginn dieses Jahrzehnts die zweite Hälfte des Schachbretts erreicht haben, dass die exponentiellen Sprünge, die der Fortschritt macht, nun so atemberaubend sind, dass man sie immer schwerer begreifen kann.
Doch zu spüren sind die Folgen des sich rasant steigernden Fortschritts schon jetzt. Und im nächsten Jahrzehnt werden sie noch deutlicher werden und sich auf alle Lebensbereiche erstrecken. Nirgends jedoch werden sie existentieller sein als in der Medizin und in der Biologie.
Das vergangene Jahrhundert war davon geprägt, dass wir gelernt haben, zwei grundsätzliche Bausteine der Welt zu verstehen: das Atom und das Byte. Beide Entdeckungen haben uns gezeigt, welch große Folgen es haben kann, kleinste Einheiten zu beherrschen. Nun sind wir auf dem Weg, die dritte Grundeinheit zu beherrschen: das Gen. Wenn es uns gelingt, die Kontrolle über die biologische Information zu erlangen, wird das die Welt erneut grundlegend verändern. Dann wird der Mensch zum Schöpfer, der die nächste Stufe der Evolution selbst in die Hand nimmt.
Dass dieses Buch zum wesentlichen Teil im Silicon Valley spielt, sollte heute kaum noch überraschen. Schon lange hat sich die Region um San Francisco zum Zentrum des globalen Fortschritts aufgeschwungen. Nicht nur, weil sich hier mit Tausenden von Konzernen und Start-ups das Rückgrat der Technologieindustrie befindet, sondern weil sich hier auch die Visionäre und Utopisten sammeln, die Größenwahnsinnigen und Rücksichtslosen. Weil das Geld hier in Strömen fließt wie nirgends sonst auf der Welt, Abermilliarden an Wagniskapital jedes Jahr. Ein perfekter Nährboden für große Ideen und weltverändernde Entwicklungen.
Die Entschlüsselung der Biologie ist die nächste Weltveränderungsidee im Silicon Valley, der Mensch wird dabei vor allem als Rechenaufgabe gesehen. Die Logik geht so: Die heranrollende biologische Revolution ist eine digitale Revolution. Riesige Datenmengen auszuwerten wird jeden Tag leichter, die Rechenkraft explodiert, künstliche Intelligenz, die neue Wunderwaffe, hilft dabei. Wer beherrscht all diese Instrumente besser als die Tech-Riesen?
Zugleich ist die Medizin eine globale Billionenbranche. Und damit ein riesiges Geschäftsfeld. Gesundheitsausgaben machen in den meisten Ländern den größten Teil des Bruttosozialproduktes aus. In den USA etwa fließen 20 Prozent der Staatsausgaben in das Gesundheitssystem....