Inhaltsangabe:Einleitung: Der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs [1989] wurde global als Liquidierung des Kalten Krieges gefeiert und von Historikern weltweit als das “Schicksalsjahr” der neueren deutschen Geschichte und das Ende einer markanten historischen Epoche Europas identifiziert. Trotz der euphorischen Reaktion auf den Mauerfall und der teilweise utopischen Visionen von einem deutschen Neubeginn gab es auch zahlreiche Stimmen, die von einer unsichtbaren Mauer, einer ‘Mauer im Kopf’, warnten, deren Abbau nur langfristig möglich wäre, wenn überhaupt. Während die Medien ein oberflächlich-einseitiges, sensationalisiertes und politisch-ideologisch motiviertes Bild der historischen Situation der Wende zeichneten, vermittelten literarische Werke in Ost und West Einblicke in die komplex-vielschichtige Tiefenstruktur der historisch und gesellschaftlich bedingten Spannungen, die nach der anfangs euphorischen Reaktion auf die für die meisten Deutschen, Ost und West, unerwartete deutsch-deutsche Vereinigung rasch Gestalt annahmen, obwohl es von allem Anfang auch Zweifler gab, denen es schwerfiel, an das “Glück” der Deutschen zu glauben. So vertraut Thomas Rosenlöcher seinem Tagebuch am 9. November [1989] angesichts der Maueröffnung betroffen “Sprachlosigkeit” an und Klaus Schlesinger notiert zum Mauerfall lakonisch: “ […] selbst in der Nacht, als die Mauer fiel und sich die halbe Stadt in den Armen lag, bin ich […] ins K.O.B. gegangen, habe schnell drei Bier getrunken und mich ins Bett gelegt. Und das Feuerwerk zu Sylvester, in dem unser Brandenburger Tor sich der Welt in so flammendem Licht zeigte, habe ich, rein zufällig, in der Auslage eines Videoladens in Paris gesehen.” Die am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz Versammelten, unter ihnen Christa Wolf, Christoph Hein, Stefan Heym, wiederum sahen sich an der Schwelle eines von klassischen Humanitätsidealen und von der Forderung der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit getragenem Sozialismus, ein naiver politischer Optimismus, an den auch Günter Grass glaubte und sich verpflichtet fühlte. Wolfgang Emmerich bringt die beherrschende Stimmungslage unter den Intellektuellen auf die treffende Kurzformel: “Hypertrophie, Utopie und Melancholie.” Die politische Entwicklung zwischen November 1989 und Juli 1990 führte jedoch schnell zu einem radikalen Stimmungsumschwung und zu verstärktem Zweifel an der ersehnten Verwirklichung der inneren [...]
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