2 Zur Gliederung des Materials
Es ist nicht leicht, im zeitlichen Abstand von über 50 Jahren nach Boecks Tod 1964 ein angemessenes Bild von der Person und ihrem Schaffen zu zeichnen. Boeck hat in einer Lebensspanne von 89 Jahren – davon 31 seiner Lebensjahre am Wohnort Wellingsbüttel – sowie davor nochmals weitere 31 Jahre (1902 bis 1933) von Bergstedt bzw. Bramfeld aus gewirkt. Aber immerhin können Spuren, Dokumente und Erinnerungen von Zeitzeugen gesichtet werden, aus denen sich ein Bild wie aus Puzzle-Teilen rekonstruieren lässt.
Wie beim Puzzeln gibt es verschiedene Strategien, die Teile zu sortieren. Häufig sind es die Seitenteile und Ecken, die zuerst als Hilfsgerüst dienen müssen, um dann so nach und nach zur Rekonstruktion im Inneren eines Bildes zu gelangen. Manchmal wird man auch nicht fertig oder presst Teile zusammen, die eigentlich nicht zusammengehören. Aber das merkt man selbst oft erst am Schluss bzw. Andere haben den schärferen Blick für Unstimmigkeiten … – Allerdings gibt es auch für die Anderen, die das Puzzle betrachten, noch ein großes, weiteres Problem: es handelt sich nicht nur um ein „1000-Teile-Puzzle“, sondern zudem um ein „3D-Puzzle“, denn die Mengen von Material, aus denen ggf. Facetten zu rekonstruieren sind, sind schier unendlich.14 Die Auswahl setzt zwangsläufig eine gewisse Willkür voraus, so dass nur die Möglichkeit bleibt offenzulegen, wo ggf. weiteres Material zur Verfügung stehen könnte. So steht dem Betrachtenden ggf. selbst noch eine zusätzliche kritische Sichtung ins Haus, – und außerdem bleibt ihm oder ihr beim „3D-Puzzle“ noch die Wahl der Perspektive auf den Gegenstand: Blicke ich zuerst auf den Berufsweg, so wie ich begonnen habe, oder erst mit der nebenberuflichen Achse des Engagements fürs Niederdeutsche, wie es jetzt etwa mit der Dissertation von Frau Dr. Michaela Bräuninger möglich wird. Das Bild wird zwar nicht vollständig anders, doch die beiden Perspektiven bringen naturgemäß unterschiedliche Bereiche stärker in den Vordergrund.
Bei Boeck ist auf jeden Fall sicher, dass sich seine Wirkungsgeschichte neben der beruflichen Seite insbesondere auf dem schriftstellerisch-verlegerischem Gebiet der Pflege der niederdeutschen Sprache erkennen lässt. Neben der zeitlich-biografischen Abfolge, die sich quasi als die eine Orientierungsrichtung der Puzzle-Seitenteile darstellen lässt (in den Kapiteln „3. Zur Person Christian Boeck“ und „4. Berufliche Stationen von Pastor Boeck“), ergibt sich also durch sein außerberufliches Schaffen als zeitlich größtenteils parallel dazu verlaufend die genannte literarische Ebene, bei einem Puzzle quasi die zweite äußere Orientierungshilfe (in Kapitel „5. Boecks außerberufliche Aktivität“).
Die beiden Kapitel 4 und 5 laufen in „6. Die letzten Jahre von Pastor Christian Boeck“ zusammen. Dort geht es u.a. um seine zahlreichen Ehrungen.
Eine dritte und weitere Dimensionen des „vieldimensionalen Puzzles“ ergeben sich aus den in Kapitel „7. Publikationen“ genannten Details, die sich naturgemäß zwischen den anderen ‚Puzzle-Rahmenteilen‘ eigentlich im Mittelbereich befinden. Sie sind chronologisch angeordnet – teils manchmal auch thematisch, wenn sie in zeitlicher Nähe zu einander verfasst worden sind. Das macht einerseits ein Problem beim Lesen, erklärt andererseits aber auch, warum diese vielen Anmerkungen notwendig sind, um nämlich teils auf Publikationen auch vorweg zu verweisen – oder umgekehrt auf den Lebenszusammenhang hinzuweisen, in den diese Texte hineingehören. Es sind zudem die wechselnden politischen und kirchen-politischen Veränderungen zu berücksichtigen, die sich vom Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem „Dritten Reich“, Beginn der BRD sowie durch die Einschnitte durch die zwei Weltkriege in Boecks langem Leben ergeben haben.
Besonders die sich in dieser Zeit in den Gemeinden Bramfeld und Wellingsbüttel vollziehenden Wandlungen, die ausgehend von dörflichen Strukturen – geprägt durch Bauernhöfe und landwirtschaftliche Nutzung – zu Wohnvororten Hamburgs geführt haben, stellten mit ihren sehr unterschiedlichen Entwicklungen in beiden Bereichen besondere Herausforderungen für Boeck dar.
Der Integrationsbedarf der neu Zuziehenden bedeutete (an beiden Arbeitsstellen) für Boeck ein wichtiges Betätigungsfeld, dem er sich unterschiedlich gut zuwenden konnte. Vom eigenen Naturell aus scheint er immer mehr in Richtung eines ‚Kopfarbeiters‘ sich entwickelt zu haben, der gern einen Großteil seiner Aktivität im Zusammenspiel mit ihm wichtigen Personen eingesetzt hat. U.a. hat er sich aber auch als ‚Einzelforscher‘ der Heimat engagiert und dazu mehrere Beiträge für Wellingsbüttel geleistet, die als Quellensammlungen Vorarbeiten darstellen zu einer vor dem Zweiten Weltkrieg (ursprünglich noch geplanten) umfangreichen Veröffentlichung zur Geschichte Wellingsbüttels. Für sehr viele der neu zugezogenen Menschen dieses Stadtteils stellten einige separate Artikel und dann ein erst nach dem Krieg gedruckter 15-seitiger „Kurzer Abriß der Geschichte Wellingsbüttels“ (1947) immerhin Grundinformationen bereit.15
Diese Sachverhalte sind nicht alle in eigenen Kapiteln dargestellt, sondern ggf. in die biografischen oder außerberuflichen Hauptlinien eingearbeitet und können z.T. bisher auch nur als Hinweise in Fußnoten genannt werden. Auf jeden Fall ist der Kontext wesentlich von den ganz konkret erlebten politischen Umbruchsituation(/en) des Ersten Weltkrieges und der 1920-er (u.a. mit Straßenkämpfen in Bramfeld) sowie dann der 1930-er Jahre und dem auch für Boeck in doppeltem Sinn entscheidenden Einschnitt 1933 geprägt. Ob und wie es nach dem Zweiten Weltkrieg für den inzwischen 70-Jährigen einen ‚Neuanfang‘ gegeben hat, ist für ihn und die gesellschaftliche Situation insgesamt sehr stark von der Perspektive abhängig.
Das Kapitel „11. Abkürzungen, Archivalien und Indices zu Themen, Orten und Personen“ besteht nur aus Listen, die aber hoffentlich eine Suche nach Sachverhalten erleichtern. Das Kapitel „9. Kurztitel- und Literaturverzeichnis“ hilft das aufzuschlüsseln, was in den Fußnoten mit Verweisen auf Kurztitel herangezogen wird. Auf das Kapitel „10. Anhang mit dokumentarischen Materialien“ wird innerhalb des Vorangehenden mehrfach verwiesen, weil dort ausführlich sonst nicht verfügbare Quellentexte dokumentiert werden.
2.1 Zur (Be-)Deutung des Materials über Boeck
In den letzten Jahrzehnten sind in den unterschiedlichen Institutionen die – mindestens zwei Generationen über – meist verdrängten Fragen nach der Art wichtig geworden, wie sich die in ihnen wirkenden Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus verhalten haben. Während ab den 1980-er Jahren eher der Fokus war, ‚alte Nazis‘ aufzuspüren, deren Nachwirkungen zwar spürbar, jedoch zuvor wenig explizit Gegenstand der Betrachtungen gewesen sind, kann man sich in der Gegenwart in anderer Weise dieser einschneidenden Zeit zuwenden. Personen oder deren Angehörige und Weggefährten brauchen sich nicht mehr in gleicher Weise angegriffen zu fühlen, weil die Perspektive eher darauf gerichtet ist, zu verstehen, wie es zu ihrer jeweiligen Haltung gekommen ist. Dabei geht es nicht um Beschönigung von vergangenem Geschehen, sondern um Sichtung und Beschreibung der Vorgänge sowie um Nachvollziehen der zeitbedingten Voraussetzungen. Die heutige – ebenfalls zeitbedingte – Betonung etwa für eine Erziehung zur Toleranz und Lernen aus der Geschichte, nach dem berühmten Adorno-Satz
„Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“16 setzt voraus, mehr über die vielfach verdrängten Sachverhalte zu wissen – um sich in Täter, Mitläufer und Opfer eindenken zu können.
Die Frage nach den Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus ist auch im Zusammenhang der christlich-jüdischen Verständigungen in den Fokus öffentlicher Diskussionen gerückt.17 Die Nord(/-elbische) Kirche hat auf diesem Hintergrund u.a. auch eine eigene Gedenkstätte in Schleswig-Holstein eingerichtet, die der Erinnerungskultur Impulse geben kann und soll.18 Mein erster Besuch dort hängt direkt mit meiner Perspektive auf die Geschichte der Gemeinde Wellingsbüttel und Pastor Boeck zusammen, die ich gern erläutern möchte, bevor ich die weiteren Details zu seiner Person beschreibe.
2.2 Kirchliche Bemühungen zum Lernen aus Geschichte
In der „KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte“ in Ladelund (nahe Flensburg) wurde am 1. Juni 2013 unter dem Titel „Christenkreuz und Hakenkreuz“ eine „Sonderausstellung zu Kirchenbau und sakraler Kunst in der NS-Zeit“ eröffnet.19 Diese basiert auf Arbeiten von Forscherinnen, die unter dem gleichen Titel bereits 2008 erstmalig und auch gedruckt im Ausstellungskatalog einen Überblick über die doch erstaunliche Fülle an neu errichteten Kirchen dokumentieren.20 In der Ausstellung und im zugehörigen Katalog wird u.a. die Wellingsbütteler Lutherkirche als Ganze sowie auch im Detail gezeigt – u.a. das an der Südwest-Seite befindliche Ziegelstein-Dekor aus Runen einschließlich des ursprünglich dargestellten Hakenkreuzes.
Kurz vor der Ladelund-Ausstellung hatte ich durch Zufall beim Besuch unserer ältesten Tochter in Norwegen die Publikation der Johannes-Kirchengemeinde in Hamm / Westfalen zum 75. Kirchweihjubiläum sowie das nebenstehende Bild gesehen – und im Hintergrundbild die Lutherkirche in Wellingsbüttel erkannt.21
Bei mir, der ich selbst 35 Jahre in...