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Zur Diätetik der Seele

Vollständige Ausgabe

AutorErnst von Feuchtersleben
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl159 Seiten
ISBN9783849638399
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
'Zur Diätetik der Seele' ist eine Schrift, die für das größere Publikum bestimmt war und worin der Autor mit überzeugender Kraft nachweist, daß die Gesundheit des Körpers durch Kräftigung der geistigen Tätigkeit und der Willenskraft erhalten oder wieder hergestellt werden könne.

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Leseprobe

V. Verstand, Bildung


 


Selbst physischen Schmerz halt' ich für Verwirrung, in die wir nicht einzudringen wissen.

 

... Klarheit im Geiste, reiner, wo möglich starker Wille, ist unsere Aufgabe. Zu dem Uebrigen können wir lachen, beten, weinen. Rahel Varnhagen.

 

Wir haben der Kraft des Willens eine Lobrede gehalten, und darauf gedrungen, daß man sich eine Richtung gebe, in welcher man beharrlich fortwirke; aber was soll man wollen? welche Richtung ergreifen? – Es ist die Erkenntniß, welche auf diese Lebensfrage Antwort ertheilt; die Erkenntniß, die höchste, ewige Frucht am Baume der Menschheit, gereift am Strahle der Vernunft. Verloren in Träume irrt die Phantasie, in ein wildes Nichts stürzt sich der Wille, – ertheilt ihnen nicht der Geist die Weihe, "der Chaosordner, Schicksalslenker". Es ist das höchste Thema der Seelendiätetik: die Gewalt der Bildung über die dunkeln Kräfte der sinnlichen Natur zu erörtern; auszusprechen – was geistige Cultur zur Begründung der Gesundheit Einzelner, wie ganzer Gesammtheiten, ja der Menschheit im Großen vermag.

 

Es gibt vielleicht für den tiefer dringenden Forscher in das Wesen des Menschen kein merkwürdigeres Phänomen, als die Möglichkeit des Wirkens vom abstracten Gedanken aus auf den concreten, leiblichen Organismus, – durch jenes Mittelglied, welches man "Gedankengefühle" nennen kann. Das eben ist das Prärogativ des Menschen, daß Begriffe in ihm Gefühle erregen können, und daß durch diese der Geist den Körper gleichsam abwärts influenzirt, wie der Körper den Geist aufwärts durch die Gefühle, die man schlechthin so zu nennen pflegt. In dieser Möglichkeit eines intellectuellen Gefühles, wie das sittlich-religiöse, liegt die Wurzel der Humanität. Niedere Wesen denken nicht, was sie empfinden; reine Gedankenwesen haben keinen Bezug, der Gefühle wie die unsern möglich machte; nur in uns ist ein solcher Bezug gegeben, als Thatsache des Bewußtseins gegeben, – über die aber nicht weiter zu grübeln, sondern sie zur Thatsache der Anwendung zu machen, hier unsere Aufgabe ist. Genug, wer sich dazu gebildet hat, fühlt die Macht des Gedankens über sein ganzes Wesen, und gibt auch hierin dem Geiste die Ehre.

 

Wer bei psychologischen Forschungen sich angewöhnt hat, – wie es ein großer Herzenskenner fordert, – immer das Innere und Aeußere verflochten zu betrachten, als Ein- und Ausathmen des Einen lebendigen Wesens, – der wird die Aussicht, die wir hier eröffnen, leicht überschauen und fassen. Nicht so derjenige, welcher gewohnt ist, Geist und Körper als einen gewaltsam in sich verbundenen Widerspruch anzusehen, und die Meinung Vieler zu theilen: daß jeder Genuß der sinnlichen Natur ein Mord an der höheren sei, und daß man den Geist nur auf Kosten des Körpers zu bilden vermöge. Traurige Ansicht, nach welcher dem armen Sterblichen von jener schöpferischen Kraft, die jede Sehnsucht in seinen Busen legte, nur die Wahl zwischen einer oder der andern Art des Unterganges gelassen ward! – Und doch: scheinen nicht die häufigen Beispiele von siechen Gelehrten und fetten Unwissenden diese Meinung zu bestätigen? vom gesunden Landmanne und schwächlichen Städter? – Es kommt hier darauf an, daß man den rechten Begriff von Bildung habe. Jener Gelehrte hat vielleicht sein halbes Leben der Betrachtung geometrischer Figuren gewidmet, und die des Menschen darüber versäumt; er hat die Adern der Geschichte aufgewühlt, und das Gold der Gegenwart im Sande liegen gelassen; er hat den Kern der Dinge öffnen wollen, ohne die Schale zu berühren. Dieser Beleibte ist vielleicht nicht ganz so geistesarm, als es jenem Gelehrten scheinen mag; er hat die Kunst zu genießen zu seinem Studium gemacht. Jener Landmann weiß gerade so viel, als nöthig ist, seiner sittlichen und bürgerlichen Pflicht zu genügen, und das ist wahrlich! nicht zu wenig für Menschen; dieser Städter weiß es nicht, und geht seinem selbst verschuldeten Geschicke entgegen. Aechte Bildung ist harmonische Entwicklung unserer Kräfte. Sie nur macht uns glücklich, gut und gesund. Sie klärt uns über den Kreis auf, den wir, vermöge unserer Fähigkeiten, auszufüllen haben; sie lehrt uns unsere Kräfte erkennen, indem wir sie prüfend üben; sie läßt uns die Phantasie des Knabenalters und den raschen Willen der Jünglingsjahre dem klaren Lichte einer männlichen Vernunft unterordnen, ohne sie zu zerstören. Es ist also hier jener Theil der Seelen-Diätetik, dessen Bearbeitung an der eigenen Individualität vorzugsweise dem Alter der Reife, der Sonnenhöhe des Lebens zukommt.

 

Läßt sich überhaupt die Gesinnung, die Bildung des Willens, deren Einfluß wir schon erörterten, von der des Erkennens sondern? Wille und Gefühl, also auch Leid und Lust im Innern, sind ja nur Ergebnisse des Gesichtspunktes, von dem aus wir die Welt und uns anschauen, und dieser Gesichtspunkt ist Ergebniß unserer Bildung. In uns ist Trost und Verzagen, in uns ist Paradies und Wüste. Ist das Auge klar, so ist es auch die Welt; und wenn die Denkart, die Ueberzeugung den Grund zu unserer Stimmung legt, so legt sie auch den Grund zu unserem Wohlsein. So viel vermag ein System von Gedanken, wenn es selbstgedacht und mit unserm ganzen Wesen Eins geworden ist. Es wird zur Stütze für den Müden, zum Ruhekissen für den Leidenden, zum Palladium für den noch Gesunden. Spinoza hätte schwerlich so lange ausgedauert, ohne die folgerichtige Ueberzeugung in seiner Seele. Man denke die Welt in ihrem Zusammenhange, und der Blick wird sich erheitern. Man fasse die letzten Zwecke ins Auge, und die Uebel der Welt werden sich mindern. Man mache den Beifall der Menschen sich weniger zum Zwecke – und Zwecke kann man sich ja machen! – und sein Mangel wird uns weniger quälen. "Man denke das Gegentheil von dem, was Einen schmerzt, und man weiß sodann, was der Zusammenklang des Ganzen fordert. Wenn der Egoist die Uebel am meisten fühlt, weil sich die wenigsten Dinge zu seinem engen Zwecke vereinigen, so bestraft sich der Egoismus durch seinen Gesichtspunkt." Man lerne diesen also erweitern, und große Gedanken haben! Man lerne einsehen, daß das Leben zwar eine Gabe, vor Allem aber ein Auftrag ist; eine Vollmacht zu Rechten, aber nur im geheiligten Namen der Pflicht!

 

Wenn der Hauptgrund des Kränkelns in der ängstlich übertriebenen Aufmerksamkeit auf die Angelegenheiten des lieben Körpers zu suchen ist, – wie ein erfahrner Blick auf das Geschlecht unserer Mitgebornen überzeugt, – was kann dem Uebel sicherer begegnen, als jenes höhere, geistige Streben, welches uns von einem niedrigen erhebend abzieht? Es ist erbärmlich, jene kleinen Geister zu beobachten, wie sie mit der unaufhörlichen Sorge für ihr unschätzbares materielles Dasein dieses selbst leise zu untergraben jämmerlich beflissen sind! Der Arzt selbst, den sie ewig consultiren, muß sie verachten. Sie sterben an der Sehnsucht nach dem Leben. Und warum? weil ihnen die Cultur des Geistes gebricht, welche allein fähig ist, den Menschen aus dieser Misere herauszureißen, indem sie seinen besseren Theil entfesselt und ihm Gewalt über den irdischen ertheilt. Ich will von den ehrfurchtwirkenden Erscheinungen des Stoizismus nichts sagen; wir haben sie mehr dem Willen als dessen Gründen zugeschrieben; aber wer sind sie, die das äußerste, dem Sterblichen gegönnte Maß seines irdischen Bleibens mit gesunder Freudigkeit gemessen haben, als die ernsten, den höchsten Ideen innig zugewendeten Geister, von Pythagoras an bis auf Goethe? – Nur ein heiterer Blick ins Ganze gewährt Gesundheit, und nur Einsicht gewährt diesen heitern Blick. Der scharfsinnigste Denker, der sich am tiefsten in den wunderbaren Abgrund der Geistigkeit versenkt, und durch ruhige Beschauung ein von der Parze für den baldigen Schnitt bereitetes Leben zu verlängern gewußt hat, – der Denker, der stets für den grübelndsten und vielleicht finstersten von allen gehalten wurde, that den merkwürdigen Ausspruch, den er, nach seiner Weise, in geometrischen Formeln bewies: "Die Heiterkeit kann kein Uebermaß haben, sondern ist immer vom Guten; dagegen die Traurigkeit ist immer vom Uebel. Je mehr aber unser Geist versteht, desto seliger sind wir." Das ist die stille, hohe Gewalt der ächten Philosophie, daß ihr gegeben ist, dem Menschen einen Standpunkt anzuweisen, von welchem er, nicht ohne Theilnahme, aber ohne Kampf, aus unangefochtener Höhe herabsieht auf den wechselvollen Strom der Erscheinungen, auf welchem in der reichen, aber zur Einheit durchgebildeten Fülle seines Gemüthes, ihm die Vergangenheit als heiliges Vermächtniß, die Zukunft als hoffnungsvolles Ziel einer erkannten Bestimmung, die Gegenwart als ein anvertrautes Gut erscheint, dessen wahren Werth er allein gehörig zu schätzen, dessen Zinsen er allein zurückzulegen, und mit fröhlichem, immer gleichem Jugendsinne zu genießen versteht. Das ist die Macht der Philosophie, aber nur jener, bei der nicht die Köpfe glühen und die Herzen frieren, – die aus dem Innern des Denkenden selbst hervorgeht und sein ganzes Wesen ergreift, die nicht gelernt, sondern gelebt sein will, die damit anfängt und endet, sich selbst zu prüfen und zu begreifen. Thörichtes Preisen und Beneiden unbewußten Glückes! nur im Geiste kann das Glück gefunden werden, da es selbst nur ein Begriff ist. Wer je den dumpfen Zustand rein sinnlichen Behagens mit dem Gefühle geistiger Klarheit in der Erfahrung vergleichen lernte, weiß, daß es sich hier nicht um ein Wortspiel handelt. Jenes Beneiden trifft eigentlich nur das Nicht-Bewußtsein des Unglücks, welches letztere ja auch nur ein Begriff ist. Klarheit im Geiste bleibe denn das...

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