Teil II
Über die Extremformen der Bergleidenschaft
Zur Einführung
Ich erinnere mich an eine Fernsehsendung, in der ein französischer Extremkletterer vorgestellt wurde. Die Sendung begann mit einem Interview, in dem der junge Mann mehrmals und mit Nachdruck hervorhob, er sei ein Mensch wie jeder andere auch. Auf das Interview folgten Filmaufnahmen, die den jungen Mann in Aktion zeigten: Man sah ihn eine zweihundert Meter hohe, lotrechte Wand besteigen, die stellenweise überhängend war. Mit bizarrer Akrobatik arbeitete sich der Extreme an kleinsten Rauhigkeiten über die schwindelnde Vertikale hinauf. Oft waren die Füße höher oben als der Kopf. An einem Überhang baumelte er vollkommen frei über dem Abgrund, nur noch an den Fingerspitzen einer Hand hängend. Alles das vollzog sich ohne jede Sicherung. Danach sah man den Kletterer bei seinem mehrstündigen täglichen Spezialtraining, wie er die ausgefallensten Bewegungen und Kraftübungen ausführte. Diese Bilder widersprachen allesamt in einer geradezu grotesken Weise der anfangs gemachten Beteuerung des Kletterers, er sei ein ganz gewöhnlicher Mensch. Nein, da war wirklich nichts Gewöhnliches mehr dran. Das war in jeder Hinsicht unnormal: im Hinblick auf die Anstrengung, in bezug auf die Akrobatik und in bezug auf die Gefährlichkeit. Die Taten des jungen Mannes sprachen eine ganz andere Sprache als seine Worte. Das war kein Mensch wie jeder andere, sondern eben ein »Extremer«. Das Wörtlein »extrem« besagt ja, daß jemand sich weit von einer Norm, einer Mitte des Verhaltens, entfernt und insofern unnormal ist.
Man muß schon ganz spezielle Wesenseigenschaften besitzen, um jene immensen Strapazen, jene hohen Risiken und jenes daseinsbeherrschende Trainieren auf sich zu nehmen, wie es Extrembergsteiger tun – freiwillig und mit höchster Leidenschaft.
Manchmal ist das Auffällige von Extrembergsteigern nur auf den Bereich ihrer Bergleidenschaft begrenzt. Das ist indessen der seltenere Fall. Viel öfter sind Extremalpinisten in ihrer ganzen Lebensart und vom ganzen Charakter her »besondere« Menschen. Sie verkörpern oft in einem ausgeprägten Maße das, was man gemeinhin einen »Individualisten« nennt. Man trifft unter Extrembergsteigern auffallend viele eigenwillige und auch eigensinnige Menschen. Sie leben sehr kompromißlos ihren persönlichen Lebensstil und machen sich nichts daraus, wenn sie in vielem querliegen zur gesellschaftlichen Norm. Ihre ganze Existenz wird durch ihre bergsteigerischen Pläne und Taten bestimmt. Dagegen zählt ihnen alles andere wenig.
Die meisten Extremalpinisten sind eher ernst, in sich gewandt und still. Oft hat ihr Wesen einen Einschlag ins Düstere und Undurchschaubare. Wenn man sich mit ihnen befaßt, wird man unwillkürlich an die Figuren strenger Einsiedlermönche des Mittelalters erinnert. Sehr hervorstechend ist an diesen Männern und Frauen ein scharfer asketischer Zug, der sich verbindet mit einer grimmig-unerbittlichen Willensbetontheit. An markanten und prominenten Vertretern dieser Gruppe wären zu nennen Edward Whymper, Hermann von Barth, Hermann Buhl, Walter Bonatti, Reinhard Karl und Chris Bonington. Die Mehrheit der ganz extremen Alpinisten tendiert zu diesem ernsten Erscheinungstypus.
Vieles von dem, was ich nachfolgend über die Eigenschaften und Beweggründe von Extrembergsteigern sage, das trifft auch auf extreme Vertreter anderer Natursportarten zu, wobei ich vor allem an die Wildwasserfahrer, die Drachenflieger und die Sporttaucher denke. Eine umfassende Bedeutung und Gültigkeit haben insbesondere meine Ausführungen in den Kapiteln »Lebendigkeitshunger«, »Auf der Suche nach der Harmonie des Ich«, »Aggression« und »Schatten auf unserer Seele«. Ich glaube, daß es so etwas wie einen Extremcharakter gibt, worunter ich ein typisches Geflecht von grundlegenden Strebungen und Persönlichkeitseigenschaften verstehe, das bei Extremsportlern verschiedener Sparten gleichermaßen vorhanden ist.
Die unverständliche Leidenschaft
Ebenso wie andere Extrembergsteiger, so war auch der Italiener Walter Bonatti auf dem Höhepunkt seiner Bergsteigerlaufbahn beständig auf der Suche nach »deftigen« Neutouren. Ein Projekt, das buchstäblich jahrelang sein Denken und Streben beherrschte, war die Direktdurchsteigung des Pilier d’Angle am Montblanc. Hören wir, wie Bonatti seinen großen alpinistischen Sehnsuchtstraum beschreibt:
… die düsterste, wildeste und gefährlichste Wand aus Eis und Fels, die man in den Alpen antreffen kann. Anhäufungen von glatten und überhängenden, völlig von Eis und Lockerschnee verkrusteten Felsplatten wechseln mit unerhört abschüssigen Eishängen, auf denen die hoch oben abbrechenden Eistürme und Wächten nach ihrem Absturz zerschellen. Diese etwa tausend Meter hohe »Hölle* in Form eines riesigen Trichters erweckt bares Grausen … Wer über dem ersten Drittel des Aufstiegs von Schneesturm oder Tauwetter überrascht wird, kann nicht mehr umkehren.1
Das ist die Schilderung eines Alptraums, einer apokalyptischen Schreckensvision. Und genau in diese »Hölle« (wie Bonatti es selber ja nennt), da zog es ihn mit der äußersten Sehnsuchtsmacht hin. Bonatti führte die Tour schließlich durch. Sie war der Gipfel an Anstrengung, Leiden und Gefahr – genauso, wie es von Bonatti vorausgesehen worden war. Ähnliche Geschichten lesen wir in den Büchern von nahezu allen namhaften Extrembergsteigern, früheren wie gegenwärtigen. Da ist irgendein Berg oder eine Wand, wie man sie in der Phantasie sich nicht infernalischer und brutaler ausdenken könnte, und gerade da treibt es den Extremen mit unwiderstehlicher Gewalt hin. Hierzu noch ein Beispiel von Lionel Terray: Eben erst zurückgekehrt von der entbehrungsreichen Eroberung des Makalu, schaute sich der Franzose nach neuen »schönen« Zielen um. In den Alpen gab es nichts mehr, was ihn reizen konnte. Terray war mißmutig und gedrückt. In dieser Situation wurde er von seinem Freund Ferlet auf den Fitz Roy in Patagonien aufmerksam gemacht. Terray zog Erkundigungen ein über diesen Gipfel, und was er hörte, erfüllte ihn sofort mit flammender Begeisterung. Welcher Art waren die Informationen, die Terray über den Fitz Roy bekommen hatte?
Den Berichten zufolge stellte die Gipfelwand, in ihrer geringsten Höhe auf 750 Meter geschätzt, den Ersteiger vor Schwierigkeiten, die den härtesten Unternehmen in den Alpen zumindest gleichkamen. Aber alle waren sich darin einig, daß diese Schwierigkeiten durch das Klima Patagoniens verzehnfacht wurden. Infolge des ständig schlechten Sommerwetters blieben nur wenige Tage, um den Berg anzugehen; die Kälte, weitaus stärker als in unseren Zonen, das die Wand überziehende Wassereis, vor allem aber die jähen und unerhört heftigen Sturmstöße machen die Besteigung sehr heikel. Diese unmenschlichen atmosphärischen Verhältnisse hatten alle bisherigen Expeditionen erschöpft und entmutigt, bevor noch der eigentliche Kampf aufgenommen worden war. Von allem Anfang an begeisterte mich der Plan Ferlets. War dieser Fitz Roy nicht das Urbild des idealen Gipfels …?2
Auch hier wird eine Hölle geschildert – und im gleichen Atemzug begeistert als das höchste Ziel aller Wünsche gepriesen. Auch hier ein spontanes, übermächtiges Hingezogensein zum Inferno.
Mit den (scheinbaren) Abnormitäten und Ungereimtheiten der extremen Bergleidenschaft möchte ich mich im folgenden befassen.
Ich bin mir dabei der Tatsache bewußt, daß die Mehrheit der leidenschaftlichen Bergsteiger es als eine Art von Entweihung empfindet, wenn ihr Tun mit nüchternem, vielleicht gar mit kritischem Blick betrachtet wird. Die meisten von uns Passionierten hegen eine ausgeprägte Abneigung gegen psychologische Fremd- oder auch Selbsterforschung. Ich meine, auf dem tiefsten Grund dieses Nicht-Nachfragenwollens sitzt die – begründete – Befürchtung, es könnten Dinge ans Tageslicht kommen, die mit unserer idealisierenden Selbstauffassung im Widerstreit stehen. Wollen Sie sich trotzdem mit mir auf das Risiko einlassen, das in der Betrachtung des Tatsächlichen liegt? Ich sollte an dieser Stelle vielleicht noch einmal wiederholen, daß in fast allem, was ich nachfolgend zu sagen habe, meine eigene Person mit eingeschlossen ist.
Begründungsprobleme
Die einfachen Spielarten des Bergsteigens werden von den meisten Menschen unseres Kulturkreises als eine normale und verständliche Freizeitbetätigung angesehen. Der Bergwanderer und der nicht-extreme Kletterer, sie können beide eine Vielzahl von »guten Gründen« für ihr Tun anführen. Das Repertoire dieser guten Gründe ist uns allen wohlbekannt: Liebe zur Natur, Entspannung, sich fithalten, Kameradschaft, Selbstbestätigung und anderes mehr. Ob diese plausiblen Formulierungen auch tatsächlich die wahren Motive unseres Handelns wiedergeben, das ist eine eher zweitrangige Frage. Hauptsache, unser Tun wird dadurch als sinnvoll und nützlich, sprich: als...