1. Hiobs Frage
Denn es ist ihresgleichen nicht im Lande
Wahrscheinlich sollte ich erklären, warum ich ein Buch über eine mystische Dichtung des 12. oder 13. Jahrhunderts mit der Erinnerung an meine Tante beginne. Das Leben hat mir persönlich noch kein Leid bereitet, das es erlauben würde, der Schöpfung zu zürnen. Die Gründe dafür, daß ich nach der Pubertät nicht aufgehört habe, am Leben zu verzweifeln, sind nicht der Rede wert. Ich bin für mein Alter viel gereist und habe einiges gelesen. Was sich mir bot, genügte, um die Annahme zu verwerfen, das Leben könne einen vertretbaren Sinn bergen. Doch ist mein Verhältnis zu Gott nicht eng genug, Ihm sein Werk vorzuhalten, gerechterweise vorhalten zu dürfen. Die Religiosität meiner Kindheit habe ich mir bewahrt, nur ist sie von eher praktischer Bedeutung; ich ziehe aus ihr keinen intellektuellen Schluß. Sie besteht nicht gegen das Leid der anderen, das sich auftut, wohin ich sehe, sie versucht es gar nicht erst und hilft mir dennoch durch den Alltag, indem sie mir wie eine Fee zuflüstert, mein Weg folge einer Spur. Ich bin bereit, der Stimme aus dem einfachen Grund zu glauben, daß sie mich davon abhält, stehenzubleiben. Der Glaube meiner Tante und der anderen Menschen, von denen ich sprechen werde, von denen der Dichter Faridoddin Attar spricht, ist von anderer Konsistenz. Ihr Glaube durchdringt sie. Darüber mag man sich philosophisch erheben, man mag es belächeln oder für sich verwerfen, aber wenn ich mir die schlichte, wesentliche Frage stelle, was am Ende den einen vor den anderen Menschen auszeichnet, dann stehen sie für mich im Glanze, denn am Ende, dem letzten der Tage, oder vor dem Jüngsten Gericht zählt die Güte, nichts anderes. Ich sehe, daß die Frommen unter meinen Mitmenschen – und damit meine ich zuallererst die Verwandten aus der Generation meiner Eltern und Großeltern – gute Menschen sind, gut im emphatischen Sinne: Sie sind so liebevoll wie wohltätig, weder lügen sie, noch betrügen sie, man kann vielleicht nicht alles mit ihnen besprechen, aber sich in allem auf ihre Zuneigung verlassen, sie sehen einem noch die großen Kränkungen nach und verzeihen immer zuerst. Sie sind tolerant im eigentlichen Sinne, insofern sie das Fremde mit distanzierter Freundlichkeit behandeln, ohne es verstehen, geschweige denn mögen zu müssen.
Selbstverständlich können andere Menschen auch gut sein. Aber die Menschen des religiösen Typus, den ich meine, den Attar meint, sind es auf jeden Fall. Ihnen ist die Güte wesenseigen. Vor allem auf Reisen schärft sich das Gespür für Sicherheit, und mir ist aufgefallen, daß ich jemandem instinktiv und ohne weitere Bedenken vertraue, wenn ich die edelste Form der Frömmigkeit an ihm bemerke. Daß ich von den Bigotten oder Buchstabenfrommen nicht spreche, versteht sich, den Erbsenzählern oder Kopfarbeitern, sondern von denen, «die da glauben und Gutes tun», wie es der Koran in der stets wiederkehrenden Formulierung präzise faßt – glauben und Gutes tun. Es müssen keine schlichten Menschen sein, die ich meine, aber ihr Glaube ist schlicht. Die Rituale, die ihnen aufgegeben worden sind, befolgen sie strikt, ohne nach der Begründung zu fragen, die Werte, die ihnen die Offenbarung an die Hand gibt, achten sie so still wie konsequent, und Gott preisen sie selbst dann für das Sein, wenn es sie quält. Durch Worte und nachdrücklicher durch ihr Vorbild mahnen sie ihre Umgebung beständig zum wohltätigen Glauben (welcher Glaube, das ist ihnen weniger wichtig, nicht ruhen läßt sie vielmehr der Unglauben). Sie mahnen – nicht mehr, aber zu unserem gelegentlichen Verdruß auch nicht weniger. Das ist die Religiosität, die sich mir als Kind eingeprägt hat, und so deutlich ich wahrnehme, welches Unheil heute gerade aus dem Islam erwächst, vergesse ich doch die Menschen nicht, die mir bis heute die Tugend zum Vorbild geben, meinen Großvater zum Beispiel, der den getuschelten Spott seiner jungen, frechen Töchter ertrug, wenn er vor ihnen das Gebet der Großfamilie leitete. In seinen Memoiren hielt er als erstes stolz die Anekdote fest, wie unser Urgroßvater, ein hochangesehener Theologe, sich im Wortsinn schützend vor die Bahais in Isfahan gestellt hat, als andere Mullahs den Mob losließen; Anfang des letzten Jahrhunderts muß das gewesen sein. Mein Großvater ist als Großbürger überzeugter Demokrat gewesen und als Vertreter der Isfahaner Notabeln in den vierziger Jahren eigens nach Teheran gefahren – keine kurze Strecke damals –, um dem verblüfften Oppositionsführer Mossadegh mitzuteilen, daß er seinen Kampf gegen die Monarchie gutheiße. Liberal jedoch, wie wir es verstehen, war mein Großvater nicht, vielmehr ein konservativer Mann von orthodoxem Ernst, das Lob Gottes beständig auf den Lippen und mit strengen moralischen Ansprüchen an sich und seine Nächsten. Wenn er, der selbst an einer Theologischen Hochschule in Isfahan studiert hatte, den Kleingeist der Straßenprediger wie der Staatstheologen verächtlich machte, dann fühlte er sich nicht dem Geist der westlichen Aufklärung und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet, sondern dem größten Geist, dem des Allmächtigen.
Da ist der Herr Ingenieur Kermani, der Mann meiner Tante Eschrat, der uns mit dem Backgammon auch das Beten lehrte, ein Kettenraucher vor dem Herrn, der seine immense Körpermasse am liebsten in Kleidung vom Stile Gamal Abdel Nassers zwang, jenen hellbraunen oder hellblauen Baumwollanzügen, bei denen die Jacke zugleich Hemd ist. Herr Ingenieur – den Titel Āqā-ye Mohandes, «Herr Ingenieur», vergaß ich selbst dann nicht zu nennen, wenn ich zu mir selbst sprach –, Āqā-ye mohandes Kermani war eine wirklich imposante Erscheinung, der dickste und größte unter meinen Verwandten, den riesig-runden Schädel kahl und mit goldenem Vorderzahn im häufig lachenden Mund. Solange meine Erinnerung zurückreicht, versorgte er die Häuser aller Verwandten und Bekannten, auch jener, die in Europa und den Vereinigten Staaten leben, mit einem selbstentworfenen braunen Poster, auf dem «Remember God» in drei Sprachen stand, auf englisch, arabisch und persisch. Bei meinen Eltern hängt es noch heute im Flur.
Herr Ingenieur war fromm, aber nie kleingeistig. Ich war zu jung, um seine Größe zu überblicken, mein ältester Bruder jedoch berichtete mir, wie der Herr Ingenieur ihn einmal während der Ferien in Teheran zur Seite nahm und auf dessen Hosenlatz deutete. Mein Bruder stand damals kurz vor der Geschlechtsreife, die im Islam mit der Verpflichtung zum Ritualgebet einhergeht.
– Paß mal auf, sagte er meinem Bruder, du wirst bald an deinem Körper etwas ganz Besonderes und sehr Schönes bemerken. Dein Glied wird manchmal groß und fest werden, und vielleicht wachst du auch mal eines Morgens mit einem Flecken vorn in der Hose auf oder bemerkst, daß es Spaß macht, mit deinem Glied zu spielen. Vielleicht wird dann etwas Weißes aus deinem Glied spritzen, eine Flüssigkeit, die aussieht wie Milch. Das ist nicht schlimm. Das ist etwas Wunderbares. Das ist eines der schönsten Geschenke, die Gott uns gibt. Du mußt dich nicht schämen oder dich fürchten. Du darfst es genießen.
Bei allem Frohlocken über die Wohltaten Gottes vergaß Herr Ingenieur Kermani nicht, meinen Bruder auf die bevorstehende Verpflichtung zum Ritualgebet hinzuweisen. Daß ihm die Sexualität göttlich vorkam, machte ihn nicht zum Freigeist. Er nahm es als einen Grund mehr, Gott zu danken. Gott zu lieben hieß für den Herrn Ingenieur, die Schöpfung zu lieben. Gott zu dienen hieß für ihn, Gottes Geschöpfen zu dienen. Mein Bruder erzählte mir auch von der Hochzeit eines Bettlers, die der Herr Ingenieur ausgerichtet hatte. Der Bettler hatte ihn auf der Straße um ein Almosen gebeten, und der Herr Ingenieur hatte ihm statt dessen eine Arbeit besorgt, später eine Ehefrau vermittelt und dazu noch die Aussteuer bezahlt. Auch die anderen Bettler und Bedürftigen der Nachbarschaft konnten sich auf ihn verlassen, und für die Waisenkinder Isfahans gründete er ein Heim, wie es heute noch in Isfahan kein größeres und besser organisiertes gibt. Immer wieder sahen wir, wie er in Isfahan bei Familienfeiern und großen Gesellschaften Geld sammelte für seine Waisen, und wenn jemand starb, legte er statt des üblichen Blumengestecks eine große Tafel auf das Grabmal, auf der er zu Spenden für das Heim aufrief, bis kaum noch jemand daran dachte, zu Beerdigungen Blumen mitzubringen und alle das Geld gleich dem Waisenheim überließen. Die älteren Verwandten einschließlich meiner Eltern behaupten fest, daß Gott ihnen jede Bitte, die mit einer Spende für die Waisen des Herrn Ingenieur bekräftigt wurde, erfüllt hat. Der Herr Ingenieur lebte mit Gott, tagein, tagaus. Durch ihn habe ich zu begreifen begonnen, was es heißt, daß Gott dem Menschen «näher als die Halsschlagader» sein kann, wie es Sure 50,16 behauptet. Als mein Bruder etwas älter war, gestand ihm der Herr Ingenieur, daß er manchmal im Gebet eine Erektion bekomme, so entrücke ihn das Gespräch mit Gott, und...