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Das Warschauer Getto

Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung

AutorAndrea Löw, Markus Roth
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 6087
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783406645341
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Im Warschauer Getto waren insgesamt knapp 500.000 Menschen eingepfercht, mehr als in jedem anderen Getto im deutsch besetzten Europa. Sie hungerten und wurden krank, sie litten und sie hatten Angst. Aber diese Menschen reagierten auf vielfältige Art und Weise auf Verfolgung und Erniedrigung. Einige stellten sich im Frühjahr 1943 ihren deutschen Peinigern mutig entgegen. Viele von ihnen kämpften ohne Waffen, aber ebenfalls einen heroischen Kampf. Sie kämpften gegen Hunger und Krankheiten, für die Bildung ihrer Kinder, für ihr kulturelles Leben und um ihre körperliche und geistige Selbstbehauptung. Ihre Bemühungen, sich ein Leben zu organisieren, in dem es Kultur und Musik, Hilfe für andere, Liebe und Freundschaft gab, stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Dabei kommen die Verfolgten selbst durch Tagebücher und Erinnerungen ausführlich zu Wort. Erstmals erhalten die deutschen Leser so ein lebendiges Bild vom Alltag der Menschen im Getto.

Dr. Markus Roth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Herder Instituts Marburg und stellvertretender Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen. Dr. Andrea Löw ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Zeitgeschichte in München.

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Leseprobe

II. Im Getto


1. Die Verwaltung des Gettos


Trotz der rigiden Trennungspolitik der vergangenen Monate waren die Juden und das jüdische Viertel vielfältig verwoben mit den anderen Teilen der Stadt, mit dem Arbeits- und Wirtschaftsleben. Viele hatten ihre Geschäfte und Werkstätten außerhalb des Gettogebiets, arbeiteten dort in Betrieben oder trieben Handel mit dort ansässigen Unternehmen und Personen. Auch die Infrastruktur der Metropole ließ sich nicht über Nacht künstlich trennen; Straßenbahnlinien führten durch den nunmehr abgeriegelten Stadtteil, die Arbeit der städtischen Versorgungsbetriebe betraf ganz Warschau. Kaum ein Bereich, der nicht von der gewaltsam betriebenen Teilung der Stadt betroffen gewesen wäre. Daher sahen sich nicht nur die einzelnen Gettobewohner vor schier unglaubliche Herausforderungen gestellt, auch die jüdische Verwaltung musste sich über Nacht den neuen Gegebenheiten anpassen und unter erheblich erschwerten Bedingungen ihre Aufgaben bewältigen.

Eines der drängendsten Probleme, dem sich der Judenrat unverzüglich widmen musste, war die Wohnungsnot. Schon während der Wochen, die der Gettobildung vorangegangen waren, hatte er sein Quartieramt erweitert. Der nur unzureichend vorhandene Wohnraum musste irgendwie unter den Menschen aufgeteilt werden. Damit verbunden war die Organisation der Versorgung, des Warenaustauschs mit dem «arischen»[1] Teil der Stadt und der Gesundheitsfürsorge, denn die drückende Enge bei gleichzeitigem Hunger ließ die Gefahr von Epidemien sprunghaft ansteigen. Der Judenrat rief daher neue Kommissionen ins Leben, etwa für Handel und Industrie mit einer angeschlossenen Lebensmittel-Versorgungsanstalt oder eine Abteilung Gesundheitswesen. Später folgten Abteilungen für Sozialversicherung, Post, Stadtreinigung, Produktion und anderes. Zudem mussten die Ausgabe und Kontrolle der Passierscheine für die zahlreichen Arbeiter von Betrieben in den anderen Stadtteilen organisiert werden.

Zahlreiche Details, die sich aus der Abriegelung ergaben, waren mit der polnischen Verwaltung zu klären, vor allem Finanzfragen und weiterhin immer wieder Grenzfragen. Viele Bereiche, die bislang der polnischen Stadtverwaltung oblegen hatten, gingen Schritt für Schritt auf den Judenrat über. Dieser musste nun für die Postzustellung oder die Stadtreinigung sorgen, ohne auf solche Aufgaben vorbereitet zu sein oder auch nur annähernd über die dafür notwendigen Mittel zu verfügen. Eine der wenigen Einnahmequellen waren Mieten; die Häuser im Getto kamen unter die Verwaltung des Judenrats, der hierfür eine Liegenschaftsverwaltung einrichtete, die wiederum Hausverwalter bestellte. Zehn Prozent der Mieteinnahmen konnte der Judenrat für seine Arbeit einbehalten.

Auch auf deutscher Seite änderte sich die Organisation der zuständigen Verwaltung. Im Dezember 1940 wurde innerhalb des Amts für Umsiedlung die sogenannte Transferstelle ins Leben gerufen, die unter Leitung von Alexander Palfinger für wirtschaftliche Fragen und den Warenaustausch sowie die Aufsicht über den Judenrat zuständig war. Palfinger konnte einschlägige Erfahrungen in der deutschen Gettoverwaltung in Litzmannstadt vorweisen. Die Transferstelle war in den ersten Monaten des Gettos die entscheidende Instanz, von deren Wohlwollen und Entscheidungen das Schicksal der Eingeschlossenen existenziell abhing. Ohne ihre Genehmigung sollte nichts in das Getto hinein- oder aus ihm herausgelangen können. Sie vermittelte von nun an die Lieferung von Waren und Rohstoffen und führte diese durch, über sie wurden die Verträge mit den Handelspartnern außerhalb der Mauern abgeschlossen. Die Bezahlung der Einfuhren, die über den sogenannten Umschlagplatz abgewickelt wurden, sollte durch die im Getto hergestellten Produkte abgegolten werden. Allerdings setzte die Transferstelle deren Wert nach eigenem Gutdünken fest, so dass es in ihrer Hand lag, wie das Getto sich entwickelte. Schön und Palfinger waren radikale Antisemiten, deren Bestreben es war, die jüdische Bevölkerung auszuhungern, aus ihr das Letzte herauszupressen, zumal sie im Getto Massen gehorteter Waren und Devisen vermuteten. Diese Linie war im deutschen Apparat nicht unumstritten, manche warnten vor den fatalen Folgen und Gefahren einer solchen Hungerpolitik, die in erster Linie nur einen Effekt habe, nämlich eine erheblich größere Seuchengefahr.

In den ersten Monaten 1941 entspann sich eine längere Auseinandersetzung zwischen den Anhängern einer Hungerpolitik und solchen, die das Getto und seine Bewohner, gestützt auf ein Gutachten des Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit über dessen Wirtschaftsbilanz, produktiv in die Kriegswirtschaft einspannen wollten, ähnlich den Erfahrungen in Litzmannstadt. Im April 1941 setzten sich schließlich die Befürworter eines gemäßigteren Kurses durch. Die Folge waren eine gewisse Reorganisation der deutschen Gettoverwaltung und ein Personalwechsel. Auf den Hardliner Palfinger folgte im Mai der Wiener Bankier Max Bischof als Leiter der Transferstelle. Zudem wurde Mitte Mai mit dem Kommissar für den jüdischen Wohnbezirk ein neues Amt geschaffen; der hierauf berufene Rechtsanwalt Heinz Auerswald löste damit de facto Waldemar Schön ab, der bislang für das Getto zuständig gewesen war und nun neue Aufgaben in der Distriktverwaltung zugewiesen bekam. Der Kommissar führte die Aufsicht über die Transferstelle, die jetzt weitaus mehr Aktivität entfaltete, um die Wirtschaftskraft des Gettos nutzbar zu machen. An den grundlegenden Problemen Hunger, Enge und Krankheiten änderte dieser Kurswechsel auf deutscher Seite allerdings kaum etwas.

Der Ordnungsdienst

Im Zuge der Gettobildung entstand eine der wohl umstrittensten Institutionen, der Jüdische Ordnungsdienst (OD), eine Polizeieinheit. Vor allem das spätere Verhalten vieler OD-Männer während der Deportationen ins Vernichtungslager im Sommer 1942 sollte heftige Kritik hervorrufen.

Zuvor hatte es Erfahrungen mit polizeiähnlichen jüdischen Einheiten gegeben. Das Arbeitsbataillon verfügte über eine eigene Wache von einigen Dutzend Männern, die die Menschen zu ihren Arbeitsplätzen eskortierten. Sie wurden auch zur Bewachung des Mauerbaus im Frühjahr 1940 eingesetzt. Manche der späteren OD-Männer kamen aus dieser Einheit. Dringlich wurde aus deutscher Sicht die Bildung des Ordnungsdienstes erst, als die Abriegelung des Gettos feststand und vorbereitet wurde. Am 20. September rief Stadthauptmann Leist Czerniaków zu sich und befahl ihm, einen jüdischen Ordnungsdienst mit zunächst 1000 Mann aufzustellen.[2]

Der Judenrat rief eine Kommission ins Leben, die sich der Aufstellung des Ordnungsdienstes widmen sollte, und ließ zugleich Bekanntmachungen aushängen, auf denen Männer zwischen 21 und 40 Jahren aufgerufen wurden, sich für die Arbeit im Ordnungsdienst zu melden. Weitere Voraussetzungen waren, dass die Kandidaten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde waren, mindestens sechs Jahre Mittelschule absolviert und keine Vorstrafen hatten; nach Möglichkeit sollten sie eine militärische Ausbildung genossen haben und sie mussten überdies mindestens 1,70 Meter groß sein und zwei Referenzen vorweisen können. Alle Kandidaten durchliefen eine Prüfungskommission, bevor über ihre Aufnahme entschieden wurde. Trotz dieser relativ strengen Kriterien gelang es einigen, durch persönliche Kontakte oder Bestechung an einen Posten zu gelangen. Obwohl der Judenrat den zukünftigen OD-Männern keine Bezahlung in Aussicht stellen konnte, war die Anziehungskraft groß; höhere Rationen lockten viele ebenso wie eine Befreiung von der Arbeitspflicht.

Allerdings wurden damit auch zwielichtige Gestalten, die sich durch ihren Dienst andere Einnahmequellen zu erschließen hofften, auf den Plan gerufen. Dies trug außer der Zuspitzung der allgemeinen Lage erheblich dazu bei, dass bald schon die Korruption grassierte. In manchen politischen Kreisen löste die Aufstellung des Ordnungsdienstes Diskussionen aus. Die Führung des Bunds beispielsweise debattierte hitzig, ob sich Aktivisten melden sollten. Nicht zuletzt um zu vermeiden, in den Geruch der Kollaboration zu geraten, fiel die Entscheidung schließlich negativ aus.

Anfang Oktober wurde Józef Andrzej Szeryński, ein zum Katholizismus konvertierter Jude, der vor dem Krieg bereits bei der polnischen Polizei gewesen war, mit der Führung des Ordnungsdienstes beauftragt. Szeryński, ein enger Vertrauter Czerniakóws, war dem Judenrat direkt verantwortlich und unterstellt, ebenso dem Kommandeur der polnischen Polizei von Warschau, von dem er auch Befehle erhielt, sowie dem deutschen Kommissar für den Jüdischen Wohnbezirk. Anfang Mai 1942 wurde Szeryński verhaftet, da er Pelze verschoben haben sollte. Jakob Lejkin, sein bisheriger Stellvertreter, übernahm seinen Posten. Kurz vor den Deportationen im Juli 1942 kam Szeryński wieder frei.

Die Führungsriege des Ordnungsdienstes setzte sich in erster Linie aus assimilierten Juden zusammen. Bis Mitte November hatten etwa 600 Kandidaten die Prüfung erfolgreich durchlaufen. Sie und die später noch Hinzukommenden bewachten nun innerhalb des Gettos die Grenzen und Eingänge, regelten den Verkehr, überwachten die Sauberkeit auf...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über den Autor3
Impressum4
Inhalt5
Einleitung7
I. Vor dem Getto9
1. Jüdisches Leben vor dem Krieg9
2. Krieg und Besatzung13
Der Judenrat17
Deutsche Verwaltung21
Die Arbeit des Judenrats23
Die ersten Monate29
Der lange Weg zur Gettobildung38
II. Im Getto44
1. Die Verwaltung des Gettos44
Der Ordnungsdienst47
Die «Dreizehn»50
2. Das Untergrundarchiv52
3. Arbeit65
4. Leben und Sterben72
Bild der Straße86
Schmuggel91
Gegensätze95
5. Fürsorgebedürftige und Selbsthilfe99
Kampf gegen den Hunger103
Medizinische Versorgung106
Kinder und Jugendliche113
Hilfe für Flüchtlinge125
6. Kultur und Selbstbehauptung130
Musik131
Theater137
Liebe und Freundschaft142
Literatur und Zeitungen144
Religiöses Leben147
7. Vor der Vernichtung152
III. Vernichtung158
Kinder171
Arbeit und Deportation173
IV. Im «Rest-Getto»178
Januar 1943: Deportation und Widerstand187
Flucht und Versteck:Januar bis April 1943191
Hotel Polski194
Die Deportationen in den Distrikt Lublin197
V. Das Ende200
1. Die Kämpfe im Getto200
2. Leben im Versteck208
Epilog215
Anmerkungen219
Bildnachweis230
Quellen und Literaturverzeichnis231
Register238

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