Einleitung
WAHRHEIT UND THEATER
Unter den genialen Komponisten – so schrieb der Philosoph Isaiah Berlin in einem berühmten Essay – sei Verdi «vielleicht der letzte vollkommene, von sich erfüllte Schöpfer», ein «Mann, der alles in seine Kunst aufgelöst hat». Seine Kunst sei wie die von Bach oder Shakespeare «objektiv, unmittelbar und in Harmonie mit den sie regierenden Konventionen. Sie entspringt einer ungebrochenen inneren Einheit, dem Gefühl, zu ihrer eigenen Zeit, Gesellschaft und Umgebung zu gehören.» Sie sei frei von dem Bemühen, nach etwas Verlorenem, Unendlichem, Unerreichbarem zu streben, wie es für Künstler, die ihrer selbst stärker bewusst sind, typisch sei, etwa für Berlioz oder Wagner. Aus all diesen Gründen sei Verdi «die letzte große Stimme des Humanismus, die, zumindest musikalisch, nicht im Streit mit sich selbst lag […] Er war der letzte, der mit positiven, klaren und reinen Farben malte, der den ewigen, großen menschlichen Gefühlen unmittelbaren Ausdruck gab […] Vornehm, schlicht, von starker, ungebrochener Vitalität und großer natürlicher Schöpfer- und Gestaltungskraft», spreche Verdis Stimme gebildete wie auch laienhafte Zuhörer heute noch an – vielleicht weil sie aus einer «untergegangenen» Welt komme.[1]
Berlins – in mancherlei Hinsicht problematische – Analyse bringt zum Ausdruck, was viele angesichts des Verdi’schen Werkes empfinden. Welche Mängel seine Werke auch haben mögen, sie klingen emotional wahr. Wahrheit und Unmittelbarkeit machen sie oft ungeheuer aufregend. Dennoch gehören fast alle der denkbar artifiziellsten Gattung an – nicht einfach nur der Oper, sondern der romantischen italienischen Oper, geschrieben nach anerkannten Formeln für die Aufführung durch Sänger mit herausragenden Fähigkeiten, auf die Bühne gebracht hinter einem Proszeniumsbogen in illusionistischen Kulissen und vor einem sichtbar in Logenreihen angeordneten Publikum. Verdis sechsundzwanzig Opern (achtundzwanzig, falls man die größeren Überarbeitungen mitzählt) sind gleichermaßen Wahrheit und Theater.
Verdi selbst wusste sehr genau, dass seine Berufung, für das Theater zu schreiben, eines bedeutete: dem Publikum zu gefallen und das Haus zu füllen. «Die Theaterkasse», schrieb er später in seiner Karriere, «ist der eigentliche Gradmesser des Erfolgs.»[2] Auch in ehrwürdig hohem Alter empfand er leere Sitze bei der Uraufführung seiner «Vier geistlichen Stücke» als Misserfolg. Allenfalls zuckte er die Achseln, wenn er wie bei La traviata 1853 davon überzeugt war, dass auch ein scheinbarer Misserfolg durchaus seinen Wert hatte. Dann sagte er sich, die Zeit werde es weisen, und überarbeitete das Werk, damit es beim nächsten Mal triumphierte (BM, S. 26f.). Niemals, so scheint es, hätte er zugelassen, dass man ihn für ein verkanntes Genie hielt.
Heute könnte er zufrieden sein. Er ist einer von gerade einmal vier Komponisten, deren Opern fast immer für ein volles Haus sorgen (die anderen sind Mozart, Wagner und Puccini). Verdis Werke schafften das sogar zwischen 1890 und 1930, als sein Ansehen als Komponist bei musikalisch Gebildeten im Niedergang begriffen war. Gewiss, die populären Werke (Rigoletto, Il trovatore, La traviata und Aida) füllten auch weiterhin Theater mit populärem Programm, doch Elitehäuser ignorierten sie zeitweilig oder nahmen sie allenfalls als Kassenfüller in ihren Spielplan auf. Kenner neigten dazu, nur die verfeinerten Alterswerke anzuerkennen: Otello und Falstaff. Die frühen Opern und die etwas problematischeren späteren Werke wurden fast nirgendwo aufgeführt. Wer in den 1930er Jahren erstmals zur Musik fand, weiß noch, dass manche Kenner über so «Vulgäres» wie «La donna è mobile» oder den Triumphmarsch aus Aida nur die Nase rümpften.
Heute ist das ganz anders. Selbst eine Oper wie Stiffelio, die Verdi selbst beiseitelegte und als Steinbruch benutzte, wurde wieder zusammengesetzt, mit großem Erfolg aufgeführt und aufgezeichnet. Und das lauteste seiner frühen Werke, Attila, das 1963 im Sadler’s Wells Theatre noch hier und da Gelächter erntete, löste 1990 in Covent Garden Beifallsstürme aus.
In ihrem Auf und Ab ähnelt die Kurve des Ansehens, das Verdi genoss, der einiger großer Romanciers, die etwa zur selben Zeit lebten, insbesondere Dickens. Während man sich zu seinen Lebzeiten über ihn als «Mr Popular Sentiment» lustig machte (so wie man Verdi grobschlächtig, laut und melodramatisch nannte), galt er um 1900 als ein Schriftsteller, der wegen seiner komischen Wendungen Nachsicht verdiente. Erst in den letzten fünfzig Jahren wurden Romane wie Bleak House, Little Dorrit und Our Mutual Friend als große, fein gesponnene Kunstwerke rezipiert, die auf einer umfassenden und tiefen Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse basieren. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit auch das kritische Interesse an Verdi beträchtlich zunahm. Heute findet er die Aufmerksamkeit, die früher Beethoven oder Wagner vorbehalten blieb.
Für die Italiener des 19. Jahrhunderts leistete die Oper, was der italienische Roman (von Manzonis Die Verlobten einmal abgesehen) nicht zu leisten vermochte. Darin nahmen Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen greifbare Gestalt an, in denen die Italiener sich wiedererkennen konnten, und zugleich führten sie die Menschen zu neuen Höhen phantasievollen Erlebens, das in einer ergreifend melodramatischen Handlung gründete. Verdis Opern waren das italienische Gegenstück zu den Romanen von Dickens, aber weit mehr noch zu denen von Victor Hugo oder Dostojewski, in denen gelegentlich eine ähnlich gewalttätige oder entsetzliche Handlung dazu dient, das Verständnis des menschlichen Lebens zu vertiefen. Dank der Macht der Musik und Verdis eigener Kraft entfalten seine Opern im Theater nahezu durchgängig ihre Wirkung, wie dies den Romanen in den Augen der Leser nicht gelang. Wegen Hugos geschwollener Rhetorik, Dostojewskis Tiraden oder Dickens’ falscher Sentimentalität im Blick auf junge Frauen sind uns Teile ihrer Werke heute fremd geworden. Verdis frühe Opern erscheinen zuweilen laut oder klapprig, doch eine gute Aufführung – wie die von Attila in Covent Garden – wirkt dank ihrer Energie und ihres Adels mitreißend.
In gewisser Weise entspricht unsere Wahrnehmung Verdis Darstellungsmethode. Noch in den 1950er Jahren belächelten Kritiker gern seine blitzartigen Stimmungsumschwünge. Eine Figur stürmt auf die Bühne (etwa Amonasro in der Nilszene der Aida), und innerhalb von zwei oder drei Takten nimmt die Situation eine katastrophale Wendung. Heutzutage scheint das niemand zu bemerken – wahrscheinlich weil wir uns im Kino an die abrupten Schnitte der Jump-Cut-Technik gewöhnt haben, die mit der Nouvelle Vague 1959 aufkam und sich anschließend auch auf der Bühne, in Fernsehproduktionen und vor allem in Werbeclips ausbreitete. Wenn Verdi den Jump-Cut vorwegnahm, so war das eher Ausdruck seiner Ungeduld als einer prophetischen Gabe. Damit seine Opern auf der Bühne funktionierten, forderte er immer wieder noch weniger Worte und noch schnellere Handlungsabläufe. Er pries den «größten Mut», aus dem heraus Gutes um des Tempos willen zusammengeschnitten wurde (C, S. 31), und wiederholte den Voltaire zugeschriebenen Ausspruch: «Mir sind alle Genres recht, solange sie nicht langweilen.» Verdis Opern sind garantiert nicht langweilig.
Wenn für Verdi, wie Berlin behauptet, der Schiller’sche Satz gilt: «er ist das Werk, und das Werk ist er«, könnte man erwarten, das Leben des Komponisten zeige dieselbe klare, unmittelbare Wahrheit wie seine Opern. Seit jedoch Forscher immer mehr Details aus Verdis Karriere ans Licht bringen, wird deutlich, dass er oft weniger als die reine Wahrheit gesagt hat. Biographen müssen entscheiden, wie sie damit umgehen.
Er wurde nicht einmal in dem Haus geboren, das zu seinen Lebzeiten als sein Geburtshaus galt, und auch nicht in dem Jahr, in dem er – nach eigenem Bekunden – von der er die meiste Zeit seines Lebens annahm, dort geboren zu sein. Er muss aber etwas von seinem wahren Geburtshaus gewusst haben (seine Eltern lebten dort, bis er dreizehn war). Und ist es, da er so oft zwischen despotischen Kleinststaaten hin und her wechselte, die bei jedem Schritt die Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde forderten, tatsächlich vorstellbar, dass er nicht wusste, welches Jahr in diesen Dokumenten durchaus korrekt als sein Geburtsjahr angegeben war? Die bekannteste Fehlleistung dieser Art ist Verdis Darstellung des Todes seiner ersten Frau und ihrer beiden Kinder. Zwei Biographen erzählte er 1869 und dann nochmals 1881, alle drei seien 1840 innerhalb von drei Monaten verstorben. In Wirklichkeit waren die Kinder 1838 und 1839 gestorben, und seine Frau war ihnen 1840 gefolgt. Dieser erschütternde Todeszug hatte fast zwei Jahre gedauert.
Anlass zum Zweifel gibt auch Verdis Darstellung der Entstehung des Librettos für seine Pariser Oper Les Vêpres siciliennes (1855). Der Librettist Eugène Scribe hatte es ursprünglich...