2. Große Tsunamis und ihre Folgen
Mehrere tausend Tsunamis sind auf der historischen Datenbank des National Geophysical Data Center verzeichnet. Sie ereigneten sich in den letzten 4000 Jahren an fast allen Küsten der Welt. Hinzu kommen Tsunamis, die vor vielen Tausenden oder gar Hunderttausenden von Jahren ausgelöst wurden und heute nur noch durch geologische Spuren nachzuweisen sind. Einige herausragende Ereignisse, die Menschen von der Steinzeit bis zur Gegenwart betrafen, die das Ende von Kulturen einläuteten, die Weltsicht und das Denken der Menschen veränderten oder sich als Meilensteine in der Beobachtung und Erforschung von Tsunamis erwiesen, werden hier skizziert.
Die Storegga-Rutschung vor rund 8000 Jahren
Der früheste genauer rekonstruierbare Tsunami der Weltgeschichte wurde von der sogenannten Storegga-Rutschung ausgelöst, die sich in drei Schüben vollzog. Die letzten beiden Schübe ereigneten sich gleichzeitig oder zeitlich relativ nah beieinander vor rund 8000 Jahren, also in der mittleren Steinzeit. Sie erzeugten einen gewaltigen Tsunami, der fast sämtliche Anrainerstaaten der heutigen Nordsee betraf und möglicherweise die letzte Landverbindung zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland kappte.
Storegga ist norwegisch und bedeutet «große Kante»: Der Name bezeichnet den Kontinentalabhang im Europäischen Nordmeer rund 100 Kilometer westlich vor der mittelnorwegischen Küste. Die Storegga-Rutschung gehört zu den größten bekannten Hangrutschungen überhaupt. Über 290 Kilometer entlang des Kontinentalschelfs gerieten hier in 150 bis 400 Metern Wassertiefe Sedimente, Geröll und Steinblöcke ins Rutschen: Rund 5600 Kubikkilometer Material bewegten sich über 800 Kilometer hin Richtung Nordwesten, hinab in das Norwegische Becken, eine Ebene in 2800 bis 3000 Metern Tiefe. Die betroffene Fläche entspricht ungefähr der Größe Islands: 34.000 Quadratkilometer Meeresboden waren von der gewaltigen Rutschung betroffen.
Geologische Untersuchungen lassen vermuten, dass der erste und größte Schub (man errechnete 3880 Kubikkilometer Sedimente und Gestein) sich vor 30.000 bis 50.000 Jahren ereignete. Der zweite und der dritte Schub vor etwa 8000 Jahren trafen die Menschen in den Küstenregionen: Rund 450 Quadratkilometer des Kontinentalhangs brachen ab, 1770 Kubikkilometer Sedimente rutschten über eine Strecke von rund 200 Kilometern in die Tiefe. Diese Schübe lösten einen Tsunami aus, der sich über weite Teile der Nordsee und der Norwegischen See ausbreitete und nachweislich auch die grönländische Ostküste erreichte. Geologische Ablagerungen in Schottland, England, auf den Färöer- und auf den Shetland-Inseln, in Grönland und an der norwegischen Küste bis nördlich des Polarkreises lassen eine Rekonstruktion der Auflaufhöhen zu: In unmittelbarer Nähe der Storegga-Kante erreichte der Tsunami an der norwegischen Küste einen run-up von 10 bis 12 Metern, weiter nördlich waren es «nur» 6 bis 7 Meter. Am schlimmsten traf es die Färöer- und Shetland-Inseln: Hier sind Höhen von über 20 Metern nachweisbar. Katastrophale Schäden entstanden zudem an der West- und Nordküste Jütlands, also Dänemarks. Auch die landwärtige Überflutung ging ungewöhnlich weit: In der Region um den schottischen Firth of Forth, einem damals seichten Mündungsgebiet, lassen sich Spuren des Tsunamis über 80 Kilometer ins Land hinein nachweisen. Große Felsblöcke und spezifische Ausformungen an den Küsten und Landzungen Norwegens, Schottlands und Islands zeugen bis heute von der Gewalt des Tsunamis.
Ob Belgien, die Niederlande und Norddeutschland betroffen waren, bleibt fraglich. Denn hier war ein Land im Wege, das es heute nicht mehr gibt: Doggerland. Im späten 20. Jahrhundert ließen industrielle Vermessungen des Meeresbodens die wissenschaftliche Rekonstruktion eines etwa 23.000 Quadratkilometer großen Landgebiets zu, das einst Großbritannien mit der nordwesteuropäischen Küste verband. Doggerland war eine sanft hügelige und fruchtbare Region, die den mittelsteinzeitlichen Jägern und Sammlern mit einem weitverzweigten Netz an Flüssen und zahlreichen Seen und Wasserverbindungen sowie einem großen Südwasserbinnenmeer reiche Nahrung bot. Doch Doggerland war dem Untergang geweiht: Durch die Klimaveränderung versank das fruchtbare Land allmählich im Meer. Der Storegga-Tsunami dürfte den Prozess beschleunigt haben; möglicherweise hat er auch zur endgültigen Abtrennung der höher liegenden Festlandbereiche vom Kontinent geführt.
Die Auflaufhöhe des Tsunamis war bei dieser niedrigen, sanft gewellten Landschaft weniger entscheidend als die Frage, wie weit und mit welcher Macht die Fluten in das Land eindrangen. Besonders der Rückfluss des Tsunamis, bei dem starke Strömungen und Wirbel entstanden, dürfte für das Land mit seiner niedrigen, taiga-ähnlichen Vegetation verheerend gewesen sein. Zweifellos wurden zahlreiche Siedlungen, die Infrastruktur für den Fischfang, Grabstätten und religiöse Kultstätten zerstört. Besonders fatal war der Verlust der Wintervorräte: Die Analyse der Tsunami-Ablagerungen in Norwegen lässt vermuten, dass sich die Rutschung und der Tsunami im Spätherbst ereigneten. Wer die Katastrophe überlebte, war einer tödlichen Hungersnot ausgesetzt.
Nach der Besiedlungsstatistik der mittleren Steinzeit ist davon auszugehen, dass allein in Doggerland zwischen 700 und 3000 Menschen betroffen waren; die meisten starben vermutlich sofort in den Fluten. Insgesamt müssen in den Küstenregionen Tausende von Menschen ums Leben gekommen sein.
Die Gewalt des Tsunamis lässt sich an der norwegischen Westküste rekonstruieren. Hier muss das Wasser vor dem Eintreffen der ersten Tsunamiwelle stark zurückgegangen sein; eine Modellierung lässt einen Fall des Wasserspiegels um 20 Meter vermuten. Der Tsunami kam in mehreren gewaltigen Wellen, und er breitete sich weithin aus. Allein an der Ostküste Schottlands war ein Landstrich von mehr als 600 Kilometern betroffen.
Auslöser der Rutschung und somit des Tsunamis war vermutlich eine Kombination mehrerer Faktoren: ein Erdbeben, verbunden mit Sedimentladung und Destabilisierung des Hangs, dazu möglicherweise eine Zersetzung von Gashydraten im Untergrund, die zu einer Verflüssigung von Sedimenten führte und damit die Rutschung in Gang setzte. Da Methanhydrate nur unter bestimmten Druck- und Temperaturbedingungen stabil sind, könnte die Änderung des Meeresspiegels oder aber eine Erwärmung – durchaus auch in Verbindung mit seismischer Aktivität – zu einer Destabilisierung der Hydrate geführt haben. Als der Hang erst einmal ins Rutschen geriet, kam es zu einer gewaltigen Kettenreaktion.
Die Gefahr ist freilich nicht gebannt. Immer wieder kam es zu kleineren und größeren Rutschungen entlang der norwegischen Küste, und auch nahe der britischen Küste gab es in den vergangenen 2000 Jahren starke Erdbeben. Kommen mehrere Faktoren zusammen, vor allem eine gefährliche Mischung der Sedimente auf dem Kontinentalhang, so kann sich eine neuerliche Rutschung ereignen, mit einem Tsunami, der sämtliche Anrainerstaaten der Nordsee und des Europäischen Nordmeers treffen könnte. Frank Schätzing hat ein solches Szenario in seinem Bestseller Der Schwarm inszeniert; die rächende Natur hilft hier in Form von hydratzersetzenden Bakterien etwas nach. Doch auch ohne Thriller-Stories bleibt zu fragen, wie weit die Offshore-Öl- und -Gasförderung Einfluss auf die Stabilität von Gashydraten und damit zuletzt auf die Hänge unter Wasser hat. Die Probleme, die für die Natur durch die unterseeische Gewinnung von Rohstoffen entstehen, sind bislang nur ansatzweise erforscht; welche langfristigen Auswirkungen die Öl- und Gasförderung auf die Meeresfauna, aber auch auf die Stabilität von unterseeischen Hängen haben wird, ist ungewiss. Ein «menschengemachter» Tsunami, wie er – mit anderen Bedingungen und Dimensionen – 1979 am Flughafen von Nizza ausgelöst wurde (siehe S. 27), ist ein durchaus denkbares Szenario.
Der Santorin-Ausbruch um 1620 v. Chr.
Akrotiri ist eine Geisterstadt. Treppenaufgänge, die Stufen in der Mitte von einem heftigen Erdbeben durchbrochen. Tontöpfe, Krüge, gestapelte Bettgestelle, zum Aufbruch bereit. An den Wänden der Häuser bunte Fresken, die vom Leben der Menschen erzählen, von den Tieren und Pflanzen der Umgebung, von Städten und Dörfern, Handwerkern und Hirten, von Handel, Seefahrt und Krieg. Doch die Menschen von Akrotiri sind verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben. Kein Skelett, kein Fußabdruck ist zu finden.
Sie sind alle geflohen: geflohen, als die Erde bebte und der Vulkan Feuer zu speien begann. Als Asche und Stein auf die Häuser und Straßen regneten, große Brocken niedergingen – als das Leben auf der ägäischen Insel Santorini unerträglich wurde. In der späten Bronzezeit, vor rund 3600 Jahren, kam es zur Katastrophe. Geologen haben mittlerweile festgestellt, dass sich der Santorin-Vulkanausbruch ungefähr um 1620 v. Chr. ereignete und zu den...