III. Der Aufstand der Niederlande
Das 16. Jahrhundert gilt als „langes“ Jahrhundert in der europäischen und in der niederländischen Geschichte. Viele Entwicklungen, die im 16. Jahrhundert ihren Durchbruch erleben sollten, setzten bereits im späten 15. Jahrhundert ein. Hierzu gehörten der wirtschaftliche Aufschwung Antwerpens zum führenden Handelszentrum ebenso wie die Geistesbewegung des Humanismus und die Zentralisierungsbemühungen der Herrscher. Hinzu kamen typische Phänomene des 16. Jahrhunderts wie die Reformation und die Auseinandersetzungen zwischen Zentralstaat und Provinzen, an deren Ende in den Niederlanden – einzigartig in Europa – eine Republik entstand.
1. Die Grundlagen der wirtschaftlichen Expansion
Die europäische Wirtschaftsgeschichte des 16. Jahrhunderts wurde maßgeblich durch die europäische Expansion nach Übersee bestimmt. Diese war geprägt von der allmählichen Verlagerung des ökonomischen Schwerpunkts vom Mittelmeer an den Atlantik. Über Lissabon gelangten die Waren aus Übersee nach Antwerpen, welches zu einem Zentrum des Welthandels avancierte. Der Aufstieg Antwerpens 1495–1525 basierte wie oben beschrieben auf dem Handel mit portugiesischen Gewürzen, oberdeutschen Metallen und englischem Tuch. Als in der Folgezeit durch das Scheitern des portugiesischen Gewürzmonopols dieser Handel an Gewicht verlor, verlagerte Antwerpen den Schwerpunkt seines Handels nach Spanien, Italien, Frankreich und England. Außerdem verhalf der Export niederländischer Gewerbeerzeugnisse bzw. der Re-Export englischer Textilien Antwerpen zu einem erneuten Aufschwung (1540–1565). Erst als Antwerpen während des Aufstandes und durch die spanische Belagerung wirtschaftlich immer mehr zurückfiel, profitierten davon mehrere andere europäische Hafenstädte, wobei Amsterdam den größten Teil des Antwerpener Handels erbte. Dort bildeten allerdings die Waren des Ostseeraums (Getreide, Holz, Flachs, Hanf) und des Atlantiks (Fisch, Salz) das Rückgrat des Handels.
Wesentlich für die weitere europäische Wirtschaftsentwicklung waren auch die Antwerpener Innovationen auf dem Gebiet des Kreditwesens wie die Börse und der Handel mit Kreditpapieren (Wechsel, Inhaberschuldscheine) mittels Indossament und Diskontierung. Jedoch stellten Handel und Finanz nicht die einzige Säule der niederländischen Wirtschaft dar, die ebenfalls auf Landwirtschaft und Gewerbe basierte. In den Agrarregionen des Südens trugen intensivere Produktionsmethoden (Fruchtwechsel) und eine höhere Beschäftigung in den ländlichen Gewerben (Spinnen und Weben) zum Unterhalt einer wachsenden Bevölkerung bei. Im Norden, insbesondere in den Küstenregionen, boten Eindeichung und Landgewinnung eine Basis für die landwirtschaftliche Spezialisierung auf Milchwirtschaft und Gartenbau. Auch die gewerbliche Entwicklung war vielfältig: Neben dem Auf- und Ausbau einer Luxusgüterfertigung (Seide, Glas, Kristall, Spiegel, Majolica, Tapisserie etc.) nach italienischem Vorbild in Antwerpen finden wir Metallverarbeitung (insbesondere Waffenindustrie) in den wallonischen Städten, während sich Flandern und Limburg auf die Massenproduktion von leichten Tuch- und Leinentextilien konzentrierten. Die holländische Tuchproduktion büßte dagegen ihre Bedeutung für den Export im 16. Jahrhundert ein, so daß hier die Bierbrauerei neben dem Schiffbau zum wichtigsten Gewerbe wurde.
Intensivierung und Innovation in der Landwirtschaft, Spezialisierung in den städtischen Gewerben, eine hohe Beschäftigung in den ländlichen Gewerben und der Ausbau der Dienstleistungssektoren Schiffahrt und Handel ermöglichten den Wohlstand einer wachsenden Bevölkerung. Während überall in Europa die arbeitende Bevölkerung angesichts steigender Preise unter einem Reallohnverfall litt, blieben die Einkommen der Niederländer stabil, vielfach abhängig von Beruf, Region oder der Stadt wuchsen sie sogar. Bevölkerung und Grad der Urbanisierung nahmen weiter zu, so daß 1565 in manchen Provinzen (z.B. Brabant und Holland) fast die Hälfte der Bevölkerung in Städten lebte (Tab. 2).
Tabelle 2: Die Bevölkerung der großen niederländischen Städte, 1400–1560
Trotz ihres starken Wachstums konnten es die größten holländischen Städte Utrecht, Leiden, Amsterdam und Dordrecht noch immer nicht mit den flämischen und Brabanter Großstädten (Antwerpen, Brüssel, Gent, Brügge, Mechelen) aufnehmen, aber um 1560 war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Amsterdam mit dem florierenden Ostseehandel im Rücken Brügge und Mechelen eingeholt haben würde.
2. Humanismus und Reformation
Die religiösen Reformbewegungen, wie der christliche Humanismus, gingen in ihren Anfängen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Als Vorläufer in den Niederlanden kann die Bewegung der Devotio moderna angesehen werden. Diese Laienbewegung versuchte, durch Seelsorgetätigkeit, geistliche Lieder und volkstümliche Predigten auch einfache Bevölkerungskreise zu erreichen. Laien orientierten sich an mönchischen Idealen, denen sie in Bruderhäusern der „Brüder vom gemeinsamen Leben“ nachlebten. Der Schwerpunkt der Tätigkeit lag inhaltlich auf der Verbreitung von Büchern, Schulen und Lehrern und geographisch in den Ijsselstädten Kampen, Deventer und Zwolle.
Im Zentrum der Bemühungen stand die Entwicklung des einzelnen christlichen Individuums in einer „neuen Innerlichkeit“ hin zu Gott, womit man an die mittelalterliche Mystik anknüpfte. Auch wenn die Devotio moderna anders als der Humanismus und später die Reformation die herrschende theologische Lehre und die praktizierte religiöse Kultur nicht in Frage stellte, beeinflußte sie doch die Verbreitung des sogenannten christlichen oder biblischen Humanismus in den Niederlanden nachhaltig. Dieser entstand als Symbiose der italienischen wissenschaftlichen humanistischen Methoden und der christlichen spirituellen Ideale, wie sie die Devotio moderna propagierte.
Der christliche Humanismus entsproß der Saat, die die Devotio-Bewegung mit ihren Lateinschulen insbesondere in den Ijsselstädten gelegt hatte, und verbreitete sich schnell vom äußersten Nordosten der Niederlande über Holland nach Brabant und Flandern. Der herausragende Vertreter dieses christlichen Humanismus war Erasmus von Rotterdam (1469–1536). Erasmus ging es in seinen Bemühungen um eine Regeneration der Moral und der Frömmigkeit der Christen (Enchiridion milites christiani, 1503) sowie um eine Reform der Institution Kirche (Encomium moriae, 1510). Diesen aktuellen Reformbedürfnissen diente die Vielzahl seiner Schriften zur Erschließung der Kirchenväter und der Heiligen Schrift. Erasmus schuf dadurch wesentliche philologische Voraussetzungen für die lutherische Reformation, ohne aber diese in der von ihm gewollten Richtung beeinflussen zu können. Trotz seines Festhaltens an der Papstkirche lasteten die Anhänger der alten Kirche vor allem Erasmus die Reformation an. Dieser habe das Ei gelegt, welches Luther ausgebrütet habe, war ein geflügeltes Wort. 1521 war Erasmus dem politischen und publizistischen Druck der altgläubigen Seite nicht mehr gewachsen; er verließ die Niederlande (Leuven) und zog sich nach Basel zurück. Dennoch wurde er auch jetzt kein Anhänger Luthers, obgleich er ihn gegen dogmatische Kritik in Schutz nahm.
In der Folgezeit entfremdeten sich Erasmus und Luther zunehmend. Zentraler Streitpunkt war die Frage nach dem freien Willen des Menschen. Während Erasmus (De libero arbitrio, 1524) wie die Humanisten allgemein ein positives, optimistisches Menschenbild und den freien Willen, dem christlichen Vorbild nachzueifern, postulierte, setzte Luther (De servo arbitrio, 1525) den der Sünde verhafteten unfreien Menschen dagegen, der allein durch die Gnade Gottes gerettet werden könne. Trotzdem waren es die Gedanken Luthers, die in den 1520er Jahren auch in den Niederlanden weite Verbreitung fanden. Luthers Schriften wurden von Emden, den Hansestädten, aber auch von Antwerpen aus unter das lesende Volk gebracht. 1525 berichtete Erasmus, daß die Mehrheit der Holländer, Seeländer und Flamen mit den lutherischen Lehren vertraut sei. Die habsburgischen Behörden versuchten, der sich ausbreitenden reformatorischen Bewegung durch Bücherverbrennungen sowie durch die Einführung der Inquisition Herr zu werden. Erste Opfer waren die Mönche des Antwerpener Augustinerklosters Hendrik Voes und Johannes van Esschen, die 1523 auf dem Marktplatz in Brüssel verbrannt und damit zu den ersten protestantischen Märtyrern wurden. Die kaiserliche Repressionspolitik verhinderte, daß sich protestantische Gemeinde- oder gar feste Organisationsstrukturen in den Niederlanden herausbilden konnten. Während sich in Deutschland im Zuge der einsetzenden Konfessionalisierung die lutherischen Fronten gegenüber Altgläubigen und Zwinglianern verhärteten, blieb der Protestantismus in den Niederlanden eine Untergrundreligion, die vielen Einflüssen unterworfen war.
Die nächste reformatorische Welle, die in den 1530er Jahren über die Niederlande hereinbrach, war das Täufertum. Ausgangspunkt der Verbreitung war...