I.
„Der eigentliche Congreß ist zwar noch nicht im Gange…“
Alles war Leben, alles Fröhlichkeit, heiterer Mut
und selige Hoffnung einer besseren Zukunft.
Caroline Pichler1
Fasanenjagd im Prater, Karoussel2 in der Winterreitschule, festliche Redouten in der Hofburg – der Wiener Kongress, der eine grundlegende Neuordnung Europas brachte, war auch ein Ort allerhöchsten Amüsements. Fast scheint es so, als wollte man damit die entbehrungsreichen wie turbulenten Kriegsjahre unter Napoleons Joch mit allen Mitteln vergessen machen. Denn nie zuvor stand die Residenzstadt Wien derart in der internationalen Auslage. Noch nie war sie mit einem solchen Ansturm von Gästen aus aller Welt konfrontiert gewesen. Diese fremden Gäste, die sich während der Zeit des Wiener Kongresses vom 18. September 1814 bis 11. Juni 1815 in Wien aufhielten, wollten eben nicht nur standesgemäß untergebracht, sondern auch unterhalten werden. Offiziell wurde der Kongress zwar erst am 1. November 1814 mit der Deklaration über die Prüfung der vorgelegten Vollmachten eröffnet, doch schon zwei Monate zuvor waren die wichtigsten Delegierten bereits nach Wien unterwegs. Der junge k. k. Rechnungsbeamte Matthias Franz Perth aus Wien, der mit seinen als Wiener Kongresstagebuch 1814/15 zusammengefassten Tagebuchnotizen eine der wichtigsten historischen Quellen zu diesem Ereignis liefern sollte, notierte zum Montag, den 19. September 1814 die Ankunft einiger Hauptakteure des bevorstehenden Friedenskongresses, darunter bedeutende Personen wie der russ. Kais. Rath und Minister der Auswärthigen Angelegenheiten Graf von Nesselrode; der großbrittanische erste Staatssekretär und Minister der Auswärthigen Angelegenheiten, Lord Castlereagh; der Herzog von Sachsen-Weimar; der Fürst von Salm-Kyburg; der preuss. Staatsminister, Fürst von Hardenberg (…).3 Der Sekretär des Wiener Kongresses, Friedrich von Gentz, bestätigt dies in einem Brief: Wien, 22. September 1814. Der eigentliche Congreß ist zwar noch nicht im Gange, aber seit dem 16. finden täglich Conferenzen zwischen den vier Hauptministern statt, denen bisher niemand als Humboldt beigewohnt hat. – Talleyrand wird morgen, der Kaiser von Rußland und der König von Preußen Sonntag erwartet. – Die Schaar angesehener Fremden ist unglaublich groß; wer nur die wichtigsten kultiviren will, kommt kaum mehr zu sich selbst.4
Die Ankunft der Gäste – rund 700 Gesandte und weitere 100.000 Freunde – gestaltete sich nicht nur diskret: Erwartete man gekrönte Häupter in Wien, dann wurde auch das stets gefräßige Auge des Volkes bedient und dem Empfang volksfesthafter Charakter zuteil. Deutlich zeigen dies die Vorbereitungen für die Ankunft des russischen Zaren in der Stadt, die einen Tag später (Dienstag, 20. September 18145) erwartet und auch von Perth der Erwähnung wert gefunden wurden: Heute wurde eine große Anzahl Kanonen rings um die Wälle aufgeführt, die zu den bevorstehenden Feyerlichkeiten bestimmt sind. Eben so ist auch die Straße von Wien bis Brünn mit Artillerie besetzt, welche den Kaiser von Russland bis in unsere Hauptstadt mit dem Kanonendonner begleiten wird. Die meisten Häuser in Wien, besonders in der Stadt und in der Jägerzeile werden renoviert, und so gewinnt die Residenz beynahe ein verjüngtes Aussehen. Im Augarten liefen zur gleichen Zeit die Vorbereitungen zu einem großen Volksfest, das während der Anwesenheit der fremden Monarchen unter dem Titel: Das Friedensfest der österreichischen Veteranen stattfinden sollte. Zwischen Prater und Jägerzeile wurden deswegen alle Pflöcke und Schranken an der Strasse ausgehoben, um den paradierenden Truppen beim Einzug des russischen Kaisers Alexander nicht im Wege zu sein.
Mit diesem Fest schien gleichsam auch die alte Ordnung wiederhergestellt. Der Regent wurde hiermit wieder als Souverän und Volksheld feierlich inthronisiert und Napoleon, der dem Heiligen Römischen Reich den Todesstoß versetzte, der Nimbus des unbesiegbaren Helden genommen. Napoleon hatte ja selbst imperiale Reichssymbole wie den Thron in Frage gestellt. Über Jahrhunderte haben Herrscher ihren Thron immer als identisch mit ihrer Person angesehen, da alle Machtsprüche, alle erhabenen Handlungen auf Volk und Reich immer nur vom Throne herab verkündet wurden. Napoleon hat nicht einmal die Identität des Thrones mit dem Herrscher anerkennen wollen, indem er erklärte: (…) daß der Thron nur ein Ding von Holz sey, nur derjenige, der ihn einnehme, sey das höchste Wesen im Staate, der Repräsentant des Volks, der alle Lasten auf sich nehmen und für Alle sorgen müsse, nicht der Thron, der leer gelassen, oder durch einen nicht fähigen Regenten besetzt, gar keine Wirkung thue, und alle Wirkungen, die geschehen, außer sich lasse.6
Solche Zweifel an der alten Ordnung hatten keinen Platz in Metternichs Weltbild. Und mussten daher rasch und ein für allemal vergessen gemacht werden. In seinem Innersten dürfte aber auch er bereits geahnt haben, dass dieses konservative Europa zwar die Revolution auf den Schlachtfeldern besiegt hatte, aber ihre geistige Ausstrahlung nicht beseitigen konnte.7 So sollten alle, die mit derartigen revolutionären Ambitionen liebäugelten, wenigstens betäubt und ihre Stimme im Rausch der Feste ungehört bleiben – entsprechend der sprichwörtlichen Devise: Besser ein Schritt zu zweit als ein Schritt zu weit. Was eignete sich daher als Auftakt besser als ein repräsentatives (Volks-)Fest, in dem die Würde des Amtes und der Herrschaftsanspruch des Monarchen sinnfällig vor Augen geführt wurden…
Mit viel Geschmack und wenig Geist
Dieser pompöse Auftakt konnte jedoch nicht über die unübersehbaren Startschwierigkeiten in den ersten Wochen des Kongresses hinwegtäuschen. Die Veranstaltung wurde zusehends von der Vergnügungssucht der hohen Gäste überwuchert. Der stets auf Reisen befindliche Charles Joseph Fürst de Ligne (1735–1814), der nach eigener Schätzung ein Drittel seiner Existenz im Wagen verbracht hatte, als blendender Russlandkenner galt und erst unter Kaiser Franz I. 1808 zum Feldmarschall aufrückte, prägte jenes unauslöschliche Bonmot, das dem Wiener Kongress rückwirkend den Beigeschmack eines oberflächlichen Diplomatentreffens verlieh und vor allem gegen den russischen und glühenden Walzertänzer, Alexander I. von Russland, gerichtet war8: (…) der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts. Es sickert auch nichts durch als der Schweiß dieser tanzenden Herren. Für manche kündigte sich daher schon zu Beginn ein Scheitern auf hohem und zugleich geschmackvollem Niveau an, was den Fürsten de Ligne vielleicht auch zu einem weniger bekannten Ausspruch veranlasst haben könnte: Mit viel Geschmack und wenig Geist kann man immer noch Erfolg haben, niemals aber mit viel Geist und wenig Geschmack.9 Fürst Charles de Ligne, der sich, einer alten Familientradition und adeligem Selbstverständnis folgend, für eine militärische Laufbahn entschied, trat 1752 noch unter Maria Theresia in den Dienst der kaiserlichen Armee, in der er an den unterschiedlichsten Kriegsfronten – vom Siebenjährigen Krieg über den Bayerischen Erbfolgekrieg bis zum Türkenkrieg von 1788 bis 1790 – für Österreich kämpfte, um schließlich in den Napoleonischen Kriegen hochbetagt als militärischer Berater zu agieren. Kaiser Franz I. ernannte ihn sogar noch 1808 zum Feldmarschall, ohne ihm aber erneut ein Kommando zu übertragen. Seine charmant-nüchterne Analyse der Ursachen für den schleppenden Verlauf des Wiener Kongresses ist Ausdruck seiner moralischen Integrität wie auch seines angeborenen Stolzes, die ihn zur Extravaganz prädestinierten. Das Schicksal dürfte ihn zudem gelehrt haben, sich nicht nur an Materielles zu klammern, zumal er nach der Französischen Revolution um Besitz und Vermögen in Belgien gebracht wurde und sich nach Wien zurückzog, wo er die letzten 20 Jahre seines Lebens verbrachte und sich ganz der Schriftstellerei widmete.
Der Prinz von Ligne bezauberte
In Wien konnte Fürst Charles de Ligne bereits das Gewicht seiner Autorität in die Waagschale legen, denn hier war er eine von allen geschätzte Instanz und musste nicht mehr undercover recherchieren, wie etwa in Lüttich, wo er sich für einen Prälaten ausgab, um den Lebenswandel des Fürstbischofs zu prüfen. Sein ungetrübtes Selbstbewusstsein sollte ihm in der Residenzstadt sogar eine Festnahme einbringen, weil man ihn im kaiserlichen Vorzimmer antraf, wie er seelenruhig seine Korrespondenz erledigte.10 Die Zeitgenossen hingegen stellten beim Wiener Kongress ihre Vergleiche zwischen ihm und Talleyrand an: Herr von Talleyrand war geboren, die Menschen durch die Kraft seines stets scharfen, lichtvollen Verstandes hinzureißen, der Prinz von Ligne bezauberte, blendete durch die sprudelnde Grazie seiner unerschöpflichen Einbildungskraft: Dieser übertrug in die verschiedenen Zweige der Literatur die Feinheit, Anmut und den Glanz eines Hofmannes, jener beherrschte die wichtigsten Angelegenheiten mit der ruhigen Leichtigkeit eines vornehmen Mannes (…).11
Ein Diplomat der „ja“ sagt, meint „vielleicht“
In Anbetracht dieses lähmenden Beginns wurde daher der preußische Außenminister Wilhelm von Humboldt gefragt, wann er glaube, dass dieser Wiener Kongress zu Ende gehen werde. „Sagen Sie mir lieber, wann er überhaupt beginnen wird!“ – so die entwaffnende...