II. Verfassungen in Antike und Mittelalter
Die Verfassung – das war für Aristoteles die Ordnung des Gemeinwesens. Aristoteles war sicherlich der erste große Verfassungstheoretiker und Verfassungsanalytiker, der die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen, wie sie im Griechenland seiner Zeit beobachtet werden konnten, miteinander verglich und aus diesem Vergleich heraus die relativ beste Verfassung zu begründen suchte. Vor Aristoteles und bis etwa 500 v. Chr. war es kaum denkbar, vergleichende Betrachtungen über Ordnungsmodelle anzustellen, weil die Ordnung des Gemeinwesens, der griechischen Polis, nicht in die Verfügbarkeit der Menschen gestellt war. Die Ordnung wurde als göttliche Ordnung gedacht, ihre Gestaltung war der Verfügung der Menschen entzogen. Erst bei Solon und seinen Reformen bricht sich langsam eine Vorstellung Bahn, die davon ausgeht, daß eine Ordnung auf die Beteiligung breiter Bürgerschichten gegründet werden kann. Aber auch bei Solon ist es eine Gottheit, die Eunomie, die die Richtigkeit und Erreichbarkeit des vorgegebenen Telos der Ordnung garantiert. Die Ordnung war also heteronom bestimmt, vorgegeben, und die Menschen waren aufgerufen, sie zu verwirklichen. Erst seit etwa 500 v. Chr., nicht zuletzt durch die Kleisthenischen Reformen (508/7), wird die wohlgeordnete Polis nicht mehr rein transzendental verankert gedacht, sondern dem Einfluß der Aktivbürgerschaft geöffnet. Damit war dann auch die Frage nach der besten Ordnung, der besten Verfassung möglich geworden.
Wenn Aristoteles in seiner Politik von der Verfassung als der Ordnung des Staates spricht, so verwendet er den Verfassungsbegriff in mehreren Hinsichten. Unter der Verfassung im engeren Sinne wird die Ämterordnung verstanden. Hier wird festgelegt, wer Zugang zu den Ämtern hat und wer an den Entscheidungen beteiligt ist. Die Ämterordnung befindet über Führung und Lenkung im Staate. Verfassung bedeutet darüber hinaus auch, in einem normativen Sinne, die gute und gerechte Ordnung, die der Natur und dem Zweck der Polis als der Gemeinschaft der Bürger angemessen ist. Wenn hier von Normativität der aristotelischen Verfassungsvorstellung die Rede ist, dann bedeutet dies nicht, daß diese Normativität positivrechtlich durch den Vorrang einer geschriebenen Verfassung begründet ist. Eine solche Verfassung im modernen Sinne kennt die Antike nicht. Für Aristoteles kommt es darauf an, daß das Gemeinwesen, welches den höchsten Rang in der Hierarchie menschlicher Gemeinschaftsformen darstellt, in seiner Existenz gesichert und deshalb wohlgeordnet ist. Wohlgeordnet ist das Gemeinwesen dann, wenn es dem Bürger erlaubt, ein gutes, am Telos der Glückseligkeit orientiertes Leben zu führen. Aristoteles besitzt also einen Maßstab für die Beurteilung der Ordnung eines Gemeinwesens. An diesem Maßstab muß sich auch die konkrete Verfassung messen lassen.
Deshalb nimmt es nicht wunder, wenn sich Aristoteles, genauso wie sein Lehrer Piaton, eine ideale Verfassung vorstellen kann, doch ist er, anders als Piaton, der Sparta für das Vorbild hält, nicht davon überzeugt, daß eine solche ideale Verfassung von Dauer sein kann. Eine ideale Verfassung wäre für Aristoteles eine solche, die auf die Tugend der Herrschenden und der Beherrschten ausgerichtet ist. Da aber Aristoteles aus der Erfahrung der attischen Geschichte um die Fragwürdigkeit einer solchen Annahme weiß, will er die Ordnung des Gemeinwesens nicht alleine auf Tugend gründen. Piaton glaubte, so wie er in seiner Politeia die ideale Verfassung zeichnete, die Tugend durch eine strikt hierarchisch gegliederte politische Ordnung und ein repressives Erziehungssystem erzwingen zu können. Aristoteles rückt davon ab und bescheidet sich mit der zweitbesten Lösung. Seine Schrift Politik ist als Versuch zu lesen, eine relativ beste Verfassung zu entwerfen, die den Mangel an Tugend bei Herrschern und Beherrschten in Rechnung stellt und deshalb eine institutionelle Lösung vorschlägt, die die Stärke der guten Staatsformen maximiert und die Schwächen der schlechten minimiert.
Welches ist nun sein relativ bestes Verfassungsmodell, das er aus den von ihm gesammelten und analysierten 158 unterschiedlichen Verfassungen, den Beschreibungen der politischen Ordnungen seiner Zeit, entwickelt? Die Antwort lautet: eine Mischverfassung. Aristoteles nahm Überlegungen auf, die in Athen während des Peloponnesischen Krieges aufgekommen waren und die davon ausgingen, daß eine stabile politische Ordnung nicht eine bestimmte Staatsform in Reinkultur sein müsse, sondern eine spezifische Mischform aus Demokratie und Oligarchie sein könne. Aristoteles hatte die ihm bekannten Staatsformen zu einem Sechser-Schema systematisiert, dessen Einteilungkriterien zum einen die Zahl der Herrschenden und zum anderen die Art der Herrschaft waren. Die Art der Herrschaft bestimmte die Qualität der Staats- und Verfassungsform. Die Qualität bemaß sich danach, ob die Herrschenden im Interesse des gesamten Gemeinwesens regierten, das waren die guten Verfassungsformen, oder ob die Herrschaft nur zum Nutzen der jeweilig Herrschenden ausgeübt wurde, das waren die schlechten Verfassungsformen. Gemäß des quantitativen Kriteriums, der Zahl der Herrschenden, ergab sich nun die gute Verfassungsform der Monarchie und die schlechte Verfassungsform der Tyrannis als Herrschaft des Einen. Die Herrschaft der Wenigen teilte sich in die gute Verfassungsform der Aristokratie und die schlechte der Oligarchie. Wo Viele oder gar Alle herrschten, konnte es sich entweder um die Demokratie, von Aristoteles als Pöbelherrschaft den schlechten Verfassungsformen zugeschrieben, oder um die Politie als gute Verfassungsform handeln.
Für Aristoteles war es nun wichtig, eine Verfassungsform zu finden, die die Stabilität des politischen Gemeinwesens auf Dauer stellt. Das Grundproblem der instabilen reinen Verfassungsformen bestand für Aristoteles nicht allein in der Zahl derjenigen, die die Herrschaft für sich beanspruchten, sondern in dem Problem der sozialen Schichtung der Bevölkerung, das mit den reinen Verfassungsformen nicht in befriedigender Weise gelöst werden konnte. Eine gute und stabile Ordnung des Gemeinwesens war nur zu erreichen, wenn die bestehenden sozialen Gegensätze zu einem institutionellen Ausgleich gebracht werden konnten. So war der entscheidende Unterschied zwischen Demokratie und Oligarchie darin zu sehen, daß sich in der Demokratie die Herrschaft der Armen und in der Oligarchie die Herrschaft der Reichen widerspiegelte. Wichtig war es nun, die Mischform zu finden, die die sozialen Ungleichgewichte in der Polis ausbalancierte, politisch neutralisierte und zugleich die mittleren Schichten, von denen sich Aristoteles einen stabilisierenden Einfluß versprach, stärkte. Für Aristoteles lag die relativ beste Verfassung in der Mischform von Demokratie und Oligarchie. Diese relativ beste Verfassung nannte er die Politie.
Bei der Politie handelte es sich um eine gemäßigte Demokratie, die Bürger dieser Polis besaßen gleiche Bürgerrechte, aber abgestufte Möglichkeiten der politischen Beteiligung an der Herrschaftsausübung. Aus der Verfassungsform der Oligarchie bezog die Demokratie ihre Mäßigung, weil nun, im Gegensatz zur in Athen lange Zeit praktizierten Versammlungsdemokratie, die Ämter wählbar gemacht wurden. Das oligarchische, besser: aristokratische Element nahm der reinen Form der Demokratie die gefährliche Spitze, die Aristoteles mit einer potentiell tyrannischen Herrschaft der Armen über die Reichen befürchtet hatte. In der Politie wird das demokratische Prinzip der Losung – jeder konnte jedes Amt bekleiden – mit dem aristokratischen Grundsatz der Wahl verknüpft. So schien Aristoteles eine Auswahl von tugendhaften, erfahrenen und fähigen Regierenden möglich zu werden. Aristoteles entwickelte damit aus den verschiedenen reinen Verfassungsformen ein Modell der Mäßigung von Herrschaft und sah hierbei Vorkehrungen institutioneller Art vor, nämlich der Bestellung von Amtsträgern, um auf diese Weise die gesamte politische Ordnung stabil zu halten. In Aristoteles’ Modell einer Mischverfassung finden wir also zwei Gedanken, die auch der moderne Konstitutionalismus aufgreift. Konstitutiv für ein politisches Gemeinwesen ist die Aktivbürgerschaft, dies ist der Gedanke der Demokratie. Herrschaft aber muß, wenn sie im Interesse des Gemeinwesens ausgeübt wird, beschränkt, gemäßigt sein. Das ist das Prinzip der Limitierung von Herrschaft, das sich dann vor allem der Liberalismus in den Verfassungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts zu eigen machte.
Aristoteles’ Analyse der Staats- und Verfassungsformen, sein Dreier- bzw. Sechser-Schema und sein Modell der Mischverfassung blieben nicht ohne Wirkung. Sie wurden vielfach, vor allem im Mittelalter und dann wieder in der frühen Neuzeit, rezipiert und fanden Eingang in die Begründungsdiskurse des modernen Konstitutionalismus. Daneben läßt sich ein zweiter Strang konstitutionellen Denkens in der Antike identifizieren, der ebenfalls eine Mischung von Verfassungstypen beinhaltet und zu einer Lösung des Stabilitätsproblems politischer Ordnung kommt, das dem des Aristoteles sehr verwandt ist, in einer Hinsicht jedoch eine Abwandlung vorsieht, die ebenfalls für den neuzeitlichen Konstitutionalismus folgenreich wurde. Dieser...