IV. Geschichte des Vegetarismus
| … belächelt, verspottet, bekämpft, toleriert, akzeptiert, übernommen … |
Über Millionen von Jahren ernährte sich die Menschheit überwiegend oder ausschließlich vegetarisch. Für diese Verhaltensweise war während der frühen Menschheitsgeschichte das damals vorhandene Nahrungsangebot bestimmend. Auch heute lebt ein großer Teil der Weltbevölkerung aufgrund ökonomischer Zwänge, aber auch religiöser Vorschriften, vegetarisch. Der Grundstein für eine vegetarische Lebensweise aus moralischen Erwägungen heraus wurde hingegen in der Antike gelegt, insbesondere im alten Griechenland.
1. Antike
Die ersten Impulse für eine fleischlose Ernährungsweise gingen im 6. Jahrhundert v. Chr. von der Orphik aus, einer Mysterien- und Erlösungsreligion um die mythische Gestalt des Orpheus – Dichter, Sänger und nicht zuletzt Religionsstifter. Die Orphiker stellten das Streben nach Askese, einer Enthaltsamkeit in allen Lebensbereichen und somit auch in der täglichen Kost, in den Mittelpunkt ihres Glaubens. Durch eine religiöse, sittliche Lebensweise und das Streben nach Reinheit sah diese religiös-ethische Bewegung die Möglichkeit der Befreiung der Seele. Ihre Anhänger mieden den Verzehr alles „Beseelten“. Neben dem Verbot des Fleischkonsums war es ihnen auch nicht gestattet, Eier zu essen oder Wolle zu tragen. Durch die völlige und andauernde Enthaltsamkeit verliehen die Orphiker dem griechischen Religionsverständnis neue Impulse, denn das Meiden des Verzehrs bestimmter Nahrungsmittel stellte im Vergleich mit den damals üblichen kultischen Speiseverboten etwas völlig Neuartiges dar.
Die Ablehnung von Fleisch wurde von Pythagoras (Philosoph und Mathematiker, Griechenland, 570–500 v. Chr.) aufgegriffen und weitergeführt. Auf seinen Reisen kam er als einer der ersten Europäer mit der asiatischen Welt, ihrem Gedankengut und ihren Religionen in Berührung. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wirkten in Asien Männer wie Siddharta Gautama, genannt Buddha (Religionsstifter, Indien 560–480 v. Chr.), Lao-tse (Philosoph, China, 6. Jahrhundert v. Chr.) und Kung-fu-tse, genannt Konfuzius (Philosoph, China, 551–479 v. Chr.), die wesentliche Fundamente für die östlichen Religions- und Glaubenssysteme legten. Das Meiden des Verzehrs von Fleisch und damit der Nichtverzehr von „beseelten“ Wesen, basierend auf dem Glauben an Seelenwanderung und Wiedergeburt (Reinkarnation), wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des Pythagoräismus, wie die vegetarische Lebensweise bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde.
Da Pythagoras selbst keine Schriften hinterlassen hat, wissen wir von seinen Lehren vor allem aus Aufzeichnungen Dritter. So berichtete etwa Ovid (Dichter, Italien, 43 v. bis 17 n. Chr.): „Dort war ein Mann. Aus Samos gebürtig. […] Der drang […] im Geist zu den Göttern; und was die Natur den menschlichen Blicken verbarg, er sah’s mit dem inneren Auge.“ Seine Erkenntnisse von Anfang und Wesen der Welt, von der Natur und von Gott trug er schließlich Schülern vor. Zuerst rügte er, so Ovid weiter, „daß Beseeltes aufgetischt werde als Mahl“.
Auch Plutarch (Philosoph, Griechenland, 46–120) äußerte sich zum Fleischverzehr: „Du fragst, was Pythagoras bewog, kein Fleisch zu essen. Ich aber frage Dich, was für einen Mut der Mensch gehabt haben muß, der zuerst ein blutiges Stück Fleisch in den Mund steckte von Tieren, die noch im Augenblicke vorher blökten, brüllten, liefen und sehen konnten. Wie konnte seine Hand einem empfindsamen Wesen ein Messer ins Herz stoßen, und wie konnten seine Augen einen Mord ertragen? […] Staunen muß man über diejenigen, die diese grausamen Mahlzeiten anfingen, nicht über diejenigen, die sich ihrer enthielten.“ Die logische und praktische Konsequenz dieser Einstellung zu Tieren war der Vegetarismus.
Auch gut 500 Jahre nach Pythagoras bekannten sich antike Denker zum Vegetarismus, beispielsweise Porphyrios (Philosoph, Griechenland, 233–304): „Tieren die Kehlen abzuschneiden, sich mit ihrem Mord zu besudeln und sie zu kochen, nicht etwa aus Not und um unser Leben zu erhalten, sondern aus Wollust und Genußsucht: das ist über alle Maßen schlecht und abscheulich.“
Dennoch darf nicht vergessen werden, daß auch bei den Menschen der Antike die freiwillig gewählte vegetarische Kost eher die Ausnahme war. Der Verzehr von Fleisch als mythischem Kraftspender vor dem Kampf oder blutige Tieropfer zur Besänftigung der Götter waren hingegen die Regel. Doch auch zu dieser Zeit wiesen Ärzte, allen voran Hippokrates (Arzt, Griechenland, 460–370 v. Chr.), bereits auf die negativen gesundheitlichen Folgen eines zu hohen Fleischkonsums hin. Hippokrates verordnete Fasten, Vollkornbrot, Obst und rohes Gemüse und steht somit heutigen Ernährungsempfehlungen erstaunlich nahe.
Während der vielen Jahrhunderte zwischen der Antike und dem Beginn der Industrialisierung sind nur wenige Denker, Philosophen und andere prominente Persönlichkeiten überliefert, die sich zu einer vegetarischen Lebensweise bekannten. Einer von ihnen war Leonardo da Vinci (Maler und Erfinder, Italien, 1452–1519).
2. Zeitalter der Industrialisierung
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand der Vegetarismus schließlich neue Impulse und erreichte in Europa und den USA erstmals eine breitere Öffentlichkeit. Mit der „Industriellen Revolution“, die ihren Ursprung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien hatte, begann für die Staaten Westeuropas und Nordamerikas ein dramatischer Veränderungsprozeß.
Als Gegenströmung zu den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen der Industrialisierung, die sowohl Körper als auch Psyche der Menschen in Mitleidenschaft zogen, entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert die Lebensreform-Bewegung. Die Vertreter dieser Bewegung stellten ein neues Verhältnis des Individuums zur Natur und zur Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. Ihren Ursprung hatten diese Überlegungen im Naturalismus, der mit der Devise Zurück zur Natur! beschrieben werden kann. Als geistiger Vater dieser Strömung gilt Jean-Jacques Rousseau (Philosoph, Frankreich, 1712–1778), der eine Erziehung zu einem einfachen, naturverbundenen Leben forderte, bereits frühe Kritik an der Schulmedizin übte und eine vegetarische Lebensweise propagierte.
Auf der Basis des Naturismus umfaßte die Lebensreform-Bewegung alle Lebensbereiche. Innerhalb der Lebensreform übernahmen vor allem Vertreter der Naturheilkunde eine Vorreiterrolle. Bereits im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gaben Christoph Wilhelm Hufeland (Arzt, Deutschland, 1762–1836), Samuel Hahnemann (Arzt, Deutschland, 1755–1843) oder Vinzenz Priessnitz (Landwirt und Naturheilkundiger, Deutschland, 1799–1851) erste Impulse für eine naturgemäße Lebens- und Heilweise.
Oftmals ergänzten sich Forderungen aus der Lebensreform und der Naturheilkunde gegenseitig. So empfahlen Vertreter der Naturheilkunde vegetarische Kost zur Unterstützung der natürlichen Therapiemethoden und sahen die fleischlose Ernährung als wesentlichen Bestandteil des Heilprozesses bzw. der Krankheitsprophylaxe an. Ein wichtiger Wegbereiter dieser engen Verbindung von Naturheilkunde und vegetarischem Gedankengut war Theodor Hahn (Apotheker, Deutschland, 1824–1883). In dem Werk Die naturgemäße Diät, die Diät der Zukunft legte Hahn seine Erkenntnisse von richtiger Ernährung und gesunder Lebensweise dar. Oft wird er auch als der erste Vegetarier in der Naturheilkunde bezeichnet. Max Bircher-Benner (Arzt, Schweiz, 1867–1939) verordnete seinen Patienten pflanzliche Rohkost und ging damit neue Wege der Ernährungstherapie. Auch heute noch besteht ein enger Zusammenhang zwischen vegetarischer Ernährung und Naturheilkunde, denn besonders Vegetarier bevorzugen natürliche Heilmethoden.
Innerhalb der Lebensreform-Bewegung nahm die vegetarische Lebensweise eine wichtige, wenn auch nicht zentrale Position ein. Entscheidend für die beginnende Kritik des modernen menschlichen Ernährungsverhaltens war der Wandel im 19. Jahrhundert. Die rasante Technisierung umfaßte nicht nur die Herstellung von Gebrauchsgütern, sondern auch die Nahrungsmittelproduktion.
Der seit 1850 stetig zunehmende Fleischkonsum und die parallel dazu steigende Zahl an Zivilisationskrankheiten gaben schließlich Anlaß zu Kritik an der modernen Lebensweise. Diese Kritik sowie die Betonung einer gesunden und vollwertigen Ernährung war der Ansatz der Ernährungsreform, die wiederum stark vegetarisch geprägt war. Allerdings waren viele ihrer Anhänger in erster Linie gesundheitlich orientiert und weniger ethisch-moralisch motiviert.
Wie auch andere Reformbewegungen verstand sich der moderne Vegetarismus als Strömung, die eine breite Öffentlichkeit erreichen wollte. Die neuen technischen Möglichkeiten, über Zeitschriften, Flugblätter und Bücher die vegetarische Idee zu verbreiten, gaben der Bewegung einen bis dahin...