Namen und Bilder
Am 24. Februar des Jahres 1798 sandte Friedrich von Hardenberg, zu dieser Zeit fünfundzwanzig Jahre alt und Student an der Bergakademie Freiberg in Sachsen, eine Sammlung von «Fragmenten» an den Professor August Wilhelm Schlegel in Jena, der ihn zur Mitarbeit an einem Journal eingeladen hatte, das er demnächst herauszugeben gedachte. «Hätten Sie Lust öffentlichen Gebrauch davon zu machen», fügte Hardenberg im Hinblick auf seine Aufzeichnungen hinzu, «so würde ich um die Unterschrift Novalis bitten – welcher Name ein alter Geschlechtsnahme von mir ist, und nicht ganz unpassend.»[2] Die Hardenbergs waren ein altes Adelsgeschlecht, dessen dokumentierte Geschichte bis ins 12. Jahrhundert hinabreicht, wo sich ein Bernhard de Novali findet. Auf deutsch nannte er sich wohl «von Rode», denn damals gab es tatsächlich noch viel zu roden, um Neuland zu gewinnen. Nur hatte sich dann mehr als sechs Jahrhunderte später bei seinem Nachfahren der Akzent verschoben: das Neuland, das dieser zu gewinnen hoffte, sollte – «nicht ganz unpassend» – seinen Raum in den Köpfen der Menschen haben.
Friedrich von Hardenbergs Bitte um ein Pseudonym, einen Decknamen also, war von großer Nachhaltigkeit, so daß später einmal sogar sein bürgerlicher Name dahinter verblaßte – nur nicht zu seinen Lebzeiten. In den wenigen Jahren, die ihm zum Schreiben blieben – er starb bereits 1801 im Alter von nicht ganz neunundzwanzig Jahren –, hat er ihn lediglich für seine Publikationen benutzt. Gesellschaftlich geführt hat er den klangvollen Namen nie; nur wenige Freunde wußten überhaupt, wer sich dahinter verbarg, aber auch für sie war und blieb er natürlich stets der Fritz oder der «liebe Hardenberg». Was im übrigen die Betonung angeht: eingebürgert hat sich, lateinischem Gebrauch folgend, in der Literaturwissenschaft der Akzent auf der zweiten Silbe (Novális), während für die Familie Hardenberg die Betonung auf der ersten üblich geblieben ist (Nóvalis).
Novalis: der Name allein schon hat etwas schön Klingendes, magisch Poetisches in sich. Zwei volle Vokale und ein leichterer im Ausklang der dritten Silbe, dazu keine harten, straffen Konsonanten – das suggeriert Bedeutung in diesem einen Wort, ohne daß sich genau sagen ließe, worin sie nun eigentlich bestehe. Wer etwas Latein gelernt hat, erkennt Beziehungen zum lateinischen Adjektiv «novus», das «neu» im weitesten Sinne bedeutet. Darauf offenbar verweist das Wort, das jedoch kein Personenname ist, kein auch nur irgendwoher bekannter Vor- oder Nachname, sondern Phantasiewort, Pseudonym. Der Hauch eines Geheimnisses umgibt das Wort, zu dem dann am ehesten zu passen scheint, daß es ein Dichterwort ist, von einem Dichter für sich selbst oder andere seiner Art entworfen. Etwas Ätherisches schwebt darin, das sich nicht fassen läßt. Nur stößt man rasch auf Widerhaken, wenn man diese eine Person zu fassen versucht. Indes, der bürgerlich-gesellschaftliche Name dieses Novalis lautete eben Friedrich von Hardenberg; Geschwister, Eltern und Freunde nannten ihn Fritz, und von Beruf war er Techniker, Naturwissenschaftler und Bergmann, und das mit Lust und Hingabe, also gleichfalls nicht das, was man sich als einen Poeten vorstellen möchte. Und dennoch: auch Poet war er mit Lust und Hingabe, was auf ein anstrengendes Leben deutet, das ihn tatsächlich früh erschöpfte.
Das so klangvolle wie sinnreiche Pseudonym nun hat wiederum nicht nur die Vorstellung eines Dualismus von Dichter und praktisch tätigem Staatsbürger gefördert, sondern oft sogar die eines Gegensatzes zwischen beidem, wobei dann der Staatsbürger den kürzeren zog. Die literaturinteressierte Nachwelt hat sogar diesem Novalis nur zögernd seinen bürgerlichen Namen zugestanden und geht bis auf den heutigen Tag recht sorglos mit ihm um. Register von Büchern, Nachschlagewerke und Kataloge großer Bibliotheken in aller Welt machen aus dem Georg Friedrich Philipp Getauften einen «Friedrich Leopold», woran er nun freilich nicht unschuldig war: in jugendlichem Übermut unterzeichnete er als Neunzehnoder Zwanzigjähriger einige Briefe – acht insgesamt von 179 erhalten gebliebenen – als «Friedrich Kurt von Hardenberg», «Fritz Albert», «Friedrich Ludwig» und schließlich, besonders verhängnisvoll, einen umfangreichen Brief an den Jenaer Philosophen Karl Leonhard Reinhold und einen weiteren an Friedrich Schiller als «Friedrich Leopold von Hardenberg». Was immer er damit bezweckt haben mag – Sympathien für Friedrich Leopold Stolberg sind vermutet worden –, er hat es danach nie wieder getan. Dennoch sind die letzteren zwei Unterschriften an zwei so bedeutende Persönlichkeiten seinem bürgerlichen Namen auf lange Zeit zum Verhängnis geworden, und der Irrtum schwelt immer noch weiter.
Friedrich von Hardenberg war ein adliger, als studierter Jurist für eine hohe Karriere bestimmter thüringisch-sächsischer Verwaltungsbeamter und ausgebildet zugleich als Bergbauingenieur, Geologe und Salinentechniker nach dem Jura-Studium in Jena, Leipzig und Wittenberg und einem bergbautechnischen Zweitstudium an der 1765 gegründeten Bergakademie zu Freiberg in Sachsen. Ein solcher Ort jedoch ist nicht die Sphäre für schöne und suggestive Pseudonyme. Aber kein anderer deutscher Schriftsteller dieser Jahre war beruflich derart uneingeschränkt in strapaziösen und ein nüchternes Urteil fordernden Bereichen tätig wie er. Gerade mit Beruf und Herkunft hatte es indes viel zu tun, daß er sich für seine Schriften diesen Decknamen aussuchte. Im großen Geschlecht der Hardenbergs gab es bereits eine ganze Reihe distinguierter Persönlichkeiten, die wichtige oder gar hohe Ämter im Staate innehatten. Dort mochten dann die Regionen des Philosophierens und Dichtens eher als Zonen des Müßiggangs gelten, die man lieber in der Öffentlichkeit hinter anderem Namen verbarg – damals eine gern geübte Praxis bei adligen Autoren. Außerdem aber bestand wohl auch der Wunsch nach einer Trennung zwischen den Bereichen sachlicher, wenngleich inspirierter praktischer Arbeit und der anderen Sphäre, je außerordentlicher und provokativer gerade dasjenige war, was man dort zu sagen hatte. So bot der Deckname auch Schutz vor Mißverstehen oder Verkennung bei denen, die einen jungen Menschen in den Konsiliumssitzungen oder bei wissenschaftlichen Exkursionen umgaben. Nur waren es nicht zwei einander völlig fremde Welten, in denen Friedrich von Hardenberg zu Hause war oder sich dort zu Hause fühlte. Denn sehr wohl existierten enge Verbindungen zwischen den Erkenntnissen und Erfahrungen der einen Sphäre und den Wagnissen des Denkens und der Poesie in der anderen. Kritisches Studium seiner Arbeit in späterer Zeit hat dann diese Zusammenhänge nach und nach erkannt und sichtbar zu machen versucht, um so Verständnis für das literarische und philosophische Werk von Novalis zu öffnen. Zu keiner Zeit aber waren Friedrich von Hardenberg und Novalis zwei verschiedene Personen und auch nicht zwei Persönlichkeiten oder «Seelen» in der einen.
Bei der Annäherung an die Menschen einer vergangenen Zeit entsteht indes eine erste Schwierigkeit schon bei dem Versuch, sich ein Bild von ihnen zu machen, ihrem Aussehen und ihrer Gestalt, dem Klang ihrer Stimme, dem Lachen und den Bewegungen, die etwas von dem preisgeben, was im Inneren vorgehen mag. Von der Gegenwart her betrachtet lebte Friedrich von Hardenberg bereits an der Grenze zum technischen Zeitalter, also in der unmittelbaren Nähe etwa zum Verfahren der Photographie, die dann im Laufe ihrer Weiterentwicklung Gesicht, Gestalt und Bewegung der Menschen festhalten konnte. Merkwürdig: in seinem Chymischen Heft aus der Freiberger Studienzeit hatte sich Hardenberg bereits 1798 Beobachtungen über die Reaktion des sogenannten Hornsilbers notiert, eines Silberchlorids, das am «Lichte schwarz» werde.[3] Nur war es von da noch ein gutes Stück Weg bis zur praktischen Nutzbarmachung solcher Veränderung im photographischen Prozeß, wie sie dann erst allmählich in den zwanziger Jahren des neuen Jahrhunderts begann. Die Erfindung der Photographie gründete auf den großen Entdeckungen des späten achtzehnten Jahrhunderts in den Bereichen von Chemie und Physik, die sich Hardenberg als Student aneignete, noch ehe sie zur praktischen Anwendbarkeit übergingen. So besitzen wir eben kein Photo von Friedrich von Hardenberg, und ebenso auch keines von Goethe, Schiller, den Brüdern Schlegel, Tieck oder Hölderlin, obwohl sie alle im Vorfeld dieser Erfindung lebten. Nur Schelling, den Hardenberg auf der Reise nach Freiberg kennengelernt hatte und dessen Schriften er studierte, wurde 1848, also rund ein halbes Jahrhundert später, als Dreiundsiebzigjähriger, Modell eines Photographen.[4]
In größere Nähe zur Photographie war Friedrich von Hardenberg noch auf andere Weise geraten, ohne sich davon schon etwas träumen zu lassen. Denn der französische Chemiker Joseph Nicéphore Niepce und Friedrich von Hardenberg haben nichts voneinander gewußt. Niepce, 1765 in Chalon-sur-Saône geboren, war fünf Jahre und zwei Monate älter als Hardenberg, aber...