Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth, um 1727
Schön schlängelt sich die neugeborene Saale durch das Fichtelgebirge, ein rieselnder Bach, vorbei an Zell, Weißenstadt, Voitsumra, Ruppertsgrün, Schwarzenbach. Aus den Weber- und Färberdörfern nimmt sie die Rückstände von Krappwurzel und Färberdistel, Berberitze, Ahornwurzel und Rainfarn, Purpurschnecke und Eisenspänen mit und wandert, bald zwischen waldigen Hügeln verengt mit schäumendem Gefälle, bald friedlich in allen Farben des Regenbogens spielend zwischen breiten Wiesen, durch die fränkischen, thüringischen und sächsischen Teile des Vogtlands der Elbe entgegen. Im späten Mittelalter von kaiserlichen Vögten regiert, die es im 14. Jahrhundert an die Burggrafen von Zollern verkauften, umfasst das Vogtland die Gegend von der unterfränkischen Stadt Hof über den preußischen Kreis Ziegenrück, das weimarische Amt Weida bis zu den Reußischen Grafschaften und der Tuchmacherstadt Plauen in Sachsen.
Biblische fünfzehn Jahre muss Johann Richter, Sohn des Schönfärbers Johann Richter aus Schwarzenbach an der Saale und der Weißenstädter Schustertochter Anna Kießling, bei einem Hungerlohn um Magdalena Margaretha Hugo dienen, die Tochter des Dorfpfarrers von Rehau. Erst die Berufung zum Rektor der Winkelschule in Neustadt am Culm verhilft ihm mit vierzig Jahren in den heiligen Stand der Ehe. Seit hundert Jahren leben seine Vorfahren als Schön- und Schwarzfärber, Schultheißen, Handwerker, Förster und Tuchweber am Oberlauf der Saale, wo die Kunst des Färbens von einer Generation auf die nächste vererbt wird. Vier Monate nach Amtsantritt wird am 16. Dezember 1727 in Neustadt sein erster und einziger Sohn Johann Christian Christoph Richter geboren. Nach dem Geschlechtsregister soll ihm 1715 eine Schwester Rebekka vorausgegangen sein und noch bis 1793 in Schwarzenbach gelebt haben; sie wäre demnach zu Lebzeiten des Rehauer Seniors – er starb 1718 – unehelich geboren worden, was erklären würde, warum sich der Traum von einer eigenen Schulmeisterei für Jean Pauls Großvater Johann Richter so spät erfüllte.[1]
Christoph Richters Kindheit fällt in eine turbulente Zeit der Regierungswechsel. Die Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth wird von einer Linie der Hohenzollern regiert, einem schwäbischen Adelsgeschlecht, das im hohen Mittelalter von Kaiser Heinrich VI. mit der Burggrafschaft Nürnberg belehnt worden war. Seit Burggraf Friedrich VI. 1415 dazu noch die Grenzmark Brandenburg sein Eigen nennen durfte, nannten sich die Grafen von Zollern auch in ihren fränkischen Besitzungen Markgrafen. Unter den Nachkommen seines Sohnes, des Markgrafen Albrecht I. Achilles, wurde die fränkische Markgrafschaft 1486 in Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach geteilt, während die noch von Albrecht erlassene dispositio Achillea die Unteilbarkeit der Kurmark Brandenburg für alle Zeiten garantierte und damit den späteren Aufstieg des Hauses Hohenzollern zur preußischen Großmacht begründete. 1604 verlegte Markgraf Christian von Brandenburg-Kulmbach, Sohn des brandenburgischen Kurfürsten Johann Georg, seine Residenz von der Plassenburg nahe Kulmbach nach Bayreuth und benannte das Fürstentum um in Brandenburg-Bayreuth.
1726, im Jahr vor Christoph Richters Geburt, tritt Georg Friedrich Karl von Brandenburg-Kulmbach die Nachfolge des kinderlos verschiedenen Markgrafen Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth an. Der Erbfolge nach hat er kaum damit rechnen dürfen, jemals regierender Fürst zu werden. Denn sein Vater Christian Heinrich von Brandenburg-Kulmbach hatte 1703 im Schönberger Vertrag das überschuldete Fürstentum gegen eine großzügige Entschädigung an König Friedrich I. in Preußen abgetreten, den reichen Verwandten in Berlin. Die Apanage setzte ihn in die bequeme Lage, sich als Privatier mit seiner Familie auf sein Hausgut Weferlingen zurückzuziehen. Indessen war seine Gattin Sophie Christiane nicht nur eine sehr fromme, sondern auch eine viel zu weitblickende Frau, um nicht zu hoffen, ihren erstgeborenen Sohn dereinst doch noch auf dem landesherrlichen Thron zu sehen. Nach dem Tod des Vaters fochten ihre Söhne Georg Friedrich Karl und Albrecht Wolfgang 1708 den Schönberger Vertrag vor dem Reichskammergericht in Wetzlar an und wurden schließlich 1722 mit Erfolg beschieden. Preußen verzichtete im Pactum successorium Culmbacense gegen eine Abschlagzahlung von 500.000 Gulden auf sein Erbrecht.
Mit Georg Friedrich Karl zieht ein Herrscher ein, der zwar verhindern konnte, dass sein väterliches Erbe den mächtigen Berliner Verwandten zufiele. Als frommer Mann legt er jedoch die Regierungskunst lieber in höhere Hände. Aus Anlass seiner Thronerhebung lässt er neue 1/12-Taler-Münzen prägen, auf denen eine Taube der Sonne entgegenfliegt – Sinnbild pfingstlicher Erweckung und Erkennungszeichen der pietistischen Frömmigkeitsbewegung. Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Himmelcron wird in seinen ursprünglichen spätgotischen Zustand versetzt, die Klosterkirche restauriert und als Grablege der bayreuthischen Markgrafen geweiht. Mit dem Regierungsantritt des Kulmbachers wird der Pietismus gewissermaßen bayreuthische Landesreligion. In Nürnberg bekennen sich 1727 dreißig Personen zum radikalen pietistischen Flügel, dem Herrnhutismus. Im selben Jahr besucht dessen Begründer, Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Pottendorf, die Residenzstadt Bayreuth und verbreitet mit seinen Bußpredigten unter den Gläubigen Furcht und Schrecken.
Der Pietismus, eine Reformbewegung innerhalb der lutherischen Kirche, hatte seinen bescheidenen Anfang im familiären Betkreis, collegium pietatis, des elsässischen Theologen Philipp Jakob Spener genommen, Zinzendorfs Taufpate. Zinzendorf selbst entstammte mütterlicherseits der sächsischen Grafenfamilie von Gersdorff. In Herrnhut, einem ihrer Güter in der Oberlausitz, gründete er 1722 die erste herrnhutische Kolonie, ermuntert durch seine tatkräftige Gattin Erdmuthe Dorothea Gräfin Reuß-Ebersdorf. Dank deren verwandtschaftlichen Beziehungen zu den vogtländischen Reichsritterschaften verbreitete sich der Herrnhutismus in kürzester Zeit in Unterfranken. Nirgends ist Deutschland kleiner als hier, in diesem Quodlibet politischer Territorien, wo jeder Krähwinkel seine eigene Gerichtsbarkeit hat und jeder Dorfpfarrer eigene Wege kennt, die ihm anvertrauten Seelen in den Himmel zu geleiten. Die Sechs Bücher vom wahren Christenthum des radikalen Pietisten Johann Arndt werden nebst dessen Paradiesgärtlein eines der meistgelesenen Bücher in fränkischen Pfarrhäusern. In Nürnberg wirkt im Geist pietistischer Wohltätigkeit Ambrosius Wirth, Gründer der ersten städtischen Armenschule, in Ansbach der Jurist Wolfgang Gabriel Pachelbel von Gehag, Übersetzer einer pietistischen Bibel. Auf Jahrmärkten und Kirchweihfesten erscheinen selbsternannte Wanderprediger und verkaufen aus Bauchläden und Kiepen fromme Erbauungsschriften wie Das kleine Pilgerrad des Schneiders Johann Konrad Lange, die Buss-Stimme aus Zion und Sonnen klare Mittags-Helle auf die unter den Wolcken verborgene Morgen-Röthe des Erlanger Notars Johann Adam Raab. Sie fordern innere Einkehr, gottesfürchtiges Betragen in allen Lebenslagen, tägliches Singen und Beten im Familienkreis und den Verzicht auf jegliche weltlichen Freuden, die nicht gottgeweiht sind. Zum Lohn versprechen sie das Paradies schon auf Erden statt, wie die orthodoxen Lutheraner, erst jenseits des Grabes. Den Sündern drohen sie mit den ewigen Höllenqualen des Gewissens. Mit Donnerstimme malt der Perückenmacher und Wanderprediger Johannes Tennhardt aus Sachsen, die «letzte Warnstimme Gottes» vor dem Jüngsten Gericht, in seinen Bußpredigten den gehörnten Teufel an die Kirchenwände. In keinem deutschen Fürstentum wird so oft der Weltuntergang vorausgesagt wie in Franken.
Und so schlägt auch Johann Richter, der Rektor und Organist in Neustadt am Culm, genauso wie sein Vetter Lorenz Richter, zur selben Zeit Pfarrer in dem vogtländischen Dörfchen Joditz, eilig den Weg zu innerer Einkehr und Buße ein. In einer selbst gegrabenen Erdhöhle am Kleinen Kulm, von der die Richter’sche Familienüberlieferung noch lange sprechen wird, bereut er in langen Gebeten seine Rehauer Jugendsünden so innig, dass er sich den Ruf eines ungewöhnlich frommen Mannes erwirbt.
Derweil wird sein hoffnungsvoller Sohn mit vierzehn Jahren als einer von zwölf Alumni, wie die armen Schüler genannt werden, in das Gymnasium poeticum in Regensburg aufgenommen. In Klavierspiel und Generalbassbegleitung zeigt er auffällige Begabung und ist auch sonst ein guter Schüler. Das Gymnasium in der Glockengasse blickt schon damals auf eine ruhmreiche Geschichte und berühmte Schüler zurück wie Johann Beer, der hier 1678 seinen Prinz Adimantus schrieb, Wolfgang Helmhard von Hohberg, Verfasser der Georgica curiosa von 1682, und Johann Pachelbel, den Meister des Kontrapunkts. Täglich erhält Christoph Richter ein kostenloses warmes...